Ypsilons Rache

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Ypsilons Rache
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa



Ypsilons Rache beschreibt ausschließlich Erfundenes.

Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind zufällig.

Erste Auflage 2021

©2021 Unken Verlag GmbH, Karlsruhe

Umschlag: Daniel Horowitz, Paris

Satz: Buch&media GmbH, München

Gesetzt aus der: Neuton und Segoe

Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck

ISBN epub 978-3-949286-03-2

ISBN mobi 978-3-949286-04-9

www.unken-verlag.de

Solange man lebt, ist nichts endgültig. Arnold Zweig

Berlin


Diesmal sah sie mir nicht in die Augen.

»Professor Wolff ist gleich bei Ihnen«, begrüßte mich die Chefsekretärin der urologischen Klinik. Minuten später federte Wolff in das Sprechzimmer, ließ seine massige Gestalt in den ledergenoppten Drehsessel fallen und goss stilles Wasser aus einer Kristallkaraffe in zwei Gläser. Eines reichte er mir über den Tisch.

»Leider ist es keine Prostatitis, sondern doch ein Karzinom.« Ich griff nach dem Glas und setzte es ab.

»Passt ja zum Wetter«, hörte ich mich sagen und starrte auf die fetten grauen Tropfen, die an der Fensterscheibe zerplatzten.

»Wetter geht vorbei«, murmelte Wolff und klickte im Rechner auf Drucken.

»Danke, sehr tröstlich, Leben geht auch vorbei.«

Ich starrte weiter auf das Fenster und die trommelnden Tropfen. Der Laserdrucker begann zu schnurren.

»Sorry, war nicht so gemeint«, brummte Wolff und reichte mir den Pathologiebericht.

Dort stand: Prostatastanzbiopsie Prof. Dr. Kristian Starck, Adenokarzinom der Prostata cT2c, Graduierung 3 (ISUP), den Rest konnte ich ohne Brille nicht lesen, war auch egal. Allerdings amüsierte mich die handschriftliche Notiz: Achtung, Pat. ist Pathologe!!

»Die Konkurrenz schreibt immer so unprofessionelle Befunde«, kommentierte ich.

Wolff knurrte: »Nächstes Mal lasse ich die Biopsiepräparate direkt an dich schicken!«

»Wie kommst du darauf, dass nächstes Mal nicht schon vorbei ist?«

»Deine Ironie ist destruktiv. Lass uns das Gespräch in eine zielführende Richtung lenken.«

»Sehr wohl, Boss, führe mich, oh Herr, und lenke!«

Erstaunlich, wie gut es sich anfühlte, meinen alten Studienfreund rüde zu behandeln. Wolff straffte die Schultern, zog seinen beschichteten Sixpack-Bauch ein und schaltete die Stimme in den Trostmodus. »Du siehst, dein Tumor ist auf die Prostata beschränkt, das heißt, wir haben zwei Therapieoptionen und eine realistische Chance.«

Wolffs persönliche Empfehlung war eine radikale Operation, bei der Prostata und Lymphknoten entfernt würden; nicht ohne Stolz fügte er hinzu, der neue Da-Vinci-Roboter ermögliche eine besonders schonende Operationstechnik.

Ich konnte kaum folgen und sah mich schon wehrlos und winzig auf den OP-Tisch geschnallt, während das Robotermonster sein Messer an einem vielgliedrigen Stahlarm in computergesteuertem Winkel in meinen Unterleib rammte.

Als Kind entdeckte ich den Dichotomschalter und nutzte ihn, wenn Ängste mich überwältigten, zum Beispiel vor Vaters Strafe. Ich lege den Schalter um und trete heraus aus dem furchtsamen Selbst, betrachte wie durch ein Teleskop, was dem Menschen Starck geschieht. So rückt das Gegenwärtige in weite Distanz, der Schmerz wird betäubt, die Angst vaporisiert. Ich sehe den anderen Starck in perfekter Pseudo-Coolness, wie Sean Penn in Death Sentence – gegenüber dem massigen Uro-Boss, eigentlich ein abgebrühter Macho, heute aber mit Schweißfilm auf der Oberlippe, obwohl für ihn die Verkündung potenzieller Todesurteile zum Alltag gehört, wie für den Pathologen. Nichts Bedrohliches. Selbst der Da-Vinci-Roboter kommt plötzlich daher wie E. T., mit großen, freundlichen Kinderaugen.

Wolffs Erläuterungen rauschten weiter an mir vorbei. Seltener Harninkontinenz, entscheidender Vorteil sei, dass man die OP sofort terminieren könne, wohingegen vor Beginn einer Bestrahlung drei Monate antiandrogene Therapie fällig wären. Mit Nebenwirkungen, beispielsweise Feminisierung der Gestalt und Brustschwellung.

»Super, kann ich so eine Hormontherapie auch vor der Operation machen?«

Wolff sah mich entgeistert an. »Neoadjuvant? Wozu? Das wäre doppelt gemoppelt, und Studien besagen, dass das nichts bringt. Warum solltest du dir also so was antun?«

»Weil ich Zeit brauche – für mein Sabbatical und mein Buch, einige Dinge, die ich schon viel zu lange vor mir her schiebe …«

Bei den letzten Worten geriet ich ins Nuscheln, meine Hände sanken auf die Lehne.

»Du musst dich nicht heute entscheiden«, beruhigte mich Wolff, »denk in Ruhe über alles nach! Hast du noch Fragen zur OP?«

Eine fette Fliege krabbelte über die nackte Brust der androgynen Südseeinsulanerin von Gauguins verlorenem Paradies.

»Kann man nach einer Prostatektomie eigentlich noch eine geschlechtsangleichende Operation durchführen?«, hörte ich mich fragen, biss mir auf die Zunge und schob hinterher: »War nur Scherz.«

Irritiert von meinem Blick, der an ihm vorbeiging, drehte Wolff den Kopf zum Bild, um jetzt selbst das Insekt zu beobachten, wie es die Brustwarze der jungen Frau umrundete, die ihrerseits völlig ungerührt am Insulaner vorbeistarrte. Als die Fliege abhob, schüttelte Wolff den Kopf. »Komische Frage. Ich weiß nicht, ob nach Prostatektomie eine Geschlechtsumwandlung machbar ist, soweit ich weiß, braucht man die Prostata für die Lubrikation.«

»Geschlechtsangleichung«, korrigierte ich reflexhaft.

Wolff trommelte mit Zeige- und Mittelfingern auf der Tischplatte. »Wie auch immer. Sag mal, bist du ein bisschen neben der Spur – oder ist das mal wieder dein bizarrer Humor? Wie kommst du auf den Quatsch?«

»Nur so, ich habe neulich einen Artikel über Prostatakarzinome bei Transgenderfrauen gelesen.«

Wolff verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr und stand auf. »Nicht mein Metier, aber um deine Prostata kümmere ich mich gern. Du weißt, ich bin immer für dich da, ruf mich an, wenn du dich entschieden hast. Kannst ja vorher noch mit dem Strahlentherapeuten sprechen.«

Zum Abschied schüttelten wir uns die Hand, was die Gefühlsschwere des Augenblicks nicht ausreichend löste. Also umarmten wir uns wie schwitzende Boxer, mit gefühlt einem halben Meter Abstand, und klopften uns dabei kräftig auf die Schultern.


Mit beschlagener Brille lief ich durch den peitschenden Regen, setzte mich klatschnass ins Coupé und fuhr im Schritttempo durch den hauptstädtischen Berufsverkehr in Richtung Spreebogen.

Beim Aufschließen der Wohnungstür wappnete ich mich für die Erkenntnis, dass nun nichts mehr so sein würde wie zuvor. Die dazu passende Empfindung stellte sich nicht ein. Im Spiegel war die graue Mähne regensträhnig, ansonsten sah ich mir nichts an. Im Kühlschrank herrschte Ebbe, für Rotwein war es zu früh, für härtere Sachen der Magen zu leer. Ich schälte mich aus den nassen Klamotten und verließ die Wohnung in Lieblingsjeans, Hoodie und Anorak mit dem unbestimmten Wunsch, irgendetwas anderes zu tun als sonst.


Der Regen löcherte die Spree wie ein Schrotgewehr. Die Straße der Erinnerung war fast menschenleer, nur ein einsamer Jogger trabte vorbei an Edith Steins zersplittertem Gesicht, am schwermütigen Blick von Käthe Kollwitz und dem trotzigen Georg Elser. Bei jeder Statue klopfte er, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, zweimal mit den Knöcheln auf den Sockel, Ludwig Erhard ließ er aus.

Mich würde niemand auf einen Sockel stellen, nicht mal in der Erinnerung. Aber einen Grabstein wollte ich auch nicht.

Als der Anorak durchnässt war, brach ich den ziellosen Marsch ab und flüchtete in die nächstbeste Kneipe. Ein Schwall aus Alkohol, altem Bratfett und ungewaschenen Körpern schlug mir entgegen. Die wenigen Gäste, ausschließlich Männer, starrten mit grauen Gesichtern und leerem Blick in halbvolle Biergläser. Das Neon über dem Tresen flackerte grünlich, Helene Fischer dröhnte atemlos durch die Nacht. Ich bestellte ein Pils und zwei Buletten, die auf der Theke unter einer Plastikabdeckung schwitzten, dazu eine Portion Kartoffelsalat, bei dem die Mayonnaise schon Krusten bildete. Trotz der frühen Stunde orderte ich einen Korn dazu, ohne mich an den Fingerabdrücken auf dem Schnapsglas zu stören, mein Befund machte die Sorge um hygienische Belange belanglos.

Nach dem dritten Pils ging ich auf das Unisexklo. Es tröpfelte so zögerlich, als hätte Wolffs Diagnose mir eine Stahlklammer um die Harnröhre geschraubt. Auf dem Rückweg in den Gastraum kam mir die Idee, eine Schachtel Marlboro zu ziehen. Selige Zeiten, als man sechzehnjährig für zwei Mark zwanzig Zigaretten bekam, dachte ich, als der Automat den Nachweis meiner Volljährigkeit verlangte.


Zu Hause fand ich bei den Teelichtern ein Päckchen Streichhölzer und inhalierte den ersten Zug seit zwanzig Jahren mit lustvoller Hingabe. Den Hustenreiz ignorierte ich, auch der Schwindel war nicht unangenehm, wohl aber das Aufstoßen: Bier, Bulette und Marlboro. Die Notration Underberg fiel mir ein, ich fand zwei Viererpackungen von 2-cl-Flaschen in der hintersten Ecke des Hängeschranks. Die bittere Schärfe ätzte sich durch die Speiseröhre und räumte den Magen auf.

 

Ich konnte ich es nicht lassen, klappte den Laptop auf und wurde bei PubMed fündig. Was die Überlebensraten betraf, gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Operation und Strahlentherapie, sehr wohl aber deutliche Differenzen bei Inkontinenz und Impotenz. Zu Ungunsten der Operation. Dann gab ich Gender Affirming Surgery und Prostate Cancer ein, fand aber nur in einem Artikel die lapidare Aussage, Patienten mit vorangegangenen Operationen oder einer Strahlentherapie im Beckenbereich müssten über erhöhte Risiken und Schwierigkeiten bei der operativen Konstruktion einer Neovagina aufgeklärt werden. Und dann noch die Aussage, bei Rauchern sei die Komplikationsrate höher. Ich warf die Zigaretten in den Müll.

Der blinkende Posteingang lenkte mich ab.

Wie war’s bei Wolff, ich warte seit Stunden!! Gruß A.

Alex, die ich vergessen hatte. Ich klickte auf Antworten und tippte:

Liebste Alex, wer, wenn nicht du, sollte die Erste sein für den Hiob? Ich könnte mich in den Hintern beißen, dass ich den Routinecheck gleich am Anfang des Sabbaticals absolviert habe, statt erst mal die freie Zeit zu genießen und das Buch zu schreiben. Will der heilige Sankt Ypsilon mir das jetzt vermasseln, indem er mich dafür bestraft, dass ich ihm die Dankbarkeit fürs Geschlechtschromosom verweigere? Prostatakrebs! Noch nie habe ich mich so verkehrt in meinem Körper, so völlig im falschen Film gefühlt. Auf dem Pathobefund stand Kristian Starck, der musste ja wohl ich sein, aber der war mir fremder als je zuvor. Leider war auch Kristina wie von einer Nebelschwade eingehüllt und ließ sich nicht greifen oder spüren.

Meine Hilflosigkeit habe ich an Wolff ausgelassen, mal wieder mit sarkastischen Sprüchen, und diesmal konnte er nicht einmal zurückschlagen. War wenig übrig von seiner sonst zelebrierten Souveränität. Sein Vorschlag: radikale Prostatektomie. Ob der Künstler entscheidende Nervenstränge schonen kann, stellt sich erst hinterher raus – und das »entscheidend« bezieht sich dabei auf den Erhalt der Potenz. Oder eben deren Verlust … Weiteres Risiko: Inkontinenz. Also Pampers.

Damit ist die OP eigentlich indiskutabel. Dann habe ich Idiot mich noch verquatscht, indem ich ausgerechnet ihn fragte, ob nach einer Prostatektomie noch eine geschlechtsangleichende OP möglich wäre. Bin dann aber sofort eingeknickt und habe vorgegeben, das sei bloß ein Scherz gewesen, was er mir in seiner beschränkten Spießerphantasie auch prompt abgekauft hat. Kristina hat mich einen Feigling geschimpft, aber ich habe es einfach nicht geschafft, sie Wolff vorzustellen, gerade jetzt und zumal er außer dir der Erste wäre … Übrigens: Eine mögliche Nebenwirkung der die Bestrahlung begleitenden antihormonellen Therapie ist eine Schwellung der Brustdrüsen! Titten auf Rezept!

Sorry, Liebste, muss aufhören, hab – wie zu Urzeiten – Bier, Underberg und mehrere Marlboros intus und mir ist ein bisschen schlecht – aber mental schon viel besser, nachdem ich alles bei dir abgeladen habe. Also, alles unter Kontrolle, spar dir bitte jegliches Psycho-Blabla für deine Patienten und verschone mich mit Mitleid, das hole ich mir von der Exgattin. Quasi als Selbstbestrafung dafür, dass ich Depp damals nicht DICH geheiratet habe. Luv, dein Kris

Die Antwort von Alex kam umgehend:

Merde alors!!! Dass sich die Verdachtsdiagnose bestätigt hat, finde ich furchtbar im Wortsinne. Hier geht es nicht um mich, aber da ich dich liebe, musst du mir schon erlauben, mit dir zu leiden, wenn ich mir den Krebs in dir vorstelle. Den Ausdruck Psycho-Blabla lasse ich dir (nur!) heute wegen mildernder Umstände durchgehen, Underberg macht dich seit Studentenzeiten unverschämt. Es hat sicher nichts mit Psycho zu tun, wenn ich wissen will, wie es DIR geht und NICHT, wie brillant du den blöden Wolff und die ganze Situation unter Kontrolle hast – abgesehen von dem kleinen Ausrutscher, ausgerechnet jetzt und ausgerechnet diesen Macho nach einer geschlechtsangleichenden OP zu fragen!?

Dass du dich als halbmilitanter Ex-Raucher mit Zigaretten vergiftest und Schnaps trinkst, ist für den Moment nicht zu beanstanden, ich hoffe, das geht schnell vorbei. Aber wenn du deinen Kater kuriert hast, wirf bitte den Sarkasmuspanzer ab und REDE gefälligst mit mir. Betrachte das als ausdrücklichen Anspruch einer besten Freundin, die du gottseidank nicht geheiratet hast! Ich drück dich. LuvU, deine Alex.

Ich drückte meine Zigarette aus. Spürte die Rinnsale auf den Wangen. Fing an zu summen. Smoke Gets In Your Eyes.


Das Morgenlicht blendete und mein Kopf dröhnte. Gut, dass der Schnaps Hirnmetastasen unwahrscheinlich machte. Der Magen rotierte, und die Zunge fühlte sich an wie mit Nikotinkaugummi an den Gaumen geklebt. Sogar das Zwitschern der Vögel war aufdringlich und die Spatzen tschilpten, als ginge das Leben einfach so weiter. Es half auch nichts, die Augen geschlossen zu halten, um den Augenblick im wattigen Halbschlaf zu verlängern und die Erinnerung hinauszuschieben.

Kein Traum. Wolffs Hiob. Krebs.

Die Blase duldete keinen Aufschub, also quälte ich mich aus dem Bett; das Zähneputzen verstärkte den Brechreiz. Ich stolperte in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein und wieder aus, heute nur Kamillentee. Wenigstens Samstag, keine Termine, und eine Krankmeldung nicht nötig. Sabbatical, das lang ersehnte freie Jahr, endlich Zeit für mein Buch, eine Reise ins Blaue und sonstige Träume. Nun war das Reiseziel vom Veranstalter unangekündigt geändert worden. In Krebsbehandlung. Was aus den anderen Träumen würde, stand in den Sternen. Oder auf Messers Schneide. Wie die stereotypen Assoziationen frisch Diagnostizierter: zerschossen von Strahlenkanonen; kastriert von Hormonbomben. Jetzt war auch ich ein frisch Diagnostizierter.

Heute keine Entscheidungen, funkte mein dröhnendes Hirn, das geht vorbei.


»Jeden anderen hätte ich draußen stehen lassen«, brummte ich, als Alex hereinstürmte, eine Brötchentüte und einen Blumenstrauß auf den Tisch warf und mich heftig umarmte. Ihr Parfum war tröstlich, auch wenn ihre geblähten Nasenflügel mich ahnen ließen, dass ich selbst keinen Wohlgeruch verströmte. Sie wuschelte mir durch die strähnigen Haare. »Petit déjeuner!«

Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Also setzte ich mich still an den Küchentisch, ohne Hilfe anzubieten, und beobachtete schweigend, wie ihre sehnige Gestalt mit den eckigen Schultern geschmeidig und ortskundig durch die Küche wirbelte.

Meine Alex. Die Einzige, die mich mit allen Untiefen kennt und mag – den ängstlichen Kris ebenso wie die verstörte Kristina, die nun dagegen aufbegehrt, dass die Ypsilon-Krankheit ihr die Bedeutung streitig macht. Den Menschen, der sich hinter einer Glaswand aus Sarkasmus verschanzt, sobald es emotional ans Eingemachte geht, der aber weiß, dass Alex seinen Seelenzustand durch diese gläserne Barriere, wie durch eine Lupe, noch deutlicher erkennt. Die ihn festhält, wenn er wehrlos und verletzlich ist, und ihn mit herber Herzlichkeit schützt.

Im Morgenlicht konnte man ihrem Gesicht ansehen, dass sie die Spuren der Jahre nie bekämpft hatte. Ihre Wimperntusche war nicht wasserfest, die offensichtlich lange nicht gezupften Augenbrauen verliehen ihr einen zusätzlichen Hauch androgyner Herbheit, und die furchig vertiefte Zornesfalte über den Augen zeugte davon, dass ihre letzte Botoxinjektion gegen Migräne auch schon einige Zeit zurücklag.

Sie schnitt ein Brötchen auf und reichte mir die obere Hälfte. »Also?«

»Ist das jetzt die psychoprofessionelle Gesprächseröffnung?«

Alex köpfte ihr Ei. »Okay. Dann eben anders. Falls dich meine Meinung interessiert: Du musst dich operieren lassen.«

»Wie kommst du auf diese Expertenempfehlung?«

»Was weg ist, ist weg. Für solche Logik braucht man kein Expertentum.«

Damit hatte sie sich auf mein ureigenes Terrain gewagt. Auch ich köpfte ausnahmsweise mein Ei und hielt ihr das abgeschnittene Oberteil vor die Nase. »Hausfrauen- und Chirurgenlogik! Weg ist nur, was der Wegschneider mit bloßem Auge sieht, also das Makroskopische. Wenn ein Chirurg verkündet, ein Tumor wäre nach der Operation weg, dann ist das bestenfalls nicht gelogen. Die Wahrheit des Wegseins erkennt frühestens der Pathologe, wenn er das, was angeblich weg ist, unter dem Mikroskop sieht. Wenn irgendwo noch Tumorzellen sind, bedeutet das: nix Heilung, sondern Metastasen!«

Eigentlich wäre jetzt einer ihrer sarkastischen Kommentare fällig gewesen, von wegen Pathologensprech. Aber sie senkte nur den Kopf und winkte ab. »Stop, Kris, sprich über das Medizinische mit Leuten, die du ernst nimmst! Aber rede mit mir über das, was dich bewegt …«

Jetzt hatte sie mich da, wo ich nicht zu Hause war. Ich konnte nichts erwidern.

Alex kam um den Tisch und nahm mich in die Arme. Ich hörte ihr Herz hämmern. Jeder Schlag zerbröselte ein Stück meiner Fassade und als der Damm gebrochen war, klammerte ich mich an ihr fest, geschüttelt von Schluchzen, das nicht zu mir zu gehören schien. Sie hielt mich für eine gefühlte Ewigkeit, streichelte meinen Kopf und murmelte Unverständliches. Ihre Bluse wurde nass.

Als ich mich beruhigt hatte, ging sie zurück zu ihrem Stuhl und reichte mir zwei Stück Küchenkrepp.

»Es ist ja nicht nur, dass der Krebs mich möglicherweise impotent oder inkontinent macht, falls er mich nicht gleich ganz umbringt. Viel mehr würfelt mich, dass mein Leben vielleicht vorbeigeht, ohne dass ich es so gelebt habe, wie es vielleicht meins wäre.«

Ich sprang auf, fischte die halb durchweichte Marlboroschachtel aus dem Mülleimer, zündete mir eine an und inhalierte, ohne zu husten. Alex ließ das unkommentiert. Nach einem Moment des Schweigens schaute sie mir in die Augen und sagte leise:

»Alors, mon cher, dann fang doch jetzt damit an. Aber bitte erst mal ohne OP!«

»Schon klar«, murmelte ich. Meine einzige Transvertraute hatte mich immer ermuntert, zu meinem Wunschgender zu stehen, mir von einer totalen, operativen Geschlechtsangleichung aber eher abgeraten. Sie hielt den Penis als Sinnbild des Männlichen für überbewertet, schließlich sei die Essenz einer Person unabhängig davon, ob das Teil dran oder ab wäre – und mein armer Schwanz habe das Skalpell nicht verdient.

»Du kannst leicht reden als Frau«, maulte ich, doch ihr Lächeln steckte mich an und löste den Tränenkloß in meiner Kehle.


Ich wollte nicht abheben, ertrug aber die Schrille nicht. Auf dem Display stand Irmgard.

Ich solle zum Abendessen kommen, es gebe Königsberger Klopse. Die Phase meiner Klopspräferenz war seit zwanzig Jahren vorüber, aber damit wollte ich meine Exfrau nicht kränken. Also Kopfschmerzen. Die Klopse hielten auch bis morgen, meinte sie. Die Dringlichkeit in ihrem Tonfall ließ Alarmglocken schrillen und mich fragen, ob sie am Vortag bei ihrer Freitagsrunde im Fitnessstudio gewesen sei.

»Ja, wieso?«

»War Kimi auch da?«

Nach kurzer Pause kam ein zaghaftes »Ja, schon. Warum?« Wie vertraut war mir dieses Zögern aus all den Situationen unserer Ehe, in denen ich sie ertappt hatte oder sie sich so fühlte. Zum Beispiel auf der Party, als sie im Vollrausch Sex mit Wolff gehabt hatte. In seinem Hobbykeller. Seinerzeit hatten mich alle Kerle um meine Frau mit ihrer 90-60-90-Figur beneidet, und zu diesen Kerlen gehörte auch Wolff, damals noch wampenlos. An uns allen hatte zwischenzeitlich der Zahn der Zeit genagt, den Irmgard aber eisern und nicht ohne Erfolg beim Freitagstraining bekämpfte. Mit Kimi, die eigentlich Kriemhild hieß und Wolffs Frau war.

»So viel zur ärztlichen Schweigepflicht.«

Diesmal war die Pause länger, durch den Lautsprecher drang Schluchzen. Entnervt stellte ich die Freisprechtaste aus.

 

»Okay, Kimi hat es mir erzählt und ich musste versprechen dir nichts zu sagen. Ich dachte, wenn du zum Essen kommst, sagst du es mir und ich kann dich trösten.«

Meine Abwehr schmolz. Ich sagte ihr für den nächsten Abend zu. Und nahm mir vor, Blumen mitzubringen.


Die vertraute Strecke über die Moabiter Brücke erschien fremd, das Tageslicht grell. Selbst die alten Bäume im Englischen Garten, sonst Oase grüner Geborgenheit, wirkten heute nur knorrig. In meinem Kopf lieferten sich Roboter, Linearbeschleuniger und Hormonbehandlung eine unausgewogene Schlacht. Das Joggen, sonst ein zuverlässiges Instrument zur Auflösung von Hirnchaos, versagte als Sortierfunktion. Nach dem ersten Kilometer wurden die Muskeln sauer, das Atmen mühsam und mein Herz pumpte altmännermüde, als nähme es vorweg, wie die Krankheit oder deren Behandlung ihm einmal die Schlagkraft rauben würden. Das geht vorbei. Ich gelobte mir, Marlboro aufzugeben.

Bei der Altonaer Straße warf ich das Handtuch und opferte den Tiergarten der Couch und meiner Lieblingsserie, den Sons of Anarchy, die heute komplett an meiner Aufmerksamkeit vorbei auf ihren fetten Harleys durch die kalifornische Wüste ratterten. Nicht einmal Gemma, die Old Lady, konnte mich inspirieren, obwohl die androgyne Sexbombe in Leder und genagelten Stiefeln, wenig jünger als ich selbst, mich sonst verlässlich beflügelte.

Als ich den Bikern bei ihrem Ritt in die untergehende Sonne nachsah, kam mit dem Fernweh die Idee: die Hormontherapie vorzuziehen, mich erst dann für Bestrahlung oder Operation zu entscheiden und damit drei Monate Aufschub zu gewinnen. Drei Monate Zeitgewinn für eine Reise, ohne dabei etwas zu versäumen.

Ridin’ through this world vor mich hin summend, warf ich den Trainingsanzug in die Wäsche, suchte den blassblauen Kaschmirpullover heraus, den Irmgard mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und bändigte die Haare mit einem Spritzer Styling-Gel. Die Spuren der schlafarmen Nacht, die sich in schwarzen Runzelringen um meine Augen eingegraben hatten, ließ ich unter einem Hauch Concealer verschwinden. Kurz war ich versucht, Alex’ Blumenstrauß für meine Exfrau zu zweckentfremden, entschied mich dann aber für den Umweg zum Floristen im Hauptbahnhof.


Irmgards Hosenanzug spannte über Bauch und Hüften, sie roch nach Chanel No. 5 und Pastis. Ihre Umarmung war ungewohnt umschlingend und ihre Augen schimmerten verdächtig, als sie mir die Blumen abnahm. »Alles wird gut, ich bin für dich da.«

War das die Chance? Wann, wenn nicht jetzt, wo nichts mehr ist wie immer? Vielleicht der Moment der Wahrheit? Noch bevor ich zu Ende denken konnte, wirbelte Micky mir entgegen. Wie ein Gummiball sprang sie an mir hoch, schlang mir die braunen Arme um den Hals und die verschrammten Beinchen um die Taille.

»Lass das, du sollst Opa nicht so anstrengen«, schallte die Stimme ihrer Mutter aus dem Hintergrund.

»Opa sieht total gesund aus und gar nicht wie bald tot«, brüllte Micky zurück und strahlte mich aus ihren malzbonbonfarbenen Augen an. Behutsam setzte ich meine Enkelin ab.

Umkehren wäre noch möglich, dachte ich, als ich in die betretenen Gesichter meiner Exfrau und der beiden Töchter blickte. Für ein Klopsdinner als Familienzusammenkunft war ich nicht gewappnet, auch nicht, meinen ewig streitenden Töchtern Rede und Antwort zu stehen. Aber gegen Mickys Strahlen war ich machtlos.

Bevor Maren diplomatisch ausführen konnte, dass Micky da etwas falsch verstanden habe, fiel Carla ihr ins Wort. »Grandios einfühlsam, vor einer Sechsjährigen über Papas Krebs und den Tod zu sprechen!«

Sehnsüchtig sah ich zur Tür.

»Jetzt trinken wir erst mal alle einen schönen Pastis«, ordnete Irmgard an.

Ich ergab mich, nahm den Pastis entgegen, den ich seit Jahren so wenig mochte wie Klopse und umarmte meine Töchter.

Maren hatte neben den ebenmäßigen Gesichtszügen die Figur ihrer Mutter geerbt, allerdings glich sich auch bei ihr die Taille allmählich dem zunehmenden Hüftumfang an, was jedoch nichts an ihrer Vorliebe für hautenge Kleidung änderte, die nicht zum typischen Erscheinungsbild einer Lehrerin passte. Ihre Hose spannte über den Oberschenkeln.

In der anderen Sofaecke hatte Carla die Füße auf den Couchtisch gelegt, eine Angewohnheit, die ihre Mutter verabscheute. Der asymmetrische Kurzhaarschnitt ließ ihre grünen Augen noch größer erscheinen. Sie trug eine hautenge schwarze Lederleggins, die ihre Beine eher mager als schlank aussehen ließ, und darüber ein schlabbriges quietschbuntes Desigual-Shirt, das ihre Zierlichkeit verbarg. Bei ihr passte die äußere Erscheinung gut zum Nicht-Beruf einer dreizehnsemestrigen MediendesignStudentin.

Ich setzte mich zwischen meine Töchter, die mir und damit auch einander etwas näher rückten. Einmal mehr staunte ich über das Spektrum der Genetik bei gleichem Erbgut. Dazu passte das gerahmte Foto an der Wand, auf dem der Außenstehende kaum die Mutter dieser beiden jungen Frauen erkannt hätte. Auf dem Gruppenbild der Pankower Freiheit lächelte Irmi als Lead-Sängerin der Pop-Band in einem hautengen Paillettenkleid mit korallenrot gelackten Lippen in die Kamera, cool wie Madonna.

Wir schwiegen, bis die Klopse uns erlösten.

Irmgards Regel, kritische Themen am Esstisch strikt zu meiden, galt für alle außer Micky. Der große Bruder einer Klassenkameradin habe zu ihr gesagt, sie sehe aus wie Blutwurst und ihre Zähne wie die weißen Fettstücke. Auf die Frage, was sie geantwortet habe, grinste sie breit. »Und du siehst aus wie vergammelter Magerquark.«

»Da kennt sich Micky ja aus«, stichelte Carla in Richtung ihrer älteren Schwester, deren Kampf um die verlorene Schlankheit sie zu gelegentlichem Kauf größerer Mengen Magerquark verleitete, der dann regelmäßig im Kühlschrank verschimmelte.

Mit einem strengen Blick unterband Irmgard die Ausweitung des Schwesternzwists, schickte Micky zum Schaukeln in den Garten und forderte mich auf, alles über diese schreckliche Sache zu erzählen.

Ergeben berichtete ich, was ich von Wolff erfahren hatte. Erwartungsgemäß riet mir auch Irmgard zur Operation. Ich wollte nicht erklären, warum die Prostatektomie nicht wirklich in Frage kam und schob die Angst vor Inkontinenz vor, die als potenzielle Folge einer Operation drohte. Ein Argument, das meine Hausärztin natürlich nicht gelten ließ.

Maren bot mir ihre Hilfe an, falls ich in meiner Lebenskrise einen Weg zurück zum Glauben suchen wolle. Die liebevolle Zaghaftigkeit ihres Antrages hielt mich von einer flapsigen Antwort ab. Sie kannte meinen Standpunkt und wusste, dass es mir nicht möglich war, eine übergeordnete Instanz anzuerkennen. Dabei wäre ein bisschen Feigheit vor dem Feind in der aktuellen Situation sicher hilfreich gewesen. Nun, da der Feind sich konkret in mein Leben drängte, hätte mir der Glaube eine Flucht vor der Auseinandersetzung mit der Endgültigkeit des Todes ermöglicht und mich zumindest teilweise von der Verantwortung für das eigene Leben entbunden. Leider war der Apfel der Erkenntnis, einmal geschluckt, nicht mehr auszuspucken. Dennoch verstand ich es als liebevolles Angebot, dass Maren, mit der ich mich oft genug über Religion gestritten hatte, mir gerade jetzt dieses Thema nahebringen wollte. Sie meinte, eine Krise wie die Krebsdiagnose könne ich ganz ohne Glauben nicht bewältigen.

»Ist ja nicht so, dass ich an gar nichts glaube«, versuchte ich zu trösten. »Ich glaube an die Liebe – und damit kann man auch ganz viel aushalten.«

Maren blickte zu Boden, holte Luft, um dann doch nichts zu sagen. Carla massierte mit dem rechten Daumen ihre linke Handfläche. Irmgard schenkte uns nach und erkundigte sich nach meinen weiteren Plänen.

Als ich von meiner Reiseidee berichtete, verkündete Carla, sie gehe auf die Terrasse, um zu rauchen. Der Kampf gegen mich selbst war kurz.

»Ich komm mit, spendierst du mir eine?«

Irmgard, die seinerzeit die Torturen des Entzugs mit mir geteilt hatte, protestierte heftig. Ich murmelte etwas von ausnahmsweise und flüchtete.


Die Luft war mild und die Zweisamkeit mit meiner Kleinen wie nach Hause kommen. Auch Carla war nicht geplant gewesen, entstanden in einer Phase, als das Fremdsein in der Ehe schon deutlich und Sex zur einzig störungsarmen Kommunikationsform geworden war. Wegen Maren hatte ich geheiratet, geblieben war ich wegen Carla. Ich sah sie noch vor mir, wie ich sie, zwei Monate zu früh in die Welt geworfen, zum ersten Mal in den plötzlich riesigen Händen hielt, sie mich mit geballten Fäustchen anbrüllte und mir dabei direkt in die Augen sah. Die Liebe auf den ersten Blick war unverwüstlich geblieben.

Carla drehte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und wippte mit dem rechten Fuß.

»Mach dir nicht so viel Sorgen«, setzte ich an.

Ohne mich anzusehen, blickte sie angestrengt auf ihre wechselweise blau und grünmetallisch lackierten Fußnägel. Dann hob sie ruckartig den Kopf. »Bitte, Papa, ich muss dich das jetzt fragen – machst du diese Reise, um dich umzubringen?«