Loe raamatut: «Der siebenstufige Berg»
Liselotte Welskopf-Henrich
Der siebenstufige Berg
Roman
Palisander
Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe
1. Auflage März 2013
© 2013 by Palisander Verlag, Chemnitz
Erstmals erschienen 1972 im Mitteldeutschen Verlag, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Einbandgestaltung: Claudia Lieb
Lektorat: Palisander Verlag
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 9783938305669
Das Blut des Adlers
Pentalogie
1. Band: Nacht über der Prärie
2. Band: Licht über weißen Felsen
3. Band: Stein mit Hörnern
4. Band: Der siebenstufige Berg
5. Band: Das helle Gesicht
Rot ist das Blut des Adlers.
Rot ist das Blut des braunen Mannes.
Rot ist das Blut des weißen Mannes.
Rot ist das Blut des schwarzen Mannes.
Wir sind alle Brüder.
Der Medizinmann von Alcatraz (1970)
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Ein Büffel stand im Weg
Der Mann, der die Wahrheit spricht
Fahrt ins Eisland
Der heimliche Häuptling
Die erste Stufe
Weitere Bücher
Ein Büffel stand im Weg
Chester Carrs Passmerkmale lauteten: Augen blau, Haar blond, mittelgroß, besondere Kennzeichen: keine. Er war im Staate Mississippi geboren. Seine Eltern hatten ihn mit finanziellen Opfern in einem Privatinternat erziehen lassen, um ihn von den politischen und sozialen Streitigkeiten fernzuhalten und aus ihrem einzigen Sohn einen zuverlässigen Südstaatler zu machen. Chesters Leistungen in den Schulfächern waren so mäßig wie gleichmäßig gewesen. Seine Lehrer konnten ihn weder faul noch fleißig nennen. Er galt als ein Sportsmann, dessen Leistungen kaum schwankten und dessen Einsatz daher stets zuverlässig berechnet werden konnte. Aufgrund solchen Rufes war er ungeschoren durch seine Schul- und seine Collegezeit gegangen. Er teilte stets die tonangebenden Meinungen der Bürger von Mississippi, mit deren Söhnen er aufgewachsen war. Und er war immer Glied irgendeines Teams, eingepasst wie ein Rädchen in eine präzise laufende Maschine. Nie wäre ihm ein Alleingang reizvoll erschienen. Er gehörte noch zu jener Generation, die schon in jungen Jahren nicht als ein odd ball, nicht als Außenseiter, angesehen werden wollte. Bei allen Aktionen gegen Schwarze konnte man auf Chester zählen. Er sympathisierte mit dem Ku-Klux-Klan. Da sein Vater Mitglied der Nationalgarde war und der NRA – der National Rifle Association – angehörte, hatte Sohn Chester sich von seinem zehnten Lebensjahr an unter sachverständiger Anleitung im Scharfschießen geübt. Nie hatte er einen Farbigen persönlich kennengelernt. Die Tatsache, dass seine Eltern und er von einer alten schwarzen Frau bedient wurden, rechnete er nicht dem Begriff »persönliche Beziehungen« zu. Gesetz und Ordnung, wie man sie in der middle class und der upper middle class im Staate Mississippi seit vielen Generationen verstand, hatten in Chester Carr von neuem Fleisch und Blut gewonnen.
Aber eben dadurch waren sie auch verletzlich geworden wie alles Lebendige.
Nach dem Abschluss des College erfuhr Chester, dass es schwierig sei, einen passenden Job für ihn zu finden. Er begegnete dieser unerwarteten Situation mit dem Erstaunen, das jeden Amerikaner hätte befallen müssen, wenn die Industrie seiner Normalfigur keinen passenden Konfektionsanzug hätte anbieten können. In einer Verlegenheitsstunde, deren psychische Verwirrung er auch später nie ganz enträtselte, nahm Chester den ersten sich bietenden Job an, vielleicht nur, um nicht aus der gewohnten Rolle des tätigen und gesicherten Staatsbürgers zu fallen. Er trat in den großen Apparat des Bureau of Indian Affairs ein, das eine Stelle anbot, wurde Glied dieses Teams von merkwürdigen Beamtenexistenzen, die Wilde erziehen sollten, und versuchte sich dem anzupassen. Es gelang ihm nur halb, das Rädchen passte nicht in diese Maschine, es lief mit Reibungsverlust. Doch lief es immerhin. Wenn Mr Carr selbstbewusst, pünktlich, korrekt seine Amtsgeschäfte erledigte, wenn er stets mit entschiedener Stimme sprach und seine Haltung keine Zweifel zuließ, so nahm kein Kollege, Vorgesetzter oder Untergebener, äußerlich etwas von dem Riss wahr, der dabei durch Chesters Nervenstruktur lief und sich unmerklich erweiterte. Es widerstrebte ihm nun einmal, sich mit Farbigen abzugeben. Der verborgene Riss verband sich mit anderen wachsenden Spannungen und schmerzte zuweilen.
Mit Erschrecken hatte Chester im Alter von fünfundvierzig Jahren bemerkt, dass sein eigener Sohn gegen das väterliche Welt- und Lebensmodell rebellierte. Chester schämte sich, wurde erregt und sagte sich von seinem Sohn Clyde los. Er verwehrte ihm das Betreten seiner Dienstwohnung; er verbot ihm unter Androhung der Verhaftung, sich irgendwo und irgendwie auf der Reservation blicken zu lassen, auf der sein Vater amtierte. Sehr erleichtert nahm Chester Carr seine eigene Versetzung auf eine andere Reservation an, obgleich diese in einem Nordstaat lag. Wenn es schon Carrs schwer verständliches Dauerschicksal geworden war, sich mit Wilden zu befassen, so wollte er wenigstens alle seine Meinungen und Erfahrungen völlig ungestört und ohne die Vorbelastung eines sichtlichen Misserfolgs in der Familie einsetzen.
Mit verbissener Energie machte sich Chester Carr in neuer Umgebung wieder an seinen Auftrag, die Eingeborenen zu regieren, die bedauerlicherweise nicht rechtzeitig ausgerottet worden waren. Chester Carr saß auf dem Amtsstuhl, von dem aus sich seine Vorgänger Hawley, Bighorn und Albee vergeblich bemüht hatten, die einem Superintendenten zugeteilten Aufgaben zu lösen. Carr zog sogleich Informationen ein. Hawley, noch zu sehr Seigneur der alten Schule, war vergrämt gestorben. Bighorn, scheinbar angepasster Indianer, hatte, von den Hexenkünsten seines Stammes verfolgt, Selbstmord begangen. Albee, bebrillt und von ethnologischen Zweifeln aufgeweicht, war mit allerhöchstem Missfallen abgegangen. Nun kam Chester Carr, weder Seigneur der alten Schule noch abergläubisch, noch zweifelnd, Typ des Masters aus dem Süden, fest verwurzelt in seiner Erziehung und standfest gegen Schwächegefühle.
Er orientierte sich sogleich, welche der ihm untergebenen Beamten in seinem Sinne brauchbar seien. Mit Ausnahme einer fülligen Frau schienen sie alle vom Apparat genügend vorgeformt, um von Chester Carr weitererzogen zu werden. Doch war es nur ein einziger, der Carrs Vertrauen in vollem Maße gewonnen hatte, der stellvertretende Superintendent Nick Shaw. Er hatte alle vorhergehenden Superintendenten im Amt überdauert, wie ein gewandter und unauffälliger Staatssekretär seinen Minister zu überdauern pflegt oder, anders ausgedrückt, wie ein Computer, der weiter informiert, gleich, wer ihn mit Daten füttert.
Vierzehn Tage nachdem Carr seinen Dienst angetreten hatte, begann er eine Inspektionsfahrt durch die Reservation. Er ließ sich nicht von Nick Shaw begleiten, da der Bürodienst werktags nicht ruhen und das Wochenende nicht durch Arbeit zweckentfremdet werden durfte. Carr verließ sich auf seinen eigenen Blick, den er für scharf hielt, und auf die Auskünfte seines Fahrers, der wie Shaw schon unter drei Superintendenten und vorher bei der Armee gedient hatte.
Der Wagen durchfuhr die kleine Agentursiedlung, in der Carr keine Probleme entdecken konnte. Supermarkt, Stammesrathaus, Stammesgericht, Polizeigebäude und ein kleines Gefängnis waren aus rot leuchtenden Ziegelsteinen neu erbaut. Die Straße war sauber, die Tankstelle flott bedient, die meisten Häuser in der Umgebung des Supermarkts ansehnlich: Superintendentur, Kirche, die 1. Tagesschule, einige Beamtenhäuser. Ein kleines Café, ein alter, kleiner Laden, eine Friseurbude standen dazwischen, schmal, als seien sie zusammengedrückt. Als Zeugen vergangener Zeiten saß ein Dutzend alter Männer auf einer kleinen Mauer am Straßenrand.
Der Dienstwagen gelangte in freies Gelände. Die herbstliche Jahreszeit hatte eben erst begonnen; der Himmel war licht, der Wind sanft, die Sonne schien mild. Das Präriegras hatte seine Lebenshoffnungen für das laufende Jahr aufgegeben; braun, dürr verkümmerte es auf dem ausgetrockneten Boden, und selbst die Kakteen waren schlaff geworden, Zeichen der Wirkung grausamer Sommersonne in diesem verlassenen Land. Chester Carr, der von einer Reservation in die andere kam, fühlte sich zunächst nur von einer Einöde in die nächste versetzt, aber je länger die Fahrt währte, desto weniger konnte er sich eines beklemmenden Gefühls erwehren. Die ihm gewohnt gewordene Einöde, die er verlassen hatte, war durch eine kahle Gebirgsformation grotesk oder monumental formiert gewesen; die Einöde der Prärie wirkte mit ihren endlosen, sich gleichenden Hügeln und Wellentälern wie ein Erde gewordener Ozean ohne Ufer. Chester war allerdings weit davon entfernt, solche Vergleiche zu denken; dazu fehlte ihm die Phantasie. Er wurde lediglich schlechter Stimmung und fühlte sich allein. Nur hin und wieder bekam er schwarzes Vieh zu Gesicht, ein einsames Ranchhaus, eine Blockhütte, ein Zelt, ein Dorf, Kiefern und weiße Felshänge, die das Braun des Graslandes unterbrachen. Er fand keinen Anlass, Halt zu machen; er wollte besichtigen, nicht eindringen; das blieb Sache seines Wohlfahrts- und seines Wirtschaftsdezernenten. Chester liebte keine Kompetenzüberschreitungen.
Als solche störte ihn jetzt ein Büffel, der nicht auf seiner Weide, sondern auf der schmalen Straße stand und offenbar den elektrisch geladenen Zaun zwischen Straße und Ranchgelände auf irgendeine Weise umgangen oder irgendwo übertrampelt hatte. Vielleicht war der Zaun auch nicht ordnungsgemäß geladen.
Der Fahrer bremste und hielt. Chester wartete.
Der Wagen blieb am Platz. Der Bulle stellte sich quer, drehte den Kopf, glotzte und überlegte. Niemand konnte wissen, was er tun würde, gleich, ob der Wagen stehenblieb oder ob der Fahrer wieder startete. Der Büffel schnaubte und brüllte kurz, dumpf. Der Fahrer hütete sich zu hupen.
»Ja – und?« sagte schließlich Superintendent Carr.
»Es ist ein Bulle«, erklärte der Fahrer.
Carr wartete eine Viertelstunde. Auch der Bulle hatte Geduld. Nur seine Schwanzspitze bewegte sich leicht und verriet irgendeine Gedankenbewegung in dem mächtigen Kopf, in dessen dunkler Behaarung die Hörner fast verschwanden.
»Warum fahren Sie nicht weiter?« fragte Chester Carr. Er hatte da und dort in Naturschutzgebieten schon Büffel gesehen; sie hatten abseits der Straße friedlich geweidet, und er war ihnen nie zu nahe gekommen.
»Es ist ein junger Bulle, aggressiv«, sagte der Fahrer. »Er mag uns nicht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Die Schwanzspitze. Achten Sie auf die Schwanzspitze, Sir.«
»Nennen Sie mich nicht ›Sir‹, Larry. Hawley war Sir. Old England, immer noch zu viel Old England. Ich bin Mr Carr. Das ist mein Grundsatz.«
»Yes, Sir.« Larry fand nicht sogleich aus der lebenslangen Gewohnheit hinaus, jeden Vorgesetzten mit »Sir« anzusprechen.
Carr gab seinen Protest gegen die Anrede auf.
»Wollen Sie warten, Larry, bis es dem Vieh heute abend einfällt weiterzutraben?«
»Büffel lassen sich nicht treiben, Mr Carr. Im Park der Hills bringen die Cowboys die Büffelherde nur durch ein Stampede vorwärts. Zu Pferd natürlich. Mit Schießen, Knallen und Schreien.«
»Wem gehört das Vieh hier?«
Während Chester Carr fragte, gewann er beim Anblick des Bisons mehr und mehr den Eindruck, dass dieses Ungetüm der Prärie seinem Wagen wesentlich schaden konnte, wenn es sich nur dazu entschloss.
»Larry, wem gehört das Tier?«
»Joe.«
»Das ist ein weißer Pacht-Rancher?«
»Ein Indianer.«
»Oh.«
»Ja. Er kann mit Büffeln umgehen.«
»Vielleicht auch nicht. Sonst würde er uns nicht einen Bullen auf die Straße stellen.«
»Nun, er kann nicht überall sein. Tom und Percival sind zur Armee eingezogen, und Bob sitzt im Gefängnis. Robert ist noch da. Aber ein Rancher und ein einziger Cowboy sind nicht genug für die Kuh- und Büffelherde.«
»Dieser Joe hält sich Cowboys?«
»Indianerjungs.«
»Hm.«
Carr fand sich darein, weiterhin zu warten. Nach etwa zehn Minuten ließ sich von fern Hufschlag im Galopptakt hören aus der Richtung, aus der Carr mit seinem Wagen gekommen war. Die Hufe schlugen nicht die Straße, sondern den trockenen Wiesenboden. Ein tiefer, tierisch wirkender Ton erklang dazu und vibrierte durch Chester Carrs Nerven. Es krachte und knallte. Der Büffel wurde unruhig, hob den Kopf, äugte. Der Reiter stob heran, setzte über den Zaun, der Bulle brach aus, wendete, flüchtete. Der Reiter war jetzt auf der Straße hinter ihm her. Carr hatte einen Schecken und einen schlanken, großen Reiter mit schwarzem Cowboyhut erkannt; wenn er unter Eid befragt worden wäre, hätte er gesagt, dass die Hände des Mannes braunhäutig gewesen waren.
»Das war Joe«, sagte der Fahrer und startete den Wagen.
Bulle und Reiter waren schon hinter der nächsten Kurve verschwunden.
»Was wissen Sie von diesem Joe?«
»Joe King. Ein erfolgreicher junger Rancher. Der beste Rodeoreiter und der beste Schütze der Reservation.«
»King …?« Chester Carr holte seinen Kalender hervor und machte eine Notiz. Er erinnerte sich, dass er in den Akten, die zu studieren seine erste Obliegenheit gewesen war, eine Eintragung neuesten Datums über einen Joe King gefunden hatte. Der Mann sollte wegen irgendeines haarsträubenden Vergehens, für das man ihn nicht vor Gericht bringen konnte, von der Superintendentur zurechtgewiesen werden.
Carr nahm sich vor, diese Angelegenheit so bald wie möglich zu erledigen.
»Larry, womit hat dieser Meisterschütze der Reservation geschossen? Konnten Sie es erkennen?«
»Er hat nicht geschossen, Sir, er hat mit der Hirtenpeitsche geknallt. Wenn ein hiesiger Cowboy mit der Peitsche knallt, klingt es wie ein Schuss.«
Chester Carr kannte von der Reservation, die er zuvor verwaltet hatte, nur Schafhirten und Schafherden. Er musste also dazulernen. Doch hatte Larry behauptet, dass die Cowboys im Hill-Park ein Stampede mit Schüssen einleiteten. Die Frage des Superintendenten erschien also nicht völlig abwegig. Immerhin war er einem Irrtum unterlegen. Mit unbefriedigten, nahezu gereizten Gefühlen schloss Chester Carr das Notizbuch, ohne sich vorher zu erkundigen, warum der Cowboy Bob des Joe King im Gefängnis sitze. Warum wohl! Wegen Trunkenheit, Diebstahls oder Gewalttätigkeit, wegen irgendeines dieser typisch indianischen Verbrechen.
Auf der Weiterfahrt ergab sich nichts Neues oder Besonderes mehr, und eine halbe Stunde vor Dienstschluss stand Carrs Wagen wieder vor der Superintendentur in der Agentursiedlung.
Der Superintendent saß schon an seinem Schreibtisch und hatte seinen Stellvertreter Shaw rufen lassen.
»In drei Tagen genauen Bericht über die Büffelranch des Joe King. Dort scheint mir nicht alles in Ordnung zu sein. Mangelhaft gehütete Büffel sind eine öffentliche Gefahr.«
Shaw nickte.
»Hat sich ein Cowboy Bob dieser Ranch strafbar gemacht?«
»Wehrdienstverweigerung.«
Carr fühlte einen leichten Schock.
»Also den Bericht.«
Shaw notierte und wiederholte: »Bericht.« Er verbarg dabei, wie erfreut er war, dass der neue Superintendent offenbar selbst die Widerstandsclique entdeckt hatte, die Nick Shaw schon lange, aber bisher vergeblich verfolgte.
Es wurde vier Uhr nachmittags. Carr beendete den Dienst, fuhr hundert Meter weiter zu seiner Dienstwohnung im einstöckigen, gut eingerichteten Haus und wurde von seiner Frau begrüßt, die in allem dachte wie er selbst.
Da es auf der Reservation keinerlei Klub, kein Restaurant, kein Theater, kein Kino gab, genoss Carr nach der Zeitungslektüre mit Frau Emily zusammen die Zerstreuung des Fernsehens. Als der Western langweilig wurde, überwand sich Frau Emily und erzählte: »Heute mittag sind zwei junge Verbrechertypen hier durchgefahren. Der eine war eine Mulatte. Clyde hatte die beiden als Anhalter mitgenommen.«
Chester Carr schaltete den Fernsehapparat auf geringere Lautstärke, griff wieder nach der Zeitung, knisterte damit und fragte endlich: »Wer hat die drei entdeckt?«
»Die beiden Indianerpolizisten.«
»Auch das noch. Wieso?«
»Clyde war aufgefallen. Er fragte die alten Männer aus, die an der Straße umhersaßen.«
»Woher weißt du es?«
»Ich kam mit Clarence vom Supermarkt.« Clarence war die Haushaltshilfe, eine Schwarze, die das Ehepaar Carr sich aus dem Süden mitgebracht hatte. »Und dann?«
»Die drei wurden angewiesen, sich nicht aufzuhalten. Sie fuhren weiter.«
Chester Carr schaltete den Fernseher auf volle Lautstärke, sah sich das von Revolverschüssen begleitete Happy End des Westerns und eine Komödie an und hüllte dabei seine Gedanken in ein Dämmerdunkel, wie es im ganzen Raume herrschte. Er hatte eine schriftliche Anweisung bei der Polizei hinterlegt, dass sein Sohn Clyde sofort aus der Reservation auszuweisen sei, wenn er gesehen werde. Die Polizisten hatten korrekt gehandelt. Aber Carr glaubte schon das Hohngerede unter den Indianern, boshaftes, bemitleidendes Geflüster seiner Beamten – außerhalb der Dienstzeit – zu vernehmen, und er spürte das Triumphgefühl Clydes, dem es schon wieder gelungen war, seinen Vater vor allen Leuten und an seiner Dienststelle lächerlich zu machen. In einem poppigen Auto mit zwei Verbrechertypen! Clyde war also nicht nur von blödsinnigen Schlagworten wie Rassismus und Kolonialismus besessen, er war durch seine Kritiklosigkeit gegenüber schlecht angezogenen und farbigen Leuten auch in üble Gesellschaft geraten. Es lag ihm offenbar nichts mehr daran, ob man ihn verhaftete. Vielleicht provozierte er bewusst, und Chester Carr war machtlos gegenüber einem mündigen Sohn, der wenig Bedürfnisse zeigte, kein Geld verlangte und das Gefängnis noch nicht zu fürchten gelernt hatte.
Gegen elf Uhr nachts folgte Chester dem fragenden Blick seiner Frau, erhob sich und ließ das Fernsehlicht erlöschen. Wie einfach. Vielleicht wurde im Jahre 3000 ein Schaltknopf für das Gehirnzentrum des Menschen erfunden, um Gedanken in Gang zu setzen und sie ebenso schnell abzudrehen. Für die lebende Generation blieb nichts übrig, als sich zu Bett zu begeben und die Beruhigungspille einzunehmen, für die Frau Emily schon einen Schluck Wasser bereitgestellt hatte.
Das Haus lag im Dunkel. Chester schlief ein, ohne noch etwas gesagt zu haben, aber er wusste, dass Emily mit den gleichen Sorgen umging wie er selbst.
Als es Morgen wurde, als der Wecker rasselte, als ein paar Vögel durch den wohlgepflegten Garten des Superintendentenhauses huschten und Mr und Mrs Carr sich wie gewohnt ham and eggs servieren ließen, hatte Chester beschlossen, nirgendwo auf die Sache Clyde zurückzukommen, weder in der Familie noch im Büro.
Er verabschiedete sich höflich von seiner von ihm noch immer verehrten Frau. Larry hatte den Wagen bereit und fuhr den Chef die Strecke von hundert Metern zur Superintendentur.
Carr wandte sich den laufenden Amtsgeschäften zu und empfing Miss Bilkins, die für das Schulwesen verantwortlich zeichnete. Sie war blond und hellhäutig, im Norden geboren, wie Carr ihren Personalakten bereits entnommen hatte. Das letzte ihrer Schriftstücke, das Miss Bilkins vorlegte, war ein Antrag, den jungen Indianer Hugh Mahan, der soeben das College abgeschlossen hatte, bei der Superintendentur zu beschäftigen. Zeugnisse, Lebenslauf, Passbild, eine ausführliche Beurteilung waren beigefügt. Carr ließ den Blick über die Papiere laufen, schichtete sie wieder zusammen und legte sie nochmals auseinander. Er gestand sich selbst nicht ein, dass ihn das ausgezeichnete Abschlusszeugnis dieses Farbigen stutzen ließ und verärgerte. Mahan hatte am College besser abgeschnitten als einst Chester Carr. Carr war entschlossen, den Antrag auf Mahans Einstellung in sein Büro abzulehnen. Intellektuelle waren eine Krankheit des Landes, farbige Intellektuelle die Pest schlechthin.
Der neue Superintendent lehnte sich in seinem Dienststuhl mit Armlehnen zurück und kritisierte: »Miss Bilkins! Sie haben diesen jungen Mann vor drei Jahren zum Besuch des College mit entsprechendem Stipendium vorgeschlagen. Warum?«
»Ein ausgezeichnetes Abitur, Mr Carr. Mahan war der Beste der ganzen Abschlussklasse, und Superintendent Sir Hawley hat den Antrag warm befürwortet.«
»Das sind vergangene Zeiten, Miss Bilkins. Ich muss nach dem heutigen Stand unserer Erfahrungen urteilen. Wieso hat Mahan sein ›ausgezeichnetes Abitur‹ erst mit zwanzig Jahren abgelegt?«
»Er wurde von den Eltern zwei Jahre zu spät zur Schule geschickt.«
»Eine widersetzliche Traditionalistenfamilie, dazu eine Nachlässigkeit der Verwaltung. Er kam dann in das Internat?«
»Außerhalb der Reservation. Drei Jahre keine Erlaubnis des Elternbesuchs, dann war der Vater verstorben, und die Mutter kam nicht. Sie ist unbeholfen. Hugh Mahan ist ganz und gar unser Zögling geworden.«
»Erst mit zweiundzwanzig Jahren hat er das Studium begonnen. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen?« Carr blätterte.
»Er hat in Chicago am Indian Center als Sekretär gearbeitet. Das Zeugnis liegt bei.«
»Das Zeugnis ist zu gut, Miss Bilkins. Das Center in Chicago arbeitet nicht in unserem Sinne. Die militanten United Natives haben dort getagt.«
»Sie wissen natürlich mehr als ich, Mr Carr.«
»Das ist meine Aufgabe. Seine Collegezeit hat dieser Hugh Mahan mit vorzüglichen Leistungen beendet, nachdem er mit sehr schlechten angefangen hatte. Derselbe Vorgang wie in der Schule. Elf Jahre ein schlechter Schüler, dann das gute Abitur. Sie werden auch nicht glauben, Miss Bilkins, dass ein Schüler elf Jahre lang faul sein und dann im zwölften ein ausgezeichnetes Abitur machen kann. Er hat schon als Junge im Verborgenen gelernt. Er ist ehrgeizig und heimtückisch.«
»Mr Carr – Mahan erscheint eher gehemmt. Er ist ein Spätentwickler.«
»Hm. Vielleicht würde er in unserem Büro neun Jahre lang nichts leisten, um uns im zehnten – wer weiß womit! – zu überraschen. Nein, Miss Bilkins, das ist nicht der Typ, den wir für die Superintendentur brauchen.«
Miss Bilkins schwieg beschämt.
Carr war befriedigt.
»Sie sehen ein, dass ich recht habe. Lesen Sie die Papiere dieses Mahan noch einmal genau durch und schreiben Sie eine andere Beurteilung – ich gebe Ihnen die vorliegende zurück, bitte.«
Miss Bilkins nahm die Blätter mit merkbarem Widerstreben wieder an sich.
»Ich werde Ihnen aber den Gefallen tun, mir den merkwürdigen jungen Mann anzusehen. Wann können Sie ihn herbeischaffen?«
»Er wartet.«
»Aha.«
Carr gab seiner Sekretärin telefonisch Bescheid.
Der fünfundzwanzigjährige Indianer trat ein. In einem rohlederfarbenen Hemd, dunklen Jeans, mokassingleichen Halbschuhen stand er vor dem Superintendenten. Er hatte den in der Gegend üblichen Cowboyhut abgenommen. Von seiner Erscheinung ging etwas wie ein Luftzug aus einer fremden Atmosphäre aus. Seine Haut war braun, das Haar schwarz.
Carr musterte ihn länger, als er einen weißen und freien Stellungssuchenden gemustert hätte, denn der vor ihm stand, war ein Farbiger und ein Reservationsindianer, durch Gesetz unter Vormundschaft gestellt wie alle seine Stammesgenossen. Der junge Mann war groß gewachsen, schmalhüftig, nicht eben breitschultrig, ein Langschädel. Seine Hände waren schlank. Er stand da, ohne sich zu regen. Das gab Carr einen Gedanken ein.
»Haben Sie gedient?«
»Nein!« Die Stimme war dunkel und sehr gedämpft.
»Warum nicht?«
»Tuberkulose.«
»Noch virulent?«
»Ausgeheilt – nach dem letzten Kliniktest.«
»Was Ihre Suche nach einem Job anbetrifft, Mahan, nun, wir haben nicht für jeden jungen Mann den gewünschten Kuchen bereit. Hier im Büro ist überhaupt keine Stelle für Sie frei.«
Der junge Indianer sagte dazu nichts. Carr versuchte, in dem mageren Gesicht zu lesen, aber es wirkte wie eine ausdrucksleere Maske, und die Augen konnte Carr nicht in seinen Blick bekommen. Der Mann war ihm unangenehm. Unzugängliche Leute blieben immer verdächtig, und die Situation auf den Reservationen war gespannt. Carr beschloss, diesen Bewerber nicht aus der Kontrolle gleiten zu lassen, unter der er sich in Internat und College befunden hatte. Er wollte gleichzeitig Miss Bilkins durch praktische Erfahrungen, die sie in ihrem eigenen Ressort zu machen haben würde, belehren.
Der Superintendent blätterte in Akten und fand, was er gesucht hatte.
»Miss Bilkins, in der 3. Tagesschule ist eine Stelle als Erzieher für die Vorschulklasse frei. Der Bewerber hier spricht Englisch. Meinen Sie nicht auch, dass er es den Vorschulpflichtigen beibringen kann? Das denken Sie auch, nicht wahr? Nehmen Sie an, Mahan?«
Der Indianer wartete die Länge eines Atemzuges, dann sagte er zu dem überraschenden Vorschlag sehr leise, aber verständlich: »Ja.«
»Vielleicht noch den Sport dazu – nachmittags – Sie sind unverheiratet? – Also den Nachmittagssport an dem Internat, das mit der Tagesschule verbunden ist – sind Sie Sportsmann?«
»Nein.«
»Bei Ihrer Figur hätten Sie professioneller Sprinter, Langstreckenläufer oder Basketballer werden können, meinetwegen auch Rodeoreiter; dabei wären Sie eher gesund geblieben in Chicago. Nun, Sie sind ein Spätentwickler. Machen Sie mit fünfzig Jahren Ihre Goldmedaillen und Ihren Sieg im großen Rodeo von Calgary. Wie ein Cowboy sind Sie heute schon angezogen. In der Schule werden Sie aber in Zivil erscheinen. Der Friseur für Indianer hier hat seinen Laden linker Hand um die Ecke. Im Internat werden Sie Gelegenheit haben, sich die Haare regelmäßig schneiden zu lassen.«
Der Indianer sagte nichts.
»War es in Ihrem College gestattet, die Haare lang zu tragen?«
»Ja.«
»An unseren Schulen hier unterbleibt das.«
»Ja, Sir.«
Chester Carr hatte durchaus nicht gelächelt. Alle seine Bemerkungen waren keine Witze, sondern Tadel gewesen. Er nahm das »Ja, Sir« hin, obgleich er fühlte, dass ihn der Indianer damit ironisierte. Carr schloss die Unterredung ab, legte die Papiere zusammen und beiseite und bedeutete dem Indianer stillschweigend und unfreundlich, dass er zu gehen und draußen zu warten habe. Er selbst wollte noch einmal mit seiner Dezernentin sprechen.
»Der Bursche gefällt mir immer weniger, Miss Bilkins. Besorgen Sie sich Informanten, die ihn laufend beobachten und Ihnen berichten.«
Als die blonde Dezernentin für das Schulwesen nach dieser Anweisung das Amtszimmer des Superintendenten verließ, fand sie Hugh Mahan im Vorraum. Er hatte also den Wink des Superintendenten verstanden und auf sie gewartet.
»Ich verständige den Rektor der 3. Tagesschule«, sagte sie, eine Nuance freundlicher, als für Amtssprache üblich. »Suchen Sie übermorgen das Rektoratssekretariat auf, um 7 Uhr 30; man wird Sie einweisen. Sie wohnen vorläufig im Internat, die Lehrerhäuser sind alle belegt.«
»Ja.«
Der Indianer setzte den Cowboyhut wieder auf und schickte sich an, das Dienstgebäude zu verlassen. Er machte mit dem Fuß eine kleine Bewegung, als ob er etwas austrete, vielleicht den letzten Funken einer Zigarette, die ein alter zahnloser Indianer hier unerlaubterweise geraucht und weggeworfen hatte. Miss Bilkins schaute ihm dabei zu und erschrak ohne sichtlichen Grund plötzlich derart, dass sie beschloss, das Mittagessen zusammen mit ihrer Kollegin Carson vom Wohlfahrtsdezernat einzunehmen und sich bei ihr auszusprechen.
Mrs Kate Carson, Witwe, blondiert, füllig, aber nicht dick, war bei allen Kollegen beliebt, bei ihren Vorgesetzten jedoch weniger. Als Miss Bilkins mit roten Flecken auf den Wangen bei ihr im Dienstzimmer erschien, schloss sie Dienstgeschäfte und Schubfächer sofort ab und lud Eve zum Mittagessen bei sich zu Hause ein.
Kate Carson bewohnte das kleinste der Beamtenhäuser in der Agentursiedlung und hatte es, von der Regel abweichend, nach eigenem Geschmack eingerichtet.
Bei Tee, Aufschnitt, Butter und Toast glättete sich Eves Miene wieder; ihr Puls beruhigte sich. Als Kate Carson sich hiervon überzeugt hatte, stellte sie die Frage, auf die Eve mit Ungeduld wartete. »Was hat es gegeben? Ärger mit Carr?«
Eve Bilkins nahm, entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, Milch in den Tee.
»Ja, auch das, Kate. Ärger mit diesem Mann, der alles besser weiß und in mein Ressort hineindirigiert. Ich soll eine Beurteilung, die ich abgegeben habe, nachträglich ändern! Wie ein Schüler seine fehlerhafte Schulaufgabe. Einfach unerhört. Aber lassen wir das. Was mich aus der Fassung gebracht hat, ist etwas ganz anderes. Ich meine …«
»Ja?« Kate Carson nahm aus Versehen ein zweites Stück Zucker in den Tee, mochte es nicht wieder herausfischen und trank vorsichtig von oben ab, da alles Süße ihre Figur aus der Form bringen konnte.
»Kate … ich sehe wahrhaftig nicht bei Tage Gespenster. Aber dieser Hugh Mahan – nein. Sie haben keine Ahnung, wer das ist. Fünfundzwanzig Jahre, College-Abschluss mit besonderer Belobigung. Die gleiche Bildung wie unser Superintendent. Also dieser Mahan – als er leise, leicht und stillschweigend mit dem linken Fuß irgendetwas zertrat – vielleicht einen letzten Zigarettenfunken oder mich oder Carr oder die Verwaltung überhaupt oder in Wahrheit den letzten Funken seines Selbst – oder sein bisheriges und zukünftiges Gefangenenleben im Schulinternat, im College und künftig wieder im Schulinternat – als Erzieher für die Schulanfänger –«
»Eve! Sie überraschen mich. Wieviel Einfühlungsvermögen entwickeln Sie für indianische Denk- und Ausdrucksweise! Vor Jahren gab es das bei Ihnen nicht. Aber weiter. Was geschah mit Mahan?«