Loe raamatut: «Trauer und Licht»
MAIKE ALBATH
Trauer und Licht
Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens
ANKUNFT
IM BALLSAAL
Angelica betritt das Parkett
DER GLANZ VON PALERMO
Im Palast des Leoparden
FAMILIENROMAN
Der Neffe der Fürstin
JUNGE DICHTER IM THERMALBAD
DER MÜSSIGGÄNGER AUF ABWEGEN
DER LEOPARD
Wer hat in Sizilien die Macht?
IRRLÄUFE EINES MANUSKRIPTS
Der Fürst tritt ab
VISCONTI UND DIE OPULENZ
ELEFANTEN IN CATANIA
Die Wahrheitssucher
MÜTTER UND SÖHNE
Der sizilianische Mann
IM MUTTERBAUCH
Vitaliano Brancati
EINER, KEINER ODER DOCH HUNDERTTAUSEND?
Luigi Pirandello
DAS GLEISSENDE LICHT DER VERNUNFT
Leonardo Sciascia
DIE WAHRHEIT DES FÄLSCHERS
Sciascia und die Geschichte
VIELE GESICHTER
Auf dem Ballarò
DER IDEENSCHMUGGLER
Andrea Camilleri
»ES WAR NICHTS PASSIERT.«
Die Mafia
TRAUER UND LICHT
Stefano D’Arrigo, Letizia Battaglia und Elvira Sellerio
BIBLIOGRAFIE
ÜBER DIE AUTORIN
Impressum
ANKUNFT
Der Busfahrer in Reggio Calabria zeigt eine abschüssige Straße hinunter und wedelt mit dem Arm. Dort hinten sei der Hafen, wo sich auch die Anlegestelle der Fähre nach Messina befinde. Es ist ein heißer Spätnachmittag im September, ein Montag. Die Gegend ist abgelegen. Baustellen säumen den Bürgersteig, Müll liegt herum, kaum jemand ist unterwegs. Ob es stimmt? Doch dann kommt man an ein großes Eisentor und blickt auf den Kai. Auf einem Betonklotz prangt das blaue Emblem der Schifffahrtsgesellschaft: Liberty Lines – Aliscafo. In der Schalterhalle hängt der Fahrplan, alle halbe Stunde gibt es eine Verbindung. 25 Minuten soll die Überfahrt dauern. Der Wartesaal füllt sich, kalabresische und sizilianische Familien stehen herum. Das Tragflügelboot, das seit 1958 verkehrt, wird benutzt wie ein Linienbus. Als es anlegt, eilen Pendler zum Ausgang, ein paar Herren, die wie Rechtsanwälte aussehen und sich über einen Kaufvertrag unterhalten, alte Leute auf Verwandtenbesuch. Unter den Einsteigenden sind junge Männer mit Sporttaschen, Studenten, Mütter mit Kindern, zwei Mädchen, die sich hinter ihren Sonnenbrillen verschanzen und Stöpsel im Ohr tragen. Jemand telefoniert auf dem Handy. Dunst liegt über der bergigen Küste von Sizilien; auf dem Schiff ist man einen Moment lang verwirrt: Welche Seite ist jetzt welche? Aus der Ferne erkenne ich Villa San Giovanni, den Hafen für den Bahnübergang, dort wird der Zug aus Neapel auf die neuen großen Fähren von Trenitalia verfrachtet. Aus der Brücke über die Meerenge, die Milliarden verschlang und vielen Sizilianern und Kalabresen seit 1981 einen festen Arbeitsplatz in verschiedenen Planungsbüros verschaffte, ist bis heute nichts geworden. Stattdessen fährt der Zug immer noch in den Bauch der Fähre hinein und auf der anderen Seite wieder heraus und dann die Küste hinunter, bis nach Syrakus. Man sieht die mächtigen Schiffe gemächlich über die Meerenge kreuzen. Es ist ein hochliterarisches Terrain.
Der Ich-Erzähler in Elio Vittorinis Ende der dreißiger Jahre erschienenem Roman Gespräch in Sizilien nimmt an Deck der Fähre über das winterliche Meer sein Frühstück ein und verzehrt mit großem Appetit sizilianischen Käse. Seine Reisegenossen erkennen in dem Mann, der in Mailand als Setzer arbeitet, sofort einen Auswanderer – denn ein Sizilianer würde am Morgen niemals etwas essen. Damals dauerte die Reise zwei Tage: Abfahrt in Mailand, Umstieg um Mitternacht in Florenz, am nächsten Morgen Ankunft in Rom, von dort bis nach Neapel und ab mittags die Küste hinunter. »Dann fuhr ich mit dem Zug durch Kalabrien, es begann wieder zu regnen, Nacht zu werden, und ich erkannte die Fahrt wieder, mich als Kind auf meinen zehn Fluchtversuchen von zu Hause und von Sizilien, hin und her durch dieses Land voll Rauch und Tunnels und unbeschreiblichen Pfiffen des Zuges, der nachts im Schlund eines Berges hält, am Meer, mit Namen aus uralten Träumen, Amantea, Maratea, Gioa Tauro. […] Ich schlief ein, ich erwachte und schlief wieder ein, um aufs Neue zu erwachen, bis ich schließlich an Bord des Fährbootes nach Sizilien war.« Vittorini, 1908 in Syrakus geboren, war der Sohn eines Eisenbahners und wurde in Mailand zu einem herausragenden italienischen Intellektuellen. Er war Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber und Verlagslektor. Nach Sizilien kehrte er kaum je zurück. Sein Roman prägte eine ganze Generation und gilt als eines der großen Werke des Neorealismus. Sizilien scheint als ein mythischer Raum auf, wo das Ich zu sich selbst findet, durch die Begegnung mit der Mutter von seiner Unruhe und zerstörerischen Wut kuriert wird und wieder aufbrechen kann, um sich den Anforderungen der Gegenwart zu stellen – dem Kampf um ein anderes Italien. Die Insel ist ein Hort von etwas Ursprünglichem, ein heilsames Terrain.
Giuseppe Tomasi di Lampedusas imposanter Held Don Fabrizio, der Fürst aus dem Leoparden, nimmt 1883 denselben Weg wie Vittorinis Protagonist, aber er kehrt nach der Konsultation eines Arztes in Neapel zum Sterben nach Sizilien zurück. Sechsunddreißig Stunden sei er »in einem glühenden Kasten eingesperrt« gewesen, vom Rauch der Tunnels fast erstickt. »Sie fuhren durch ungesunde Gegenden, über unheimliche Gebirgszüge, über malariaverseuchte, wie erstarrte Ebenen – Ausblicke in Kalabrien und der Basilicata, die ihm barbarisch vorkamen, während sie doch denen in Sizilien ganz ähnlich waren. Die Eisenbahnlinie war noch nicht ganz fertig: In ihrem letzten Stück bei Reggio machte sie einen weiten Bogen nach Metaponto durch Mondlandschaften, die rein zum Hohn so athletische und wollüstige Namen trugen wie Crotone und Sibari.« Mit dem einstigen Glanz seines adligen Geschlechts hat diese Rückkehr nichts zu tun; das stolze Familienoberhaupt ist krank und zerrüttet. Der Leopard erzählt vom Niedergang einer Sippe und dem Epochenbruch nach der italienischen Einigung von 1860. Ironischerweise war es ausgerechnet Vittorini, der in seiner Funktion als Verlagslektor Tomasi di Lampedusas Roman ablehnte. Der Absagebrief erreichte den Fürsten auf dem Sterbebett. Erst nach seinem Tod wurde Tomasi zum berühmtesten Schriftsteller der Insel überhaupt. Sein Roman trifft das sizilianische Dilemma im Kern, und sein Werdegang gehört zu den verblüffendsten unter den sizilianischen Schriftstellern. 1957 passierte der schwer an Lungenkrebs erkrankte Fürst Tomasi di Lampedusa zum letzten Mal die Meerenge von Messina und reiste nach Rom, wie sein Held auf der Suche nach ärztlichem Beistand. Sein Leichnam wurde wenige Monate später von der Hauptstadt nach Sizilien überführt.
Der Übergang vom Festland nach Sizilien wirkt wie eine Schranke. Wer von dort kommt, scheint es selbst so zu empfinden – die Insel liegt eben nicht in Italien und bleibt unvergleichlich; selbst auf Italiener wirkt sie bis heute exotisch. An derselben kalabresischen Küste, von der Tomasi und Vittorini erzählen, sucht der Held ‘Ndrja Cambrìa in Stefano D’Arrigos 1500-seitigem sprachtrunkenem Epos Horcynus Orca (1975) mitten in den Wirren der Kapitulation von 1943 nach einem Boot zum Übersetzen. Der junge Marinesoldat ist desertiert und hat sich bis in das Dorf der Feminotinnen durchgeschlagen, wo die Frauen aus schierem Hunger ungenießbares Delfinfleisch einkochen. Der Gestank macht die Luft schwer. ‘Ndrja stolpert über Halden weißer Fischknochen; auch das Meer, längst von den Alliierten beherrscht, ist angesteckt von dem Gärungsprozess: »Da machte er sich in dem tiefen Dunkel blindlings wieder auf und fand unerwartet, nach wenigen Schritten, schließlich eine Öffnung zum Meeresufer: Auf seiner Haut spürte er einen Lufthauch, die Dunkelheit vor ihm war frei von Häusern, und der Atem des Riesentieres, des Meeres, blies ihm ans Ohr und schlang sich um ihn wie ein dünner Faden, in unendlichen Umschlingungen von Speichelfäden, die versteinerten, wie die Fäden einer Muschel, die mit den Echos ihrer geheimnisvollen, unermesslichen Belebung kamen und gingen.« D’Arrigo, 1919 in Alì Marina bei Messina geboren und in Rom zuhause, lässt seinen Helden auf eine Fischersfrau treffen, die ihn durch das Gewässer hinüberrudert. »›Schöner Bursche‹, sagte sie und senkte ihre Finger in sein Haar. ›Wir sind auf der anderen Seite, und Ihr schlaft? Scheint Euch das der geeignete Augenblick zu sein?‹ ›Was ist mir da passiert? Was für ein Schlaf war das?‹ ›Was kümmert Euch das? Eure Reise ist zu Ende. Hier ist sie zu Ende.‹ ›Hier wo?‹ ›Hier, auf der Insel, oder? Wart Ihr nicht völlig verrückt danach, nur ja nach Sizilien zu kommen?‹«
Die Rückkehr, der nóstos – das treibt alle sizilianischen Schriftsteller um. Aber Rückkehr wohin, was hat es mit der Insel auf sich? Um ein Gespür für die Geographie des äußersten Südens von Italien zu bekommen, muss man mit Zügen und dem Schiff reisen; anders erschließen sich die Distanzen nicht. Von Reggio Calabria aus liegt Sizilien wie ein Dreieck da, das vor der Stiefelspitze Italiens aus dem Meer ragt. Messina bildet die obere Ecke, Capo Passero die untere. Catania liegt auf der Hälfte der kürzeren Seite, Syrakus etwas weiter unten an einer kleinen Ausbuchtung. Marsala und Trapani markieren die gegenüberliegende Ecke des Dreiecks. An den langgezogenen Seiten bilden Palermo an der oberen und Agrigent mit Porto Empedocle an der unteren Küste Orientierungspunkte. Bis heute sind Reisen im Vergleich zum Rest von Italien eher mühsam, die Bahnlinien führen zwar durch liebliche Küstenlandschaften mit Palmen, Hibiskus, Oleander, Eukalyptus und Orangen- und Zitronenbäumen, aber sie nehmen weite Umwege. Nach Enna, Ragusa, Modica oder Noto gelangt man nur mit dem Auto oder mit Bussen. In Richtung Noto sind die Olivenanpflanzungen von Trockenmauern umgeben, ab und zu gibt es ein Gehöft, man kommt am Schloss von Donnafugata vorbei, dessen Name Tomasi di Lampedusa sich für seinen halb fiktiven, halb realen Sommersitz in seinem Roman borgte. Aber zwischen Catania und Palermo wirkt Sizilien über viele Kilometer hinweg unbewohnt. Noch 1850 fuhr man selbst von Palermo nach Marsala eher mit dem Schiff, weil es schneller ging als über den Landweg. Die aufwendigen Reisen, Rückkehr und Abschied, Verwurzelung und Trennung – stärker als in anderen Regionen prägt dieser Rhythmus von Nähe und Distanz die sizilianischen Schriftsteller. Gerade das spezifische Verhältnis zur eigenen Herkunft und der geschärfte Blick für Italien könnten der Grund für den verblüffenden Reichtum der sizilianischen Literatur sein. Von hier kamen die entscheidenden Impulse. Um 1900 waren es Giovanni Verga, Luigi Capuana und Federico De Roberto aus Catania, die alle drei viele Jahre in Mailand und anderswo verbrachten, mit dem Verismus eine italienische Spielart des Naturalismus erfanden, dann aber wieder in ihrer Heimat Quartier nahmen. Der Nobelpreisträger Luigi Pirandello, 1867 geboren, stammte aus Agrigent und ging nach Rom; die zersplitterte sizilianische Identität antizipierte eine Erfahrung der Moderne und wurde zum Angelpunkt seiner Dramen und Romane. Für Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Jahrgang 1896, waren Frankreich und England die literarischen Echoräume, er war ein großer Reisender, blieb aber Palermitaner. Vitaliano Brancati, 1907 geboren und in Catania aufgewachsen, Verfasser gleißender satirischer Romane über die Geschlechterverhältnisse, verbrachte seine späten Jahre in Rom, doch seine Figuren kehren allesamt nach Sizilien zurück. Der ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichter Salvatore Quasimodo aus Modica, wo er 1901 geboren wurde, schrieb über die südliche Vegetation und das Licht und war in Mailand zuhause. Vittorini lebte in Mailand, D’Arrigo in Rom. Andrea Camilleri aus Porto Empedocle ging als Dreiundzwanzigjähriger 1949 nach Rom und kehrt bis heute nur für die Sommermonate nach Porto Empedocle zurück, aber die Insel ist Schauplatz seiner Bücher. Sein großer Förderer, der pessimistische Leonardo Sciascia mit seinen aufklärerischen Romanen, Jahrgang 1921, war durch und durch ein Mann aus dem Landesinneren der Insel und verbrachte die längste Zeit seines Lebens in Palermo, obwohl er sich als Abgeordneter zumindest zeitweise außerhalb von Sizilien aufhielt. Mit seiner Metapher der sich immer weiter in den Norden verlagernden »Palmenlinie« prognostizierte er eine Sizilianisierung ganz Italiens. Alle setzen sich mit dem auseinander, was Sciascia die sicilianità nannte – die Sizilianität.
Noch eine Eigenart bindet die sizilianischen Schriftsteller aneinander: Sie beziehen sich fortwährend auf die Werke der anderen Sizilianer. Jeder liest jeden, man kommentiert sich, auch über die Distanz von Jahrhunderten hinweg. Als ein Umschlagpunkt gilt vielen die Einigung von 1860. Sie erzählen Geschichten von Niedergang und Dekadenz und davon, wie sich eine erschöpfte Elite von den Nöten der eigenen Region abwendet. Die überkommene, hochverfeinerte Kultur entfaltet starke Fliehkräfte. Eines ist allen gemeinsam: Sizilien, am äußersten Rand von Europa gelegen, bildet das vitale Zentrum.
IM BALLSAAL
Angelica betritt das Parkett
Sie ist höchstens siebzehn Jahre alt und bewegt sich mit großer Selbstverständlichkeit zwischen den kostbaren Möbeln im Palazzo Ponteleone in Palermo, umringt von jungen Fürsten, die um eine Mazurka, eine Polka, einen Walzer betteln, aber ihr Carnet ist längst gefüllt, jeder Tanz vergeben. Die dunkelhaarige Angelica, von florentinischen Nonnen erzogen und von ihrem Verlobten Tancredi mit dem letzten Schliff versehen, zieht mit ihrer rosafarbenen Robe, den prächtigen weißen Schultern, dem zarten Hals, dem »Strahlenglanz ihrer Augen« und dem »Erdbeermund« alle Blicke auf sich. Giuseppe Tomasi di Lampedusa bringt seine Heldin in Stellung, schließlich steht ihr Großes bevor. Tancredis Onkel Don Fabrizio Salina nutzt den wichtigsten Ball der Wintersaison 1862, um seine zukünftige Nichte in die Gesellschaft einzuführen. Das ist nicht ohne Risiko, denn Angelica kommt aus einer Familie, die mitnichten der Heiratspolitik sizilianischer Adliger entspricht: Zwar ist sie die Tochter des unermesslich reichen Don Calogero Sedára aus dem Landesinneren von Don Fabrizios Lehnsbesitz Donnafugata. Aber ihr Großvater trug noch den Spitznamen Peppe ’Mmerda, Scheiß-Peppe, so ungehobelt war er. Und ihre Mutter kann weder lesen noch schreiben. Doch das florentinische Pensionat hat bei Angelica vieles wettgemacht. Den Rest erledigt ihre ehrfurchtgebietende Schönheit. Als Angelica den Onkel zu einem Tanz überredet und der groß gewachsene Fürst mit ihr das Parkett betritt und sie in einem Walzer durch den Saal schwenkt, halten alle anderen Gäste inne.
Die Ballszene ist nur einer der vielen Höhepunkte des posthum erschienenen Romans Der Leopard, in dem es um den sozialen Aufstieg einer neuen gesellschaftlichen Klasse und den Niedergang der alten Elite geht. Und darum, wie der junge Tancredi inmitten des Umbruchs die sich ändernden Machtverhältnisse für sich nutzt. Don Fabrizio, der sich auf Sternenkonstellationen versteht und astronomische Studien betreibt, befördert zwar die Verlobung seines Neffen, will aber den politischen Wandel nach der Einigung von 1860 nicht mitgestalten. Tomasi bietet alle erzählerischen Mittel auf, um den Lebensstil der Aristokratie angemessen in Szene zu setzen. Weil das exorbitante Fest im Palazzo Ponteleone in der Verfilmung von Luchino Visconti dreißig Minuten dauert und den Schlussakkord bildet, wurde es für viele zur Signatur der Familiengeschichte. Noch berühmter ist allerdings Tancredis nüchterne Feststellung »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann muss sich alles ändern« – man spricht vom gattopardismo, meint damit das passive Beharren auf den Gegebenheiten bei oberflächlichem Aktionismus, zitiert den Satz allenthalben, wenn es um Italien geht, ohne allerdings den Zusammenhang zu bedenken. Auch Giuseppe Tomasi di Lampedusas Charakterisierung des nassforschen jungen Mannes wird außer Acht gelassen; häufig schreibt man die Äußerung sogar dem Fürsten selbst zu. Der Roman, der auf abenteuerliche Weise in die italienische Öffentlichkeit gelangte, kam im November 1958 heraus und wurde zu einem literarischen Ereignis. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, dass ausgerechnet dieser schüchterne Müßiggänger ein Buch schreiben würde. Sein Familienhintergrund ließ alles andere vermuten als künstlerische Ambitionen. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Herzog von Palma, Baron von Montechiaro, Baron von Falconieri, wohnhaft in der Via Butera in einem baufälligen Palazzo – ein Schriftsteller? Seinen Erfolg hat er nicht mehr erlebt. Zwölf Auflagen im ersten Jahr, 70.000 verkaufte Exemplare, eine Fülle von Auslandslizenzen. Ein Komet, aber mit seinem Stil ein Fremdkörper im Panorama der Nachkriegsliteratur, die noch mit der Aufarbeitung des Faschismus, den Partisanenkämpfen und der Industrialisierung befasst war und mit spröden, knappen Erzählformen operierte. Als viel zu traditionalistisch und opulent war das Manuskript von dem Turiner Verlagshaus Einaudi abgelehnt worden, und nun galt der Roman nach wenigen Monaten als ein Werk von Weltrang. Wie schon im 19. Jahrhundert probierte man ausgerechnet in Sizilien eine andere Art der Wirklichkeitsbetrachtung aus.
DER GLANZ VON PALERMO
Im Palast des Leoparden
In seiner Mitte wirkt Palermo geordnet und voller Licht. Geschwungene und gerade Linien im Wechsel, sizilianischer Barock, am Ende der Straßenfluchten sieht man den blauen Schattenriss des Monte Pellegrino. Teatro del sole wird der achteckige Platz Quattro Canti in Stadtchroniken auch genannt. Tatsächlich hat der Sonneneinfall den Effekt eines Bühnenscheinwerfers: Den ganzen Tag über liegt eines der vier symmetrischen Eckgebäude im Licht. Ein Brautpaar posiert mit konzentriertem Lächeln vor den Rosetten und Girlanden der halbrunden gelblichen Fassaden, die mit Springbrunnen, Säulen, Statuen und Wappen bestückt sind. Das bauschige Kleid setzt die Ornamente fort und sieht ein paar Sekunden lang aus wie aus Stein. Von den Brunnen und Häusern blicken allegorische Figuren der vier Jahreszeiten auf die Piazza, in der Etage darüber stehen die spanischen Könige in einer Nische und zuoberst die Schutzheiligen der Stadtviertel. Man fühlt sich gut bewacht. Die Quattro Canti sind ein Knotenpunkt. Hier kreuzen sich die alte Straße Kassaro, die längst Via Vittorio Emanuele heißt und vom Meer bis zum Normannenpalast führt, und die Via Maqueda, hinter deren einem Ende sich der Markt Ballarò befindet, während am anderen Ende das Teatro Massimo liegt. Die Palermitaner mögen Prunk; das Vorbild für die Quattro Canti, die zwischen 1608 und 1620 von einem florentinischen Architekten erbaut wurden, war der römische Platz Quattro Fontane, aber Palermo übertraf das Original. Bis vor wenigen Jahren bekam man hier nach fünf Minuten wegen des Verkehrs einen Hustenreiz und flüchtete sich in die Buchhandlung Dante, die heute ein Restaurant beherbergt, oder kaufte eine Krawatte bei dem alteingesessenen Herrenausstatter schräg gegenüber. Oder man ging gleich weiter zur Piazza Pretoria, den alle nur unter dem Namen Piazza della vergogna kennen, den Platz der Scham, wegen der vielen nackten Marmorstatuen rund um den Brunnen so genannt. Ursprünglich 1554 für den Garten eines Privatmannes in Florenz entstanden, wurde das Bauwerk an die Stadt Palermo verscherbelt. Goethe konnte den Brunnen mit seinen 48 Skulpturen, inklusive Pferdekopf, Ochse und Schwan, gar nicht leiden, viel zu verspielt und verrückt, Eigenschaften, die er den Sizilianern mehrfach unterschob. Es gibt einen Durchgang zur Piazza Bellini mit ihren Kirchen: die Theatinerkirche, gegenüber die rotbemützte San Cataldo und daneben La Martorana, Schichtungen von normannischarabisch-byzantinisch-christlichen Einflüssen. Palmen ragen neben dem Kirchturm in die Höhe, und plötzlich ist Afrika gar nicht weit weg. Jeden Donnerstag treffen sich neuerdings Volkstanzgruppen auf dem Platz. Gegen 22 Uhr stellen sie einen kleinen Lautsprecher auf oder bringen Instrumente mit, und dann drehen sich mit einem Mal fünfzehn oder zwanzig Paare im Kreis. Wie weggewischt ist die bedrückende Atmosphäre aus den achtziger und neunziger Jahren, als sich an den Quattro Canti die beiden Hauptverkehrsachsen kreuzten und abends kaum jemand auf den Straßen unterwegs war. Die Mafiamorde, die zerborstenen Autos, die Blutlachen und die Leichname, von weißen Laken notdürftig abgedeckt. Jetzt ist die Piazza Sant’Anna gleich hinter der Piazza Bellini jeden Abend von Studenten und Schülern bevölkert, Lokal reiht sich an Lokal. Die Schließung der Kreuzung an den Quattro Canti wurde 2014 vom Gemeinderat angeordnet. Es ist viel passiert. Die normannisch-arabischen Bauwerke gehören seit 2015 zum Unesco-Weltkulturerbe, die Touristen haben sich vervielfacht und drohen das Wilde der Stadt zu verdrängen. Palermo schwankt zwischen Bewahrung der Kulturdenkmäler, Disneyfizierung und einem Zug ins Urtümliche, der allen globalisierenden Tendenzen widersteht und den man vor allem in Stadtvierteln wie der Zisa, der Kalsa und auf dem Ballarò spürt.
In der Kalsa, nicht weit vom Meer, liegt die Via Butera. Man hört Möwengeschrei und den Verkehr vom nahegelegenen Boulevard Foro Italico. Die Mittagshitze staut sich noch in der schmalen Straße hinter der Porta Felice, als ich gegen drei Uhr an der Nummer 28 klingle. Das riesige Eingangstor stammt aus der Zeit der großen Bälle und Empfänge, es ist geeignet für Kutschen oder zumindest Großfamilien, die alle gleichzeitig eintreten. Ohne Begleitung davor zu stehen hat fast etwas Unhöfliches. Vom Palazzo Butera, zwei Häuser weiter, schallen Baugeräusche hinüber, dort sind Stuckateure zugange, sie hämmern, sägen und schleifen, Elektriker und Anstreicher rufen sich Anweisungen zu. Der Palazzo Butera mit seiner prächtigen Innenausstattung, jahrhundertelang Sitz der Fürsten von Trabia und Butera, ist das berühmteste Gebäude der Straße. Johann Wolfgang Goethe war dort zu Gast, ebenso wie Wilhelm II. Jetzt gehört es dem Mailänder Galleristen Massimo Valsecchi, der es in einen Ausstellungsort und ein europäisches Laboratorium umwandeln will. Die Sanierung geht voran; im Sommer 2018 ist der Palazzo Butera Teil der Kunstausstellung Manifesta, auch die Baustelle steht für Besichtigungen offen. Die Nummer 28 ist nicht ganz so pompös, Palazzo Lanza Tomasi heißt dieser Bau heute, benannt nach seinem Besitzer, dem Cousin und Adoptivsohn des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der das Haus kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eher aus Verzweiflung erwarb. Sein Elternhaus Palazzo Lampedusa war von amerikanischen Bomben zerstört, und irgendwo musste er schließlich unterkommen, auch seine Ehefrau, die Fürstin Licy Wolff von Stomersee, Psychoanalytikerin von Beruf, brauchte einen Ort für ihre Couch. Dann besser hier, wo achtzig Jahre zuvor immerhin sein Urgroßvater eine Zeitlang gewohnt hatte.
Aus der Sprechanlage tönt eine Stimme: Die Treppe rechts hinauf in den ersten Stock, dort werde man mich in Empfang nehmen. Der Hausherr wieselt mir entgegen, ein wendiger Mann von 84 Jahren mit lebhaften kleinen Augen, einem Bürstenhaarschnitt und einem sardonischen Lachen, in das er regelmäßig ausbricht. Wir kennen uns noch aus Neapel, wo Gioacchino Lanza Tomasi Intendant des Opernhauses San Carlo war. Nach Jahrzehnten in Japan, New York, Rom und Neapel ist der Musikwissenschaftler nach Palermo zurückgekehrt. Den Palazzo hatte er immer behalten, auch wenn er nur die Sommermonate hier verbrachte. Nach und nach wurde das Haus umgebaut. Heute bewohnt er mit seiner Familie den ersten Stock, während die obere Etage mit Möbeln, Porzellan und Gemälden aus dem Besitz der Lanzas ausgestattet ist. Die Bibliothek seines Großvaters steht dort, genau wie die von Tomasi, außerdem wenige Erbstücke vom Landsitz Santa Margherita. Don Gioacchino führt mich ins Wohnzimmer. Auf dem Flügel stapeln sich Partituren, von der Decke baumelt eine steinerne Meerjungfrau, die Arbeit einer französischen Bildhauerin, wie er mir erklärt. Wir nehmen auf Polstermöbeln Platz. Die Fenster gehen auf die Terrasse, wo Oleanderbäume blühen, dahinter blitzt das Meer. Gioacchino beginnt zu erzählen. Tomasi habe die Räume auf derselben Etage nebenan bewohnt. Damals war es ein unbequemes Haus, zugig und feucht, ohne vernünftige Heizung. Es gab nur einen fauchenden Gasofen, mit dem sich der Fürst mehrfach beinahe in die Luft gejagt habe. Und vor der Terrasse lagen Berge von Trümmern – die Überreste der bombardierten Palazzi wurden kurzerhand hier aufgeschüttet, was den Abstand zum Lungomare enorm vergrößerte. Der Musikwissenschaftler breitet die Ahnentafel vor mir aus und schildert die blutrünstigen Gepflogenheiten der Tomasi-Sippe: Dass Rivalen vergiftet oder erdolcht wurden, war an der Tagesordnung, erst recht, als im 16. Jahrhundert die junge Ehefrau eines Tomasi dem Vizekönig gefiel. Gioacchino zerkaut die Silben regelrecht, sein »r« klingt wie ein »w«, und zwischendurch verfällt er in ein passables Deutsch, das er, wie oft im sizilianischen Adel, als Kind von einer deutschen Gouvernante gelernt hat, einer sogenannten »Schwester«.
»Wie viele süditalienische Familien war auch meine eher verrückt. Sie verließ Sizilien 1911. Palermo besaß zwei Leuchttürme der mondänen Haushaltsführung, beide aus der Lanza-Sippe, einer war mein Großvater, der Fürst von Trabia. Kolossale Paläste, große Bälle. Mein Großvater hatte aber eine Neapolitanerin geheiratet, und meine Großmutter empfand Sizilien als provinziell, wo es einfach nicht auszuhalten war, also zog die Familie nach dem Tod ihrer Schwiegermutter nach Rom. Meine Großmutter lebte dort im Grand-Hotel, wo sie Gäste empfing und einen Salon hatte. Meine Eltern gehörten zu den adligen Kreisen um die Königsfamilie«, erklärt Gioacchino. »Nach dem Zweiten Weltkrieg war das große Vermögen der Familie sehr zusammengeschmolzen. Mein Vater hatte immer den Traum gehabt, nach Sizilien zurückzukehren. Also kamen wir 1945 hierher, ich war elf Jahre alt. Im Haus meines Großvaters, das 34 Jahre lang im Dornröschenschlaf gelegen hatte, gab es noch ungeöffnete Postsendungen aus London mit gestärkten Frackhemden. Es wurde alles renoviert, und meine Eltern begannen, ein glanzvolles Gesellschaftsleben zu führen. Sie gaben Cocktails für zweihundert Gäste, zu denen auch Tomasi di Lampedusa und seine Frau kamen. Tomasi war ein entfernter Cousin meines Vaters. Er fiel mir schon damals auf, weil er diese imposante, sehr korpulente Ehefrau hatte. Später habe ich ihn dann näher kennengelernt. Wir lästerten gern über unsere Familien und waren beide ziemlich gehässig.«
Um mir einen Eindruck von der typischen Ausstattung eines Palazzos zu verschaffen, führt mich Don Gioacchino in die obere Etage, öffnet Türen und knarrende Fensterläden. Empfangsräume, Damensalons und Herrenzimmer reihen sich aneinander. Es gibt eine komplett eingerichtete Küche, polierte Messingtöpfe und Pfannen hängen an der Wand, behutsam ergänzt durch moderne Gerätschaften. Gioacchinos Ehefrau Nicoletta hält hier regelmäßig Kurse ab, sogar auf Englisch: »Cooking with the duchess« – Amerikaner lieben das. Größere Gruppen aus den USA buchen mit Vorliebe das Arrangement »Drinks im historischen Ambiente«, Einführung in den Leoparden inklusive, wer will, kann auch noch das Buch kaufen. Die Räume sind zweifellos für derartige Zusammenkünfte gedacht. Wir betreten das Esszimmer, das eher ein Saal ist, in den Schränken stapeln sich Tischwäsche und Geschirr für 280 Personen. Ende des 19. Jahrhunderts übertrafen sich die palermitanischen Familien mit ihren Inneneinrichtungen und wurden von einer regelrechten Sammelwut ergriffen: vor allem Porzellan, Silber, Leuchter, Lampen, Tischtücher mit kompliziertesten Stickereien, Sonderanfertigungen sizilianischer Handwerker. Ein palermitanischer Palazzo sei damals eine Theaterbühne gewesen, meint mein Gastgeber, eine Bühne, auf der sich die jeweilige Familie inszenierte und jedem Angehörigen eine klare Rolle zuwies. Schon im Jahrhundert zuvor hatte es für die Großgrundbesitzer Steuervorteile gegeben, wenn sie sich in Palermo niederließen. Die Latifundien verwahrlosten, an der Verwaltung der Besitztümer hatten die Adligen kein Interesse, das Geld wurde in die Stadtpaläste gesteckt. Und dort rezitierte man beständig dasselbe Stück, jedes der einflussreichen Häuser zelebrierte die eigene Herkunftsgeschichte. Allerdings waren viele Familien eigentlich zu arm für die aufwendigen Pflichten der Repräsentation; die Juwelen landeten beim Pfandleiher und wurden häufig nur für die großen Bälle ausgelöst. Der Geschäftsmann Vincenzo Florio (1799–1868), ein gebürtiger Kalabrese, klagte 1866: »Der Müßiggang frisst diese Gesellschaft auf, ihre materiellen Ambitionen ruinieren sie; der Luxus, die morbide Dringlichkeit, unbedingt eine Kutsche besitzen zu müssen – alles das steht in keinem Verhältnis zu ihren Mitteln. Es ist sehr schwierig, diese Leute zu Gewerbe oder aktivem Handel zu bewegen.« Tomasi blieb dem Glanz und den Inszenierungen der großen Familien vollkommen verhaftet, was sich an seiner Liebe zu Interieurs zeigt. Nicht nur im Leoparden, auch in seinen Kindheitserinnerungen beschwört er bis ins Detail emphatisch die Räume des Palazzo Lampedusa herauf. Dass dieses Haus einer amerikanischen Bombe zum Opfer fiel, war eine tiefe Demütigung. Es zog ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, denn seine Daseinsberechtigung schien mit dem konkreten Bau verknüpft, den er, wie er es ausdrückte, »mit absoluter Hingabe« geliebt habe.