Loe raamatut: «Tugenden für eine bessere Welt», lehekülg 6

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IV. Auslegung des Mythos von der Gastfreundschaft

Nachdem wir nun den Mythos nacherzählt haben, müssen wir ihn deuten, damit seine Lehren unsere Suche nach einer neuen Art von Globalisierung orientieren können. Doch zuvor noch ist es notwendig, sich über die Natur des Mythos selbst vertieft Gedanken zu machen. Was ist ein Mythos, was macht seine Sprache aus und was will er vermitteln? Bis heute hilft er uns, tiefe Dimensionen des menschlichen Lebens, sowohl der Einzelnen als auch der Menschheit insgesamt, zu verstehen.

1. Ursprüngliche Erfahrungen und Mythos

Im Griechischen bedeutet Mythos Erzählung und Handlung. Die Erzählung ist normalerweise lebendig und voller Emotionen. Sie weist eine Handlung auf, die den Sinn der erzählten Ereignisse offenbart. Sie ist nicht einfach in Begriffen zu fassen, obwohl sie auch Begriffe benutzt. Sie ist affektiv und folgt der Logik der Gefühle.

Warum werden Erzählungen erfunden? Weil die Menschen im Lauf ihres Lebens grundlegende Erfahrungen durchmachen, die die Struktur und den Sinn des Lebens bestimmen. Sie erweisen sich als so bedeutsam, dass sie in einfachen Worten oder abstrakten Begriffen nicht angemessen zum Ausdruck gebracht werden können. Deshalb erzählt man Geschichten. Sie enthalten das ganze Spektrum der ursprünglichen Erfahrungen. Wenn sie immer wieder von Neuem erzählt oder gelesen werden – Mythos und Literatur sind eng miteinander verbunden –, dann entdeckt man an ihnen immer mehr Facetten und Bedeutungen, die den Weg zu ständigen Aktualisierungen öffnen. Mit einem Wort: Die Mythen sind die Auskristallisierung dieser ursprünglichen Erfahrungen. Deshalb sind sie zeitlos und zugleich für alle Zeiten gültig, vor allem für unsere Zeit.

Mircea Eliade, einer der großen Mythenforscher, sagte in einem seiner Bücher (Eliade, 1963), dass der Mythos im Wesentlichen drei Funktionen erfülle: erzählen, erklären und offenbaren.

Der Mythos erzählt.

Die grundlegenden Fragen, die unserer Erfahrung entspringen, werden im Mythos weder in einer Abhandlung noch in einer rationalen Diskussion behandelt. Er bedient sich nicht der begrifflichen Logik, sondern vielmehr der Logik der Bilder. Mehr als bloße Gedanken bringt er das Herz zum Schwingen. In den Mythen wird das erzählt, was uns zutiefst betrifft und von großer Bedeutung für das Leben ist. Deshalb gelingt es allen Mythen, zu bewegen, mitzureißen und jeden Hörer oder Leser in seinem tiefsten Inneren anzusprechen.

Der Mythos erklärt.

Was von Bedeutung ist, ist auch die Antwort auf Fragen, die uns ständig umtreiben. Woher kommt dieser unergründliche Himmel mit seinen unzähligen Sternen über uns? Welche Beziehung haben wir zur Erde, aus der wir kommen und zu der wir zurückkehren? Wie können wir in Beziehung treten zu den Anderen und zu den Fremden? Wer ist imstande, die ekstatische Anziehung zwischen zwei Liebenden zu deuten? Warum trüben das Leid und die Angst um die geliebte Person unsere Lebensfreude? Warum sind wir untröstlich und versinken im Leid angesichts des Todes eines geliebten Menschen? Was bedeutet das personale Ich innerhalb der Gesamtheit der Lebewesen? Und schließlich: Wohin gehen wir?

Diese Fragen sind bei uns Menschen ständig auf der Tagesordnung. Wie soll man über diese uns so persönlich angehenden und tiefen Fragen sprechen? Theorien und rationale Sätze, so wichtig sie auch immer sind, erfassen die Dimensionen nicht, die in diesen existentiellen Fragen mit enthalten sind. Alles in allem sind wir darauf angewiesen, Lebensgeschichten zu erzählen, die Gefühle wecken, welche in der Lage sind, uns den Zugang zu Erklärungen zu verschaffen, die uns erleuchten und die Geschichte nach oben und nach vorne öffnen.

Der Mythos offenbart.

Die mythische Erzählung enthüllt tiefe Dimensionen des Menschseins und des Geheimnisses des Universums. Wir haben nicht nur einen objektiven und wissenschaftlichen Blick auf die Dinge. Wir verfügen auch über einen subjektiven und symbolischen Blick für die Resonanz, die die Dinge in uns auslösen. Die Sonne zum Beispiel ist nicht nur etwas am empirisch wahrnehmbaren Himmel. Sie bewohnt auch unsere Seele und erfüllt diese mit Licht und Wärme. Mit Recht schrieb einst der nordamerikanische Psychoanalytiker James Hollis, der über die Funktion der Mythen im heutigen Leben forscht:

„Der Mythos bringt uns bis zum Grund der psychischen Reserven der Menschheit. Was immer unsere kulturellen und religiösen Wurzeln oder unsere persönliche psychische Verfasstheit sein mag: Die Vertrautheit mit dem Mythos stellt ein lebendiges Verbindungsglied zum Sinn dar. In vielen Fällen ist das Fehlen dieser Vertrautheit der Hintergrund für individuelle und kollektive Neurosen unserer Zeit. Alles in allem: Wenn wir uns mit dem Mythos beschäftigen, dann suchen wir nach dem, was uns auf die tiefste Weise mit unserer eigenen Natur und unserem Ort im Kosmos verbindet.“ (Hollis, 1988, 10)

Diese geheimnisvolle Tiefe unserer Psyche verlangt nach den Kategorien des Göttlichen, nach den heiligsten, die uns in allen Kulturen zur Verfügung stehen. Sie allein erweisen sich als den Erfahrungen im innersten Mark unseres Seins als angemessen und sachgemäß. Dies ist der Grund, warum die Götter und Göttinnen unablässig auf der Bühne unserer Geschichte erschienen.

Wir müssen jedoch gut verstehen, welche Funktion diese in den Mythen vorkommenden Gottheiten haben. Sonst entgeht uns ihre geheime Botschaft.

Die traditionelle Auslegung ist substantialistisch. Sie begreift die Götter als Wesen an sich, die tatsächlich, außerhalb unseres Verstandes, existieren. Das wurde Polytheismus genannt, als ob es tatsächlich eine Fülle verschiedener Götter gäbe.

Die moderne und anthropologische Interpretation dagegen ist transpersonal. Bei den Gottheiten handelt es sich um Ausdrucksformen, sprachliche Mittel, um die in uns wirkenden Energien konkret darzustellen, besonders jene in den tiefen Schichten des menschlichen Wesens. Deshalb sind die Götter psychische Realitäten und stellen einen allgemeinen grundlegenden anthropologischen Befund dar. Sie sind die fleischgewordene Gestalt und die Übersetzung von mächtigen Energien in uns, aber auch außerhalb von uns, die ans Universum heranreichen. In uns bilden sich psychische Zentren von großer Ausstrahlungskraft, die für den Sinn unserer Existenz verantwortlich sind. In der Sprache C. G. Jungs sind die Götter gleichbedeutend mit Archetypen, das heißt mit dynamischen Verhaltensmustern, deren Wurzeln sich ins kollektive und transkulturelle Unbewusste der Menschheit erstrecken und mit deren Hilfe wir unsere bedeutendsten Erfahrungen strukturieren können.

Da es viele dieser Archetypen und Zentren gibt, stellen wir sie uns mittels einer Vielzahl von göttlichen Gestalten vor, was den Eindruck des Polytheismus hervorruft. Doch in Wahrheit geht es nicht darum, das Göttliche zu vervielfachen, sondern nur darum, seine vielen Erscheinungsformen in der Geschichte der Menschheit, der Natur und des Kosmos zu betonen.

Jennifer und Roger Woolger, das Forscherehepaar, das sich den weiblichen Mythen widmet, stellen mit Recht fest:

„Mit Göttin bezeichnen wir einen komplexen weiblichen Charaktertypus, den wir intuitiv in uns selbst und in den Frauen unserer unmittelbaren Umgebung erkennen sowie in den Bildern und Zeichen, die uns in unserer Kultur in Hülle und Fülle begegnen. So ist die schick gekleidete, intelligente junge Karrierefrau, der wir allerorten in unseren Städten begegnen, der Inbegriff des Göttinnen-Typus, den wir als Athene-Frau bezeichnen. Den Namen hat ihr die griechische Göttin verliehen, die Schutzherrin des antiken Athens. Gerade weil der Figur der Athene heute eine so große Bedeutung zukommt, wird sie in unseren Zeitschriften, Filmen und Romanen stereotyp reproduziert. Dennoch ist ein Göttinnen-Typus wie Athene weit mehr als nur ein von den Medien geschaffenes Stereotyp oder Klischee. Athene verkörpert auch ein komplexes, hoch entwickeltes Bewusstsein, das alles Denken, Fühlen und Handeln dieses Frauentypus kennzeichnet.“ (Woolger/Woolger, 14)

Im Mythos von der Gastfreundschaft, den wir hier analysieren, stehen Jupiter und Hermes für diese transzendente Energie, die in den Gestalten armer Wanderer verborgen liegt. Doch es kommt der Augenblick, an dem sie die Masken fallen lassen und sich diese Energie in ihrer Fülle zeigt. Das Göttliche bricht herein. Und bei Philemon und Baukis weckt es das Gefühl der Verehrung, der Hochachtung und des Willens, für den Rest ihrer Tage im Tempel dieser Gottheiten zu dienen. Der Mythos offenbart diese tiefen Dimensionen des Menschseins.

2. Menschliche Existenz und Mythos

Es versteht sich also, dass dem Mythos eine anthropologische Dichte von universaler Dimension eignet. Der nordamerikanische Anthropologe Joseph Campbell, ein bedeutender Erforscher der kulturübergreifenden Mythen der Menschheit, zeigte, wie diese Mythen konkret am Aufbau der menschlichen Existenz im individuellen und im kollektiven Sinne beteiligt sind. Campbell unterscheidet vier Funktionen des Mythos:

„Die erste Funktion nenne ich die mystische. Sie erweckt und erhält im Individuum einen Sinn für Ehrfurcht und Dankbarkeit angesichts der geheimnisvollen Seite des Universums, nicht, damit es in Angst davor lebe, sondern damit es seine Teilhabe daran erkenne, da das Geheimnis des Universums gleichzeitig auch das Geheimnis seines eigenen Seins ausmacht.

Die zweite Funktion des Mythos besteht darin, eine Kosmologie bereitzustellen, ein Bild vom Universum, das mit den Erkenntnissen der jeweiligen Zeit, den Wissenschaften und den Handlungsfeldern der Menschen, an die sich der Mythos wendet, in Einklang steht.

Die dritte Funkion des Mythos ist eine ethische. Er stärkt und rechtfertigt die moralischen Normen einer bestimmten Gesellschaft, in der der Einzelne lebt.

Schließlich ist die vierte Dimension zu nennen, die pädagogische. Er inspiriert und lenkt Schritt für Schritt die Wege der Gesundheit, der Kraft und der spirituellen Harmonie im Verlauf der gesamten vorhersehbaren Entwicklung eines gelungenen Lebens.“ (Campbell 1972, 214 – 215)

Um so hochgesteckte Ziele im Zusammenhang mit dem Sinn des Lebens, der Gesellschaft und dem Universum zu erreichen, gibt es nichts Besseres, als auf den Mythos in seiner unvergleichlichen Anschaulichkeit zurückzugreifen. Die Zivilisationen verdanken sich in viel höherem Maße Gründungsmythen, als sie historisch verbürgt sind. Selbst die historischen Fakten und Personen behalten nur dann ihre Ausstrahlungskraft, wenn sie zu Helden und somit zu kollektiven Mythen gemacht werden. So war es zum Beispiel bei den Gründungsvätern der USA, Lincoln, Jefferson und anderen, und so war es auch bei unseren Rebellen wie Tiradentes, Tomás Antonio Gonzaga und seinen Gefährten, die von der Unabhängigkeit Brasiliens träumten.

Die wichtigsten Tugenden für die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen wie etwa die der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens und der Tischgemeinschaft, die auf archetypische Weise bei Philemon und Baukis verwirklicht sind, wurden mit Hilfe des Mythos formuliert.

3. Gastfreundschaft, Zusammenleben, Tischgemeinschaft und Mythos

Wenden wir nun die gewonnenen Erkenntnisse auf den Mythos von Philemon und Baukis an, um ihn zu verstehen.

In erster Linie erzählt der Mythos eine wunderschöne und bewegende Geschichte, ganz abgesehen von der präzisen und stilistisch gewählten Sprache Ovids. Wir haben diese Geschichte etwas vereinfacht, damit der heutige Leser Zugang zu ihr findet. Die Erzählung weist ganz deutlich ein Crescendo auf, das sich bis hin zum großen Finale steigert. Dieses Finale ist überraschend, wunderbar und glücklich: die Offenbarung der Gottheit.

Der Mythos erklärt die Geschichte der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens und der Tischgemeinschaft. Darin folgt sie einer klaren Linie, deren einzelne Momente wir hier herausarbeiten wollen.

Zunächst erklärt der Mythos, wo sich Gastfreundschaft, Zusammenleben und Tischgemeinschaft ereignen: in den widrigsten Verhältnissen. Deshalb spielt die Geschichte in Phrygien, einer abgelegenen römischen Provinz, die berüchtigt war wegen der Grobheit und Wildheit ihrer Bewohner. Diese Gegend liegt im Nordwesten Kleinasiens zwischen dem ägäischen Meer und dem Hellespont (den Dardanellen) in der heutigen Türkei. Vor diesem dunklen und menschenfeindlichen Hintergrund ereignet sich diese zutiefst menschliche Geste, den Notleidenden aufzunehmen.

Dann erklärt der Mythos, wer die Gastgeber sind: ein altes und armes Ehepaar, das in einer Hütte lebt. Es handelt sich um arme Landarbeiter, die jedoch nicht im Elend leben, weil sie das Nötige zum Leben haben. Und sie leben in großer Harmonie zusammen, ohne die patriarchalische Herrschaft, die die Beziehungen asymmetrisch und deshalb strukturell spannungsreich macht. Ovid kommentiert: „Derjenige, der befahl, war zugleich derjenige, der gehorchte (idem parentque iubentque).“ Arme nehmen andere Arme auf.

Drittens erklärt der Mythos, wer um Gastfreundschaft bittet. Unbekannte, Wanderer, Arme, Müde und Ausgehungerte. Die Gastfreundschaft wird immer ausgehend vom Anderen definiert. Wie wir später genauer sehen werden, gibt es viele Andere. Wir können das hier schon teilweise vorwegnehmen und feststellen, dass hier verschiedene Kategorien von Anderen auftauchen: 1. Der Andere als Unbekannter, der an die Tür klopft; 2. der Andere als Fremder von auswärts, aus einem anderen Land mit einer anderen Sprache, anderen Sitten und einer anderen Kultur; 3. der Andere im Sinne der sozialen Klasse, ein im wirtschaftlichen Sinne Armer; 4. der Andere, der vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist, jemand in extremer Not, müde und hungrig; 5. der Andere im Sinne des radikal Anderen des in der Gestalt zweier Wanderer verborgenen Gottes. Die Gastfreundschaft gilt unbedingt und erstreckt sich auf all diese Anderen.

Viertens erklärt der Mythos die Haltung der Wanderer: Geduldig mussten sie den Mangel an Solidarität und Mitleid ertragen; das ging sogar so weit, dass sie mit verbaler Gewalt und entsprechenden Gesten hinausgeworfen wurden. Was sie am meisten schmerzte, war die Tatsache, dass sie nicht einmal angesehen wurden. Der Blick bedeutet immer eine Anerkennung der Gegenwart des Anderen und von Seiten des Armen die stumme Bitte um eine mögliche Begegnung.

Niemand widersteht dem bittenden Blick, ohne in seinem Menschsein betroffen zu sein. Den Blick zu leugnen bedeutet, so zu tun, als ob der, der existiert und schreit, nicht da wäre. Es heißt zuzulassen, dass der Andere in seiner Not untergeht. Die beiden Wanderer ertrugen demütig, dass man sich ihnen verschloss und sie nicht als bedürftige und ausgegrenzte Menschen anerkannte. Sie wurden zu räudigen, herumstreunenden Hunden herabgestuft. Diese Haltung ruft stets ein nach Innen gekehrtes, stummes Leid hervor, das umso stärker schmerzt, je weniger Mitleid es findet.

Fünftens erklärt der Mythos die Haltung derer, die Gastfreundschaft gewähren, die Haltung von Philemon und Baukis also. Gastfreundschaft und Zusammenleben setzen von ihrem Wesen her Großzügigkeit, herzliche Offenheit, ein Gespür für die Schutzbedürftigkeit des Anderen voraus. Das bedeutet auch die Überwindung einer Einstellung, die voller Vorbehalte und Vorurteile ist, wie man sie bei Leuten findet, die allzu vorsichtig und misstrauisch sind: „Wer sind diese Leute? Könnten es nicht Räuber, Gelegenheitsdiebe, schlecht beleumdete Leute sein?“ Wer so urteilt, der wird sich nur schwer der Gastfreundschaft und dem Zusammenleben öffnen. Er findet immer irgendwelche Rechtfertigungen oder Ausreden dafür, Bedürftige nicht aufzunehmen. Die Gastfreundschaft setzt die Überwindung von Vorurteilen und ein fast naives Vertrauen voraus – naiv, aber doch unabdingbar, damit die Gastfreundschaft und das Zusammenleben tatsächlich diesen Namen verdienen und ohne Einschränkungen gewährt werden. Wie wir noch sehen werden, muss die Gastfreundschaft bedingungslos und ohne Vorbehalte gelten. Genau das haben Philemon und Baukis unter Beweis gestellt. Sie stellen keine Fragen und holen keine Erkundungen ein. Sie zeigen einfach eine herzliche Aufnahmebereitschaft ohne Ansehen der äußeren Erscheinung. Sie haben ein Gespür für die Bedürftigkeit der Wanderer. Sie sind darauf bedacht, Aufnahme zu gewähren und alles anzubieten, was sie haben.

Eine hohe Beamtin der peruanischen Regierung, die früher im von Indios bewohnten Amazonasgebiet als Sozialassistentin gearbeitet hatte, besuchte eine Gemeinde des Volkes der Achuar und wurde mit folgendem Lied der Gastfreundschaft empfangen, das sie mir persönlich wiedergegeben hat:

„Taube, die du dein Nest verlassen hast und von so weit her kommst, sei nicht traurig. Unsere Gemeinschaft ist ein großer Baum, der seine Äste ausbreitet und dich in seinem Nest aufnimmt. Taube, bleib bei uns.“ Sie war gerührt und blieb länger, als eigentlich nötig gewesen wäre, und kehrte, sooft sie konnte, in diese Gemeinde zurück. Und jedes Mal hörte sie dasselbe bewegende Lied.

Sechstens erklärt der Mythos, wie die Gastfreundschaft, das Zusammenleben und die Tischgemeinschaft konkret aussehen. In dieser Hinsicht ist die Erzählung überaus reichhaltig und detailfreudig.

Die Erzählung des Mythos stellt klar, dass die Gastfreundschaft mit den bescheidensten und grundlegendsten menschlichen Ansprüchen zu tun hat: ohne Vorbehalte aufgenommen zu werden, ein Dach über dem Kopf zu haben, zu essen, zu trinken und auszuruhen. Ohne diese Mindestvoraussetzungen kann niemand leben und überleben. Aber die materiellen Mindestvoraussetzungen verweisen in tieferem Sinne auf ein spirituelles Minimum, das mit dem zu tun hat, was uns im eigentlichen Sinne zu Menschen macht: auf die Fähigkeit, bedingungslos aufzunehmen, solidarisch, kooperativ und zum Zusammenleben fähig zu sein. Genau diese Haltung war es, die uns am Anfang des Humanisierungsprozesses den Sprung vom Tierreich zum Menschsein ermöglichte. Dort waren Konkurrenz und Unterwerfung bestimmend, im Reich des Menschen sind es gegenseitige Fürsorge, Kooperation, Gleichheit und Durchdringung der gegenseitigen Beziehungen mit Liebe.

Die gastfreundliche Aufnahme erhellt die grundlegende Struktur des Menschseins. Wir existieren, weil wir ohne Vorbehalte von der Mutter Erde aufgenommen wurden, deren Söhne und Töchter wir sind, weil wir vom Strom des Lebens aufgenommen wurden, der uns Anteil an ihm gab, weil wir von der Natur aufgenommen wurden, die sich uns gegenüber als wohlwollend erwies, weil wir von den Eltern angenommen wurden, die wir uns nicht ausgesucht haben, vor allem von der Mutter, die uns in ihrer Großzügigkeit ohne Vorbehalte in ihre Arme nahm, weil wir von den Verwandten und Freunden aufgenommen wurden, die uns eine Familie gaben, weil wir von der Gesellschaft aufgenommen wurden, die uns als ihre Mitglieder akzeptierte. Wir existieren, weil wir auf die eine oder andere Weise aufgenommen wurden. Das schlimmste Gefühl ist es, sich als zurückgewiesen und ausgegrenzt zu empfinden, wie es die beiden Wanderer waren. In diesem Fall macht man psychologisch die Erfahrung des Todes. Die Aufnahme durch Baukis und Philemon bedeutete für die Wanderer die Garantie des Lebens.

4. Die Dimensionen der Gastfreundschaft

Und nun wird die Gastfreundschaft konkret. Sie weist viele Dimensionen auf, die in der Erzählung des Mythos sehr klar dargestellt werden.

Das Gespür, die Sensibilität, für das, was den Wanderern fehlt und was sie ertragen, kommt in den Worten zum Ausdruck: „Ihr müsst sehr müde und hungrig sein.“ Ohne dieses Gespür gibt es keinen Anstoß, um auf den Anderen zuzugehen und ihm zu Hilfe zu kommen. Diese Sensibilität entstammt nicht der Struktur des Logos, das heißt, der Fähigkeit des Menschen, rational zu denken und zu rechnen. Das ist nachrangig. Sie leitet sich aus etwas Vorgängigem und Ursprünglicherem her: der Fähigkeit, den Anderen in seiner Bedürftigkeit unmittelbar zu empfinden und wahrzunehmen. Es ist das Pathos, das den Logos in Dienst nimmt. Das Pathos oder die Affektivität ist die grundlegende Erfahrung des Menschen; es wird in moderner Sprache auch emotionale Intelligenz genannt.

Mitleid, das ist die Fähigkeit, sich selbst zu vergessen und dem Anderen zu begegnen, mit dem Impuls, ihn anzunehmen und für ihn zu sorgen. Philemon erscheint sehr bald an der Tür und wendet sich lächelnd den Wanderern zu. Das Mitleid ist die höchste Tugend im Buddhismus. Es meint nicht das geringe Gefühl, am anderen Schmerz zu empfinden. Es ist vielmehr die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, um den Anderen in seiner konkreten Situation wahrzunehmen und sich anzuschicken, ihm beizustehen, sich mit ihm zu freuen, mit ihm zu leiden und ihn in seinem Schmerz niemals allein zu lassen. Mit einem Wort: Mitleid haben bedeutet, das Leid des Anderen zu teilen.

Die Aufnahme ist die Frucht der Sensibilität und des Mitleids. Philemon spricht dies unmittelbar aus: „Kommt herein ins Haus.“ Diese einladende Haltung durchdringt die Hütte und schafft eine Atmosphäre des Wohlwollens, die die beiden Wanderer sehr schnell bemerken. Diese Haltung der Aufnahme konkretisiert sich in einer großen Folge von einzelnen Gesten.

Einladung, sich zu setzen: Wenn wir müde sind, ist das Erste, was wir suchen, ein Platz, um uns zu setzen oder uns anzulehnen. Baukis bietet gleich die beiden Hocker aus Holz an. Nun leben sie auf menschliche Art zusammen.

Frisches Wasser anbieten: Wasser ist Leben. Frisches Wasser stillt den Durst, steigert das Wohlbefinden und erinnert an das Sprudeln der Quelle – ein mit dem Haus verbundener Archetyp.

Feuer machen: Das Feuer ist nicht nur ein Hilfsmittel für uns, um unsere Speisen zuzubereiten. Es hat etwas Intimes, Behagliches an sich, denn es steht für Licht und Wärme: typische Charakterzüge des Hauses, das zum Heim wird. Deshalb stellt es einen der ältesten Archetypen der Menschheit dar. Wo das Feuer brennt und die Lampe leuchtet, da wird signalisiert, dass es Leben im Haus gibt und dass man aufgenommen werden kann. Es versteht sich deshalb, dass Philemon, nachdem er es den Fremden bequem gemacht hat, als erstes die Glut entfacht und Feuer macht.

Die Füße waschen: Nach einem langen Marsch gibt es nichts Wohltuenderes, als die schmerzenden Füße in frischem Wasser zu kühlen oder sie über Nacht in lauwarmes Wasser zu tauchen. Die Füße des Anderen zu waschen stellt die höchste Form der Aufnahme und des Dienstes dar. Es ist ein Sklavendienst. Jesus wollte, bevor er aus dieser Welt zum Vater heimging, seinen Jüngern die Füße waschen. Diese waren verwirrt. Es war der höchste Ausdruck der „Liebe bis um Ende“ (Joh 13,1). Und er gab ihnen die Erklärung für diese archetypische Geste: „Wenn ich als Meister und Herr euch die Füße wasche, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen.“ (Joh 13,14) Baukis wäscht zwei Leuten die Füße, die sie nicht kennt. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als wir Kinder reihum unseren Eltern die Füße waschen mussten. Und wir machten das mit Ehrfurcht, als ob es eine heilige Handlung wäre. Wenn hoher Besuch kam, wuschen wir ihm auch die Füße. Es war ein Zeichen der völligen Gastfreundschaft und der Einladung zu offenem Zusammenleben.

Zu essen geben: Gastfreundschaft und Zusammenleben nehmen die konkreteste Gestalt in der Tischgemeinschaft an. Baukis und Philemon bereiten das Mahl mit dem Besten, was sie haben, vor: dem Brot, dem Gemüse, den Eiern, dem Öl, dem Wein und dem letzten Stück Speck für die Suppe, und schließlich mit den getrockneten Datteln und Feigen als Nachtisch. Die Zubereitung ist keine mechanische Angelegenheit. Es ist ein Ritual, denn in unserem Unterbewusstsein ist uns klar, dass essen mehr ist als essen. Es ist Teilhabe an den Energien, die dem Universum und uns allen Leben verleihen, und es ist Gemeinschaft der Tischgenossen. Es ist niemals bloß Nahrungsaufnahme, sondern das Genießen von Beziehung und Zusammenleben.

Wein zu trinken geben ist eine andere grundlegende, mit der Tischgemeinschaft verbundene Geste. Sie nehmen den alten und als Medizin vorgesehenen Wein. Der Wein ist ein anderes starkes Symbol für das Leben, das Fest und die Freude, zusammen zu sein.

Einen reichlich gedeckten Tisch anbieten: Die Armen wollen nicht, dass ihre Gäste ärmlich bewirtet werden. Der Tisch muss reichlich gedeckt sein. Der Nachtisch steht für dieses Übermaß. Er ist etwas Besonderes, das es nicht jeden Tag gibt. Er verleiht dem Mahl eine besondere Note. Baukis und Philemon bieten trockene Datteln und Feigen an, die sie für besondere Gelegenheiten wie diese beiseitegelegt hatten.

Alles anbieten: Der Prüfstein der Gastfreundschaft ist die Unbedingtheit. Die Gastfreundschaft muss bedingungslos sein, um wahrhaft menschlich zu sein. Baukis und Philemon hatten bereits das letzte Stück Speck hergegeben. Nun waren sie auch bereit, die einzige Gans zu opfern, die sie hatten – eine Gans, die nach antikem Brauch als Wache für das Haus diente. Dies ist dieselbe Bereitschaft, die Abraham an den Tag legte, der befahl, das einzige Lamm, das er hatte, zu schlachten, um es seinen Gästen anzubieten.

Alles wird vorbehaltlos den Gästen zur Verfügung gestellt, nichts wird für später zurückbehalten. Dies ist die höchstmögliche Loslösung vom eigenen Ich und die höchstmögliche Hinwendung zum Anderen. Es ist die unbegrenzte und vorbehaltlose Gastfreundschaft. Die beiden Wanderer wehren entschlossen ab. Aber sie sind voller Bewunderung, denn die guten alten Leute haben den entscheidenden Test der Gastfreundschaft bestanden. Ihre Augen fließen über vor Rührung.

Tischgemeinschaft miteinander halten: Als die Fremden eingeladen werden, sich an denselben Tisch zu setzen wie die Gastgeber, entsteht Tischgemeinschaft. Sie ist der höchste Ausdruck des Zusammenlebens. Sie stellt die Überwindung jeglicher Distanz, jeglichen Verdachts und jeglicher Feindseligkeit dar. Nur wirkliche Freunde oder solche, die Freundschaft geschlossen haben, können wirklich Tischgenossen sein. Dies ist Ausdruck der Gemeinschaft, des Zusammenlebens, des Teilens nicht nur der Speisen allein, sondern auch der Seelen und Herzen. Obwohl Baukis und Philemon schon gegessen haben, setzen sie sich mit an den Tisch und essen zusammen mit ihren Gästen, um sie nicht zu beschämen. Eine solche Geste ruft uns die schöne Tradition des Franziskanerordens, das geheiligte Erbe des Franziskus von Assisi in Erinnerung. Dieser Tradition zufolge darf man den Gast nie allein essen lassen. Selbst wenn man schon gegessen hat, isst der für die Gäste zuständige Bruder oder der Guardian (Hausoberer eines Franziskanerklosters) selbst zusammen mit dem Gast, damit er sich völlig willkommen, zu Hause und ungezwungen fühlt.

Das eigene Bett anbieten: Ebenso ausdrucksstark wie das Waschen der Füße sowie das reichliche Essen und Trinken ist das Anbieten des eigenen Bettes für die Nachtruhe der Fremden. Und es handelte sich um das einzige Bett, das sie besaßen. Das eigene Bett anbieten bedeutet, sich in seiner eigenen Privatsphäre völlig zu öffnen. Es bedeutet, sich zum Zeichen des Wohlwollens und des Vertrauens dem Anderen gegenüber voll zu entblößen. Hier erreichen Gastfreundschaft und Zusammenleben ihren unüberbietbaren Höhepunkt.

Schließlich offenbart der Mythos. Wenn Gastfreundschaft und Zusammenleben in ihrem vollen Sinn verwirklicht werden, dann offenbaren sie etwas, was in ihnen verborgen liegt: die Logik des Universums und des Lebens. Die Fremden und Bedürftigen aufzunehmen und – wenn auch nur für kurze Zeit – mit ihnen zusammenzuleben heißt, die grundlegende Struktur des Universums darzustellen. Sie setzt sich aus Netzwerken gegenseitiger Beziehungen nach allen Richtungen und Banden der integrierenden Solidarität zusammen. Weil alle Lebewesen füreinander Gastgeber waren, konnten alle so weit kommen. Das Universum dehnt sich weiter aus und schafft immer komplexere, schönere und sinnerfülltere Ordnungen, weil sich alle wie Gastgeber verhalten, koexistieren, zusammenleben und kooperativ zu diesem Ergebnis beitragen.

Hier ist Gott am Werk, die Quelle, aus der alles Sein und Werden entspringt. In den armen, müden und hungrigen Wanderern war Gott verborgen, der sich nun in all seiner Herrlichkeit vollkommen offenbart. Er zeigte seine Macht, die nicht erdrückt, sondern wohltuend wirkt. Er veränderte die Wirklichkeit. Die guten Gastgeber wurden in Priester für den Tempeldienst verwandelt.

Alles, was von der Gottheit berührt wird, wird auch verewigt. Damit sie der Geschichte als Archetypen der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens und der Tischgemeinschaft erhalten blieben, wurden Baukis und Philemon in kräftige Bäume verwandelt, deren Zweige und Kronen sich in unendlicher Zärtlichkeit, in einer Liebe, die für immer bleibt, ineinander verschlangen.

Weil das so ist und weil es die Wahrheit ist, spricht dieser Mythos bis heute zu uns und inspiriert uns mit Ideen und grundlegenden Werten, damit wir das Gemeinsame Haus errichten, in dem alle Platz haben können, auch die Natur, in der sich alle als Gäste der jeweils anderen fühlen können und sich als Brüder und Schwestern einer unvorstellbar großen Familie, der einen Menschheitsfamilie, betrachten können.

Tasuta katkend on lõppenud.