Anne in Ingleside

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Lucy Maud Montgomery
Anne in Ingleside


Kapitel 1

Wie hell der Mond heute abend scheint, dachte Anne Blythe, während sie durch den Garten zu Diana Wrights Haus hinaufmarschierte. Der salzige Wind wehte kleine Kirschblütenblätter von den Bäumen.

Sie blieb einen Augenblick stehen und ließ ihren Blick über die Hügel und Wälder gleiten, die ihr Zuhause gewesen waren und an denen sie heute noch genauso hing wie damals. Ihr geliebtes Avonlea! Seit Jahren lebte sie nun schon in Glen St. Mary, aber Avonlea hatte etwas, was Glen St. Mary niemals haben würde. An jeder Ecke begegnete ihr etwas Vertrautes. Sogar die Felder, die sie früher durchstreift hatte, hießen sie willkommen. Sie fühlte sich zurückversetzt in die glücklichen Jahre ihrer Kindheit; wo sie auch hinschaute, mit allem verband sie eine liebe Erinnerung, und in so manchem geheimen Garten blüten die Rosen immer noch genauso wunderbar wie damals. Anne kam immer wieder gern in ihre alte Heimat, auch wenn es wie diesmal einen traurigen Anlaß für ihren Besuch gab. Eine Woche war sie nun schon hier, aber Marilla und Mrs. Lynde wollten sie einfach nicht so schnell wieder abfahren lassen. Ihr altes Dachzimmer stand jederzeit für sie offen, und als sie jetzt dort eintrat, hatte sie das Gefühl, von ihm regelrecht empfangen zu werden. Ihr Blick fiel auf ihr geliebtes altes Bett mit Mrs. Lyndes selbstgestrickter Apfelblätterdecke und den tadellosen Kissen mit den selbstgehäkelten Spitzen, auf Manilas selbstgeflochtene Läufer, auf den Spiegel, aus dem ihr damals, vor langer, langer Zeit, das Gesicht des kleinen Waisenkindes entgegengeblickt hatte, das damals in seiner ersten Nacht auf Green Gables so unglücklich gewesen war. Anne vergaß für einen Augenblick, daß sie mittlerweile glückliche Mutter von fünf Kindern war – jetzt war sie wieder die Anne von Green Gables. Als Mrs. Lynde eintrat, um frische Handtücher zu bringen, schaute Anne immer noch verträumt in den Spiegel.

„Es ist so schön, daß du wieder zu Hause bist, Anne“, sagte Mrs. Lynde freundlich. „Neun Jahre ist es jetzt schon her, seit du weggezogen bist, aber Marilla und ich vermissen dich immer noch. Obwohl es nicht mehr ganz so einsam ist hier, seit Davy geheiratet hat. Millie ist so ein reizendes Ding! Aber es ist einfach nicht dasselbe, niemand ist so wie du!“ Sie legte den Stapel Wäsche neben den Waschtisch.

„Schon, aber der Spiegel hier kann mir nichts vormachen, Mrs. Lynde. Er sagt mir klar und deutlich: Du bist nicht mehr so jung wie früher“, sagte Anne wehmütig.

„Aber du hast dich gut gehalten“, gab Mrs. Lynde tröstend zurück. „Obwohl du nie besonders viel Farbe im Gesicht hattest.“

„Na ja, Hauptsache, es ist noch kein Doppelkinn in Sicht“, freute sich Anne, „und Hauptsache, mein altes Zimmer erkennt mich wieder. Es wäre schrecklich für mich, wenn ich eines Tages feststellen müßte, daß es mich vergessen hat. Und es ist so wunderbar, den Mond über dem Geisterwald aufgehen zu sehen, so wie früher.“ Sie lehnte sich aus dem Fenster.

„Ja, er sieht aus wie eine riesengroße Goldkugel“, stimmte Mrs. Lynde zu und hatte das ungute Gefühl, daß Anne mal wieder einen ihrer poetischen Anflüge bekam.

„Sehen Sie doch bloß, wie scharf sich die Tannenspitzen gegen den Mond abzeichnen… und die Birken im Tal, wie sie ihre Arme emporheben. Wie groß sie geworden sind! Sie waren noch ganz winzig damals, als ich hierherkam.“

„Ja, Bäume sind wie Kinder“, seufzte Mrs. Lynde. „Furchtbar, wie schnell die wachsen, sobald man sie aus den Augen läßt. Sieh dir bloß diesen Fred Wright an. Er ist mit seinen dreizehn Jahren fast schon so groß wie sein Vater. Übrigens gibt’s zum Essen warme Hühnchenpastete, und ich hab extra für dich Zitronenplätzchen gebacken. Und dein Bettzeug ist sogar doppelt und dreifach gelüftet! Erst hab ich es nämlich rausgehängt, dann Marilla, weil sie nicht wußte, daß ich es schon gemacht hatte, und schließlich Millie, die dachte, es hätte noch keiner getan.“ Mrs. Lynde schmunzelte. „Ich hoffe, Mary Maria Blythe kann morgen auf die Beerdigung gehen, wo sie doch so dafür schwärmt“, setzte sie nach einer Weile hinzu.

„Tante Mary Maria – so nennt Gilbert sie immer, obwohl sie bloß die Kusine seines Vaters ist; mich nennt sie Annie“, bemerkte Anne schaudernd. „Und das erste, was sie nach meiner Hochzeit zu mir sagte, war: ‚Komisch, daß Gilbert ausgerechnet dich genommen hat, wo er so viele nette Mädchen hätte haben können.‘ Puh! Vielleicht hab ich sie aus diesem Grund nie leiden können; und ich weiß, daß Gilbert sie genausowenig mag, nur gibt er es nicht zu, weil sie mit ihm verwandt ist.“ Sie zog die Stirn kraus.

„Bleibt Gilbert auch noch eine Weile?“ fragte Mrs. Lynde.

„Nein, er fährt morgen schon zurück. Er muß nach einem Patienten sehen, dem es sehr schlechtgeht.“

„Na ja, wahrscheinlich hält ihn auch nicht viel in Avonlea, seit seine Mutter letztes Jahr gestorben ist. Und der alte Mr. Blythe wollte wohl mit seinem Tod auch nicht länger warten. Wofür hätte er auch noch leben sollen. Das ist typisch für die Blythes, sie hängen sich viel zu sehr an irdische Dinge“, überlegte Mrs. Lynde. „Es ist schon traurig, daß es jetzt in Avonlea keinen mehr von ihrer Sippe gibt; die waren schon in Ordnung. Dafür gibt’s noch jede Menge Sloanes. Die Sloanes sind immer noch die alten, Anne, und werden es wohl auch bleiben, bis in alle Ewigkeit, Amen.“ Sie ging zur Tür.

„Mir ist es ziemlich egal, wie viele Sloanes es noch gibt“, lachte Anne. „Ich werde jedenfalls nach dem Essen mit Diana einen Mondspaziergang durch den alten Obstgarten unternehmen und dann schlafen. Ich will morgen ganz früh wach sein und die Morgendämmerung über dem Geisterwald genießen – wenn der Himmel sich rötlich färbt und die Rotkehlchen singen.“

„Aber die Kaninchen haben dieses Jahr die ganzen Lilien aufgefressen“, bemerkte Mrs. Lynde, während sie langsam die Treppe hinunterstieg und insgeheim den Kopf über Annes romantische Ader schüttelte. Anne war in der Beziehung immer schon sonderbar gewesen, und die Hoffnung, daß sich das jemals ändern würde, konnte man wohl begraben.

Diana kam Anne schon auf dem Weg entgegen. Selbst im Mondschein konnte Anne erkennen, daß ihr Haar immer noch schwarz war und ihre Augen immer noch so strahlten wie früher. Es war allerdings auch nicht zu übersehen, daß sie zugenommen hatte, aber schließlich hatte sie noch nie als besonders mager gegolten. Beide begrüßten sich herzlich.

„Keine Sorge, Diana, ich will nicht lange…“, begann Anne.

„Nein, nein, das ist es nicht“, fiel Diana Anne ins Wort. „Du weißt genau, daß ich den Abend viel lieber mit dir verbringen würde, als zu diesem Empfang zu gehen. Ich hab dich bisher ja kaum gesehen, und übermorgen fährst du schon wieder ab. Aber Freds Bruder, weißt du … wir müssen einfach hin.“

„Ja, ich weiß“, winkte Anne ab. „Ich komme ja auch nur auf einen Sprung vorbei. Ich hab unseren alten Weg genommen: durch den Geisterwald, an deinem alten, schattigen Garten entlang und weiter zum Nymphenteich. Da bin ich stehengeblieben und hab mir das Spiegelbild der Weiden verkehrt herum angesehen, genau wie früher. Wie die gewachsen sind inzwischen!“ Sie setzten sich auf eine Böschung am Wegesrand.

„Ja, so wie alles andere“, seufzte Diana. „Ich brauche mir bloß den kleinen Fred anzusehen. Wir alle haben uns verändert, nur du nicht. Du änderst dich nie, Anne. Wie stellst du es bloß an, daß du so schlank bleibst? Schau mich an!“ Ärgerlich deutete sie auf ihren Bauch, und beide mußten lachen.

„Na ja, ein bißchen mütterlich siehst du schon aus“, gab Anne scherzhaft zu. „Aber so dick wie die meisten anderen in unserem Alter bist du doch auch nicht. Und was mich angeht, da sind die Leute auch geteilter Meinung. Auf der Beerdigung sagte Mrs. Donnell zu mir, ich sähe nicht einen Tag älter aus als früher. Dagegen meinte Mrs. Andrews: ‚Du lieber Himmel, Anne, du hast aber nachgelassen!‘ Es ist eben Ansichtssache. Mir fällt erst dann auf, daß ich älter werde, wenn ich die Fotos in den Zeitschriften vor mir sehe. Aber komm, ist doch egal, Diana, morgen sind wir beide einfach wieder junge Mädchen. Ich wollte dir nämlich vorschlagen, daß wir uns morgen nachmittag absetzen und wieder einmal alle unsere alten Verstecke aufsuchen. Wir könnten zum Beispiel über die Felder und durch die alten Farnwälder gehen. Im Frühling ist nichts unmöglich, weißt du. Wir werden einfach eine Zeitlang vergessen, daß wir Mütter sind und Verantwortung tragen und das alles, und statt dessen quietschfidel und ausgelassen sein. Es macht einfach keinen Spaß, immer nur vernünftig zu sein!“ Sie stieß ihre alte Freundin aufmunternd in die Seite.

„Also, du bist wirklich ganz die alte, Anne!“ kicherte die, „Und ich würde riesig gern mitmachen. Aber…“, sie zögerte.

„Kein Aber“, befahl Anne. „Ich weiß schon, was du denkst: ‚Wer soll dann den Männern das Essen kochen‘ – das zählt nicht!“

„Na ja, so ungefähr. Aber eigentlich kann ja auch Anne-Cordelia das Essen machen. Sie kann mit ihren elf Jahren schon genauso gut kochen wie ich“, sagte Diana stolz. „Und sie sollte morgen sowieso einspringen, weil ich auf die Frauenversammlung gehen wollte. Also abgemacht, ich komme mit dir. Das wird traumhaft! Das Essen können wir morgen ja mitnehmen…“

„Ja, laß uns in Hester Grays Garten picknicken – falls es den noch gibt“, schlug Anne begeistert vor.

„Ich denke schon“ überlegte Diana. „Obwohl ich seit meiner Heirat nicht mehr dort gewesen bin. Anne-Cordelia macht zwar oft lange Spaziergänge, aber ich ermahne sie immer, in der Nähe zu bleiben. Einmal habe ich sie im Garten erwischt, wie sie Selbstgespräche führte. Als ich sie darauf ansprach, behauptete sie, sie unterhielte sich mit den Blumen. Erinnerst du dich an das Puppengeschirr mit den Röschen, das du ihr zum neunten Geburtstag geschickt hast? Es ist noch ganz heil, sie geht besonders vorsichtig damit um. Und sie benützt es nur, wenn die ‚Drei Grünen‘ zu ihr zum Tee kommen. Wer das sein soll, will sie mir absolut nicht verraten. Anne, ich finde wirklich, daß sie dir in mancher Hinsicht ähnlicher ist als mir.“

 

„Vielleicht haben Namen doch mehr zu sagen, als man denkt“, meinte Anne. „Aber du solltest ihr die Phantasievorstellungen lassen, Diana. Mir tun Kinder immer leid, die nie spielen dürfen, wie sie wollen.“ Sie riß einen Grashalm aus und begann, traumverloren darauf herumzukauen.

„Olivia Sloane ist da ganz anderer Meinung“, sagte Diana ernst. „Sie ist zur Zeit Lehrerin an unserer Schule, weißt du. Und sie sagt, Kinder sollten mehr mit der Realität vertraut gemacht werden.“ Man sah Diana an, daß sie an dieser Erziehungsmethode zweifelte.

„Du wirst doch nicht im Ernst auf das hören, was eine Sloane behauptet, liebste Diana?“ fragte Anne auch gleich erstaunt.

„Nein… nein!“ wehrte ihre Freundin ab. „Ich kann sie überhaupt nicht leiden. Die mit ihren blauen Kugelaugen, genau wie der ganze Clan. Und ich mache mir auch keine ernsthaften Gedanken über Anne-Cordelias Hirngespinste. Sie sind ganz nett, genauso wie deine früher. Die Realität wird sie noch früh genug kennenlernen.“

„Also, dann ist ja alles in Ordnung“, lachte Anne und stand auf. „Komm so gegen zwei zu uns rüber, dann werden wir uns erst mal Manilas selbstgebrauten Johannisbeerwein zu Gemüte führen.“

„Weißt du noch, wie du mich mal damit betrunken gemacht hast?“ kicherte Diana und klopfte ihr Kleid ab.

„Ja. Wir werden so richtig in Erinnerungen schwelgen morgen. So, aber jetzt halte ich dich nicht länger auf, da kommt auch Fred gerade angefahren.“ Anne deutete auf die Straße.

„Gut, wir sehen uns dann morgen, Anne.“ Diana küßte sie rasch und lief auf ihren Mann zu.

Auf dem Rückweg zum Haus blieb Anne an ‚Dryads Blubberbach‘ stehen. Sie liebte diesen Bach über alles. Sein Glucksen war wie das helle Kinderlachen von früher. All ihre Kinderträume… sie konnte sie in dem klaren, gurgelnden Wasser wieder genau vor sich sehen… der Bach kannte all ihre Geheimnisse. Und im Geisterwald lauschten wie vor Jahren schon die weisen alten Fichten.

Kapitel 2

„Was für ein herrlicher Tag, wie für uns geschaffen“, sagte Diana am nächsten Nachmittag, als sie Anne abholte.

„Ja, heute wollen wir Freundinnen sein wie früher, auch wenn wir uns morgen schon wieder trennen müssen“, rief Anne. „Sieh mal, das grüngoldene Licht auf den Hügeln und den blauen Dunst in den Tälern! Alles ist heute nur für uns da, Diana. Und bei Westwind bin ich immer besonders abenteuerlustig. Das wird ein aufregender Streifzug!“

Und sie sollte recht behalten. Anne und Diana suchten all ihre alten Lieblingsplätze auf: die Liebeslaube, den Geisterwald, das Veilchental, den Birkenpfad und den Nymphenteich. Manches hatte sich verändert. Aus den Birkenschößlingen waren hohe Bäume geworden; der Birkenpfad war mit Farn überwuchert, und der Nymphenteich war versiegt und hatte nur eine feuchte, moosbewachsene Mulde hinterlassen. Das Veilchental dagegen war immer noch mit violetten Veilchen übersät, und der Apfelbaumkeimling, den Gilbert einmal weit draußen mitten im Gehölz gefunden hatte, war zu einem riesigen Baum mit winzigen Blütenknospen herangewachsen. Aber alles erinnerte sie an ihre Kindheit. Annes Haar schimmerte in der Sonne immer noch genauso mahagonifarben und Dianas genauso pechschwarz wie früher. Ihre Freundschaft war immer noch so fest und eng wie damals. Hin und wieder gingen sie einfach schweigend nebeneinander her, denn bei so guten Freundinnen waren Worte nicht immer nötig. Wenn sie aber sprachen, schwelgten sie in Erinnerungen: „Weißt du noch, wie wir uns über Tante Josephine lustig gemacht haben?“ „Weißt du noch, wie wir uns mit Kerzenlicht im Fenster gegenseitig verständigt haben?“ „Weißt du noch, was für einen Spaß wir auf Miss Lavendars Hochzeit hatten, und kannst du dich noch an Charlottas blaugeränderte Brille erinnern?“ Ihr Lachen von damals, es war ihnen so nah, daß sie es fast hören konnten.

„Ich komme mir vor wie fünfzehn“, kicherte Anne mittendrin. „Es ist alles so hell, und ich fühle mich so leicht, als könnte ich fliegen.“

„Mir geht es ganz genauso“, sagte Diana und vergaß, daß die Waage am Morgen noch hundertfünfundfünfzig Pfund angezeigt hatte. Aufatmend blieben sie auf einer kleinen Lichtung stehen.

Alles um sie herum war wunderschön. Die Frühlingssonne sandte ihre Strahlen durch die jungen grünen Blätter, und von allen Seiten ertönte fröhliches Vogelgezwitscher. Es gab so viel zu entdecken: Einen kleinen Weg, der von wilden Kirschblüten verhangen war; ein brachliegendes Feld, das übersät war mit winzigen Fichtentrieben, die wie kleine Kobolde aus dem Gras hervorspitzten; lustig gurgelnde Bäche, Siebenstern, der versteckt unter den Tannen wuchs. Und schließlich fanden sie tatsächlich Hester Grays Garten. Er hatte sich nicht sehr verändert und stand wie früher voller Narzissen. Nur die Kirschbäume waren älter geworden, standen aber immer noch in dichter weißer Blüte. Sie suchten sich ein paar moosbewachsene Steine aus, auf denen sie ihren Picknickkorb ausbreiteten. Anne und Diana waren nach ihrem langen Marsch hungrig und langten tüchtig zu.

„An der frischen Luft schmeckt alles gleich noch mal so gut“, seufzte Diana beglückt. „Dein Schokoladenkuchen, Anne – einfach unschlagbar. Du mußt mir unbedingt das Rezept geben. Fred wird begeistert sein. Der kann essen, was er will, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Und ich schwöre mir immer, keinen Kuchen mehr anzurühren, weil ich von Jahr zu Jahr dicker werde. Mir graut davor, so zu werden wie Großtante Sarah. Die war schließlich so fett, daß sie nicht mehr ohne Hilfe aus dem Sessel aufstehen konnte. Aber wenn ich dann einen Kuchen wie diesen hier vor mir stehen sehe oder den gestern abend auf dem Empfang… also, es wäre ja eine Beleidigung, wenn ich da nicht zugreifen würde.“ Sie biß ein großes Stück Kuchen ab.

„Hat es dir gefallen gestern?“ fragte Anne.

„Ja, einerseits schon. Bis ich Freds Kusine Henrietta in die Klauen geriet. Für die gibt es nichts Schöneres, als sich über ihre Operationen und über die neuesten Sensationen auszulassen. Aber Jim war lustig – na gut, ein winziges Stück noch —, er erzählte zum Beispiel, ihn hätte in der Nacht vor seiner Hochzeit eine solche Panik ergriffen, daß er am liebsten abgehauen wäre. Er meint, das ginge allen zukünftigen Ehemännern so, nur daß sie es nicht zugeben. Aber bei Gilbert und Fred war das doch sicher nicht so, was meinst du?“

„Nein, sicher nicht.“ Anne wischte die Krümel von ihrem Schoß.

„Ich hab Fred gefragt“, gab Diana zu, „und er sagte, er hätte bloß befürchtet, ich könnte im letzten Moment noch nein sagen, so wie Rose Spencer. Aber man weiß nie, was im Kopf eines Mannes so vor sich geht. Also, das war wirklich ein herrlicher Nachmittag heute! Schade, daß du morgen schon abfahren mußt, Anne.“

„Hast du nicht Lust, mich diesen Sommer mal in Ingleside zu besuchen, Diana? Vorher – also, ich glaube, vorher wird mir nicht nach Besuch zumute sein.“ Anne zog die Stirn kraus.

„Doch, ich würde furchtbar gerne kommen. Aber im Sommer kann ich wohl kaum von zu Hause weg, da gibt es immer so viel zu tun.“

„Rebecca Dew kommt auch endlich mal, darüber freue ich mich sehr“, erzählte Anne. „Von Tante Mary Marias angekündigtem Besuch bin ich dafür um so weniger begeistert. Aber da sie Gilberts Verwandte ist, muß er ihr wohl oder übel die Tür offenhalten.“

„Vielleicht komme ich im Winter“, meinte Diana. „Ich würde Ingleside gerne wiedersehen. Du hast wirklich ein hübsches Haus, Anne, und so eine nette Familie.“

„Ja, Ingleside ist wirklich schön, jetzt gefällt es mir auch“, stimmte Anne zu. „Am Anfang dachte ich, ich könnte mich nie an dieses Haus gewöhnen. Ich haßte es richtig, als ich es zum erstenmal sah. Ich haßte es damals wegen seiner Vorzüge gegenüber meinem geliebten Traumhaus, es war wie eine Beleidigung. Ich weiß noch, wie ich zu Gilbert sagte: ‚Wir sind in unserem Traumhaus so glücklich gewesen. Woanders werden wir nie so glücklich sein.‘ Und dann kämpfte ich eine Zeitlang mit dem Heimweh. Bis ich bemerkte, daß ich anfing, Ingleside zu mögen. Es gefiel mir mit jedem Jahr besser. Heute liebe ich jedes Zimmer, jedes hat seine Nachteile, aber auch seine Vorzüge – etwas, was es von all den andern unterscheidet und ihm Persönlichkeit verleiht. Und ich liebe diese wunderbaren Bäume vor dem Haus. Ich weiß nicht, wer sie gepflanzt hat, aber immer, wenn ich nach oben gehe, bleibe ich am Treppenabsatz stehen … du weißt schon, an dem komischen Fenster mit dem tiefen Sessel davor; dann setze ich mich hin und schaue einen Augenblick hinaus. Eigentlich stehen viel zu viele Bäume im Garten, aber ich könnte mich von keinem einzigen trennen.“

„Genau wie Fred“, stimmte Diana zu. „Die große Weide vor dem Haus ist sein ein und alles, obwohl ich ihm schon so oft gesagt habe, daß sie die ganze Sicht aus dem Wohnzimmerfenster nimmt. Aber die Weide bleibt, wo sie ist. Schön ist sie ja, und nach ihr haben wir schließlich unser Haus ‚Weidenhof‘ getauft. ‚Ingleside‘ gefällt mir auch. Es klingt so gemütlich, so richtig nach Kaminfeuer“

„Ja, das findet Gilbert auch. Wir haben ganz schön lange gebraucht, um einen geeigneten Namen zu finden. Ich bin froh, daß wir so ein hübsches, geräumiges Haus haben, denn jetzt brauchen wir den Platz wirklich. Die Kinder fühlen sich auch wohl darin, obwohl sie noch so klein sind.“

„Deine Kinder sind wirklich süß“, bemerkte Diana und schnitt sich heimlich noch ein Eckchen von dem Schokoladenkuchen ab. „Meine sind natürlich auch nett, aber deine haben irgendwie was ganz Besonderes, und deine Zwillinge erst! Ich hätte gern Zwillinge gehabt.“

Anne lachte. „Komisch, daß sich meine Zwillinge kein bißchen ähnlich sehen. Dabei sieht Nan so hübsch aus mit ihrem braunen Haar, ihren braunen Augen und ihrer zarten Haut. Di ist der Liebling ihres Vaters, weil sie grüne Augen und rotes Haar hat, noch dazu mit einem Wirbel. Shirley dagegen ist Susans Augapfel. Nach seiner Geburt war ich lange Zeit krank, so daß sie sich die meiste Zeit um ihn kümmern mußte. Mit dem Erfolg, daß sie ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt. Sie verwöhnt ihn fürchterlich.“ Anne goß sich noch einen Becher Kaffee ein.

„Und er ist noch so klein, daß er sich vor dem Schlafen von dir zudecken läßt“, sagte Diana neidisch. „Jack ist jetzt neun und will davon nichts mehr wissen. Er sagt, aus dem Alter wäre er raus. Dabei hab ich das immer so gerne gemacht! Ach, ich finde, Kinder wachsen viel zu schnell!“ Sie seufzte.

Anne nahm Dianas Hand, und so saßen sie eine Weile glücklich beieinander, ohne etwas zu sagen. Allmählich legten sich die langen, stillen Schatten des Abends auf das Gras, die Sonne ging unter. und die Dämmerung breitete sich über Hester Grays Garten aus. Das Zwitschern der Rotkehlchen klang wie Flötenspiel. Über den blütenweißen Kirschbäumen tauchte plötzlich ein Stern auf.

„Der erste Stern ist immer wie ein Wunder“, sagte Anne.

„Ich könnte ewig so sitzen“, entgegnete Diana. „Ich mag gar nicht von hier weggehen.“

„Mir geht es genauso, aber schließlich haben wir nur so getan, als wären wir noch mal fünfzehn“, meinte Anne energisch und raffte sich auf. „Wir dürfen nicht vergessen, daß wir eine Familie haben. Wie himmlisch der Flieder duftet! Ist dir schon mal aufgefallen, Diana, daß der Duft des Flieders etwas Betörendes hat? Gilbert lacht darüber, wenn ich das sage.“

„Ich finde, er riecht zu stark für die Wohnung“, bemerkte Diana. Sie hob gerade den Teller mit den Resten des Schokoladenkuchens auf, warf einen sehnsüchtigen Blick darauf, schüttelte den Kopf und verstaute ihn dann mit tugendhafter Miene im Picknickkorb.

Anne reckte sich und gähnte.

„Stell dir mal vor, Diana, wie das wohl wäre, wenn wir auf dem Rückweg plötzlich unserem Ebenbild begegnen würden, so, wie wir früher waren?“ meinte sie dann.

Diana schauderte bei dem Gedanken.

„Ich glaube nicht, daß ich das lustig fände, Anne. Ich hab nämlich gar nicht bemerkt, wie dunkel es schon ist. Solange es hell ist, bin ich bereit, mir alles Mögliche vorzustellen, aber im Dunkeln…“

Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, während am Horizont der glühende Schein des Sonnenuntergangs langsam hinter den Hügeln verschwand.