Loe raamatut: «Jedermannfluch», lehekülg 2

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4. Szene, vier Monate davor

Wie unsere Tag und Werk auf Erden

vergänglich sind und hinfällig gar.

Wow! Er hatte es kaum zu hoffen gewagt. Nichts hatte auch nur irgendwie darauf hingedeutet. Es hätte auch Graz sein können oder Innsbruck. Oder gar eine Stadt jenseits der Landesgrenze. München, Prag oder auch Udine. Doch jetzt war es unzweifelhaft klar. Er entnahm es dem deutlich sichtbaren Insert. Sie starteten die dritte Etappe tatsächlich in Salzburg! In Salzburg! Hier in seiner Stadt! Und Ignaz war noch dabei, er war im Rennen, im Finale! Das war überhaupt das allerbeste. Der verdammte Kerl hatte sich gestern auch in Linz durchgesetzt, war sogar als Erster über die Zielmarkierung gerast. Yannick beugte sich ein wenig nach vorn. Das Realbild, das ihm der Bildschirm zeigte, war noch sehr dunkel. Die schemenhafte Umgebung war kaum auszumachen. Natürlich würde in ein paar Sekunden wieder ein großer Scheinwerfer aufleuchten, und das Areal samt den Autos aus der Dunkelheit schälen. Das war davor auch so gewesen an den ersten beiden Stationen. Doch er wollte jetzt schon wissen, wo in Salzburg das Finalrennen gleich beginnen würde. Er strengte sich an, bis seine Augen zu brennen begannen. Aber er hatte keine Chance. Das am Bildschirm Gezeigte war einfach zu dunkel, zu undurchsichtig. Zum Glück dauerte es nicht lange. Dann flammte endlich der riesige Spot auf, schickte sein Leuchten über das Areal. Zugleich wurden die Frontlichter der beiden Fahrzeuge hell. Das Aufheulen der Motoren war zu hören. Und schon ging es los! Wo war das? Im Süden der Stadt, in der Nähe der Alpenstraße? Er vermutete es zumindest. Gleich würde er es wissen. Gleich würden die beiden Boliden aus dem Realbild verschwinden. Dann würden die beiden Markierungen auftauchen, ein blauer Punkte für Ignaz, ein gelber für dessen Konkurrenten. Die Punkte würden sich entlang der Linien bewegen, die einen simpel skizzierten Ausschnitt des Stadtplanes andeuteten, und zugleich würden die wichtigsten Straßenbezeichnungen aufleuchten. So war es in Wien gewesen, und auch gestern in Linz. Da! Der erste Name flackerte bereits auf. Alpenstraße. Er drosch sich jauchzend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er hatte es geahnt. Die beiden Boliden rasten tatsächlich in höllischem Tempo nach Norden, direkt in Richtung Stadtzentrum. Der gelbe Punkt lag in Führung. Das war deutlich zu erkennen. Umgerechnet waren das sicher mehr als zehn Meter Vorsprung. Komm Ignaz, lass dich in deiner eigenen Stadt nicht abhängen. Schneller, zeig’s dem verdammten Kerl! Das schaffst du schon! Sie waren sicher in Höhe Egger-Lienz-Gasse gestartet, oder auch erst in der Nähe des Wüstenrot-Gebäudes. Auf jeden Fall mussten sie so nicht direkt an der Bundespolizeidirektion vorbeirasen. Wäre ja noch schöner, wenn man gleich eine Polizeistreife mit Blaulicht hinter sich hätte, die auch noch per Funk Absperrungen auf der eingeschlagenen Route veranlasste. Der blaue Punkt holte auf, verringerte die Distanz. Plötzlich bog der gelbe Punkt scharf nach rechts. Karolinenbrücke leuchtete als Schriftzug auf. Alles klar. Jetzt ging es über die Salzach. Dann würden die beiden Boliden sich wohl links halten und über die Imbergstraße weiterrasen. Genau so geschah es. Yannicks Hände begannen wieder zu schwitzen. Komm, Ignaz, steig aufs Gas! Was würde an der Staatsbrücke passieren? Würden die beiden nach links biegen und tatsächlich auf die Altstadt zudonnern? Das wäre ein Hammer! Aber vielleicht würden sie doch geradeaus weiterpreschen in Richtung Landestheater. Mein Gott, war das spannend! Fast nicht zum Aushalten. Dieses Mal hatte er sich keine Cola bereitgestellt, sondern gleich einen ordentlichen Bacardi. Er schraubte die Flasche auf, nahm einen kräftigen Schluck. Der gelbe Punkt war gleich an der Staatsbrücke. Und jetzt? Nein! Er bog nicht nach links, sondern setzte den Weg geradeaus fort. Yannick hatte es vermutet. Das war sicher die weitaus bessere Route für dieses spektakuläre Rennen als rüber in die Altstadt. Hier erwarteten sie mehr Geraden, weniger Kurven. Schwarzstraße. Jetzt würden sie sicher schon beim Landestheater sein. Leider gab es keine entsprechenden Ortsangaben von markanten Punkten neben der Route. Komm, Ignaz! Ab dem Mozarteum kannst du ihn packen! Zeig dem Scheißkerl, was ein echter Lokalmatador draufhat! Und tatsächlich, der blaue Punkt kam näher. Er scherte aus, überholte den gelben Punkt, setzte sich voran. Und erlosch! Yannick schnellte von seinem Stuhl hoch. Was war jetzt passiert? Auch wenn er wusste, dass es sicher nichts brachte, hämmerte er dennoch mit der Handfläche kräftig auf die obere Umrandung des Bildschirmes. Als gälte es, eine Art Wackelkontakt zu beheben.

RACE INTERRUPTED! Der Schriftzug erschien plötzlich bildfüllend. Flammte sogar mehrmals auf.

Was sollte das? Rennen unterbrochen? Igor hatte doch eben überholt, war in Führung gegangen. Was war mit dem blauen Punkt geschehen?

5. Szene, Gegenwart

Was? Keine Frist willst du mir geben?

»Geht ihr schon bitte vor. Ich habe nach dem Abschminken noch etwas dringend zu erledigen. Ich komme dann später nach.« Sie verschwand hinter der Garderobentür. »Solistengarderobe. Frau Laudess«, war auf dem Schild am Eingang zu lesen. Isolde schnaubte kurz durch. Das war wieder typisch für ihre Schwester. Sich zuerst langmächtig beknien lassen, dann halbherzig zustimmen und dann in letzter Sekunde mit irgendeiner faulen Ausrede vermutlich doch kneifen. Ihr sollte es recht sein. Sie hatte ohnehin keinen Wert darauf gelegt, dass ihre Frau Schwester zu dieser improvisierten Feier mitkam. Aber Folker hatte es immer wieder versucht, hartnäckig bittend, bisweilen auch zuckermäulig schmeichelnd. Und schließlich hatte Senta sich offenbar erweichen lassen und zugesagt. Ja, sie würde an Folkers kleiner improvisierter Geburtstagsfeier teilnehmen. Gleich nach Ende des Auftritts. Die anderen großen Stars aus dem »Jedermann«-Ensemble waren noch drüben auf dem Domplatz. Doch für die Buhlschaft war die Vorstellung bald nach dem Erscheinen des Todes vorbei. Und für die Mitglieder der Tischgesellschaft auch. Also konnte sich Senta ihnen anschließen, wenn sie gleich zum »K+K« Restaurant aufbrachen. Falls sie überhaupt mitkam. Isolde war es verdammt egal. Auch sie würde nicht lange bleiben. Aber sie hatte es Folker und Bianca versprochen. Zwei weitere Kollegen aus dem Darstellerensemble der Tischgesellschaft würden ebenfalls dabei sein. Stars wie ihre Schwester verfügten natürlich über eine eigene Garderobe. Für die Darsteller der kleinen Rollen, also der Tischgesellschaft, genügten zwei größere Gruppenräume.

Isolde brauchte keine zehn Minuten. Dann war sie abgeschminkt und umgezogen.

Sie wartete auf die anderen. Gleich darauf zogen sie zu fünft los, verließen das Festspielhaus.

»Hey, heute ist gar nicht mehr so viel los in der Stadt!«, bemerkte Isolde und hängte sich bei Bianca und Folker ein. »Dabei ist es erst 22.30 Uhr vorbei.« Sie bogen in die Philharmoniker-Gasse ein. Keine zwei Minuten später waren sie schon am Mozartplatz. Der Waagplatz mit dem angestrebten Restaurant lag gleich dahinter.

»Nein, nicht schon wieder«, entfuhr es Isolde. Sie hielten gerade auf den steinumfassten Eingang im Erdgeschoss zu, als eine der beiden großen Holztüren aufschwang und zwei Leute herauskamen. Auch die beiden Personen hielten in der Bewegung inne, waren sichtlich überrascht.

»Was soll das, Isolde?« Die Stimme des jungen Mannes war scharf, er klang ähnlich gereizt wie schon am Nachmittag. »Reicht es nicht, dass du ungebeten bei unserer Vorstellung auftauchst? Spionierst du uns jetzt auch noch im Wirtshaus nach?«

Die junge Frau, es war Ariana, wie Isolde bemerkte, fasste ihren Begleiter am Arm. »Komm, Cyrano, lass es gut sein. Das bringt doch nichts!« Der andere wollte etwas einwenden, aber die junge Frau zog ihn einfach mit sich fort. Sie verschwanden in Richtung Judengasse. Isolde bemerkte die leicht irritierten Blicke ihrer Kollegen. »Hast du Zoff mit denen?«, wollte Bianca wissen.

»Ach, das sind, wenn man es so nennen will, Kollegen.« Sie machte mit der Hand eine abschätzige Bewegung. »Die gehören zum Salzburger Straßentheater. Wie man bemerkt hat, sind sie derzeit nicht gut auf mich zu sprechen. Darüber erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal mehr. Aber nicht heute. Jetzt wollen wir auf Folkers Geburtstag anstoßen.«

Sie ging voraus, die anderen folgten rasch nach, betraten ebenfalls das Restaurant. Der Kellner brachte sie zum reservierten Tisch. Er befragte sie sogleich nach den Getränkewünschen. An der Wand hing eine elegant gestylte Uhr. Sie zeigte 22.43 Uhr. Isolde hatte noch genau zwei Stunden und 51 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht. Sie bestellte einen Aperitif mit Cranberry und einem kleinen Schuss Wodka.

6. Szene, Gegenwart

Hab immer doch in bösen Stunden

mir irgend einen Trost ausgfunden.

Der Kopf des langen Zündholzes flammte kurz auf, doch gleich darauf war er wieder verlöscht. Sie zog erneut die Schachtel auf, wählte ein anderes Streichholz. Dieses Mal klappte es. Ihre Hand zitterte zwar. Fast hatte es den Anschein, als vollführe die dreieckige Narbe auf ihrem Handrücken einen kleinen Tanz. Aber sie konzentrierte sich und schaffte es, den Docht der hellen Kerze auf der kleinen Anrichte zu entzünden. So wie jeden Abend. Die langsam pendelnde Flamme warf schmale Lichtstreifen auf das Bild, das neben der Kerze aufgestellt war. Es zeigte Gesicht und Oberkörper eines jungen Mannes. Er hatte dunkle Augen und ein schmales Lächeln. Einige Monate hatte eine schwarze Schleife die rechte obere Ecke geziert. Doch sie hatte das Band vor wenigen Tagen abgenommen und es gegen ein weißes getauscht. Sie rückte sich den gestreiften Ohrenfauteuil zurecht und nahm Platz. Dann hob sie das Glas mit dem Heidelbeerlikör. Sie hielt es zuprostend in Richtung Anrichte, wartete, bis das Licht der tänzelnden Flamme die lächelnden Augen auf dem Bild erreichten und aufhellten. Dann trank sie. In wohltuend langsamen Schlucken. Sie stellte das Glas wieder ab, lehnte den Kopf nach hinten. Ihre Augen ruhten auf dem Gesicht des jungen Mannes. So würde sie sitzen bleiben und still trauern. Bis in die Morgenstunden. So wie jede Nacht.

7. Szene, Gegenwart

Wo bist du Tod, mein starker Bot? Tritt vor mich hin.

Der Schlag traf sie von der Seite. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie taumelte, spürte das niedrige Geländer. Jetzt hatte sie noch genau siebeneinhalb Sekunden zu leben. Doch das wusste sie nicht. Das Handy fest in der verkrampften Rechten, versuchte sie, mit der Linken nach der kniehohen Querverstrebung zu fassen. Es gelang ihr nicht. Noch sechs Sekunden. Sie verlor das Gleichgewicht, kippte zurück. Ihr Rücken schrammte gegen etwas Hartes. Noch vier Sekunden. Sie donnerte hinunter, krachte auf den steinfesten Untergrund.

Drei. Zwei. Eins.

Dann war es vorbei.

Erster Tag

1

Er hob den Kopf, fuhr sich wohl schon zum 20. Mal mit der Linken in das zerwühlte Haar. Der Digitalwecker auf dem kleinen Beistelltablett zeigt auf kurz vor fünf. Sollte er sich noch länger im Bett von der einen Seite zur anderen wälzen, sich gedankenlos durchs Haar fegen, gelegentlich dabei das starke Gähnen unterdrücken, wie er es schon seit zwei Stunden praktizierte? Merana hielt kurz inne. Dann richtete er sich ein wenig auf. Nein. Er bestärkte seinen Entschluss, indem er mit dem Oberkörper Schwung aufnahm und sich dann mit einem jähen Ruck aus dem Bett schnellen ließ. Die Tür des Kleiderschranks stand halb offen. Er langte nach T-Shirt und kurzer Sporthose. In der Küche schnappte er sich ein Glas Wasser. Im Vorraum schlüpfte er in die Laufschuhe, dann verließ er das Haus. Die Luft fühlte sich frisch an. Er wandte den Kopf nach Osten. Der breite goldfarbene Streifen am Himmel leuchtete schon intensiv. In einer guten Viertelstunde würde die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schicken, schätzte er. Auch heute würde ganz Salzburg sich über einen weiteren herrlichen Sommertag freuen dürfen. So wie schon seit gut einer Woche. Langsam nahm er Tempo auf, hielt sich nach rechts. Er würde heute eine der längeren Routen wählen, wollte noch vor der Aigner Kirche in einen Feldweg einbiegen. Normalerweise startete er seinen Morgenlauf zwischen sechs und halb sieben. Heute war er eben schon eine Stunde früher dran. Die noch weit entfernten Baumreihen waren dicht belaubt. Aber Merana kannte zwei Stellen, durch die man den Blick frei hatte auf die Konturen der Stadt, vor allem auf die herrliche Silhouette der Festung.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte er seine enge Pinzgauer Heimat verlassen, um in Salzburg ein Studium anzufangen. Es hatte nicht lange gedauert, dann hatte er die Stadt bereits zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Die Luft fühlte sich angenehm frisch an. Er begann, schneller zu traben. Wie oft hatte er dieses Panorama schon erblickt? Es war ihm nie alltäglich geworden. Er war jedes Mal aufs Neue fasziniert. Genauso wie beim Anblick des mächtigen Untersberges, der sich ihm auf der linken Seite bot. Wie ein großer Wächter sah er aus, der sanft sein breites felsiges Haupt zum Schutz der Stadt anhob. Plötzlich gewahrte Merana einen mittelgroßen Hund neben sich. Der gehörte wohl zu einem der Bauernhöfe oder einem der Privathäuser der näheren Umgebung. Eine ähnliche Rasse wie die von Wendy, stellte er fest. Nur das Fell war heller. Er dachte oft an die tapfere Hündin seiner Nachbarsleute. Wenn Wendy nicht gewesen wäre, würde Merana vielleicht gar nicht mehr über Feldwege laufen können. Wendy hatte ihm damals vermutlich das Leben gerettet. Sie hatte die Gefahr gewittert und war mutig auf den Rand des kleinen Wäldchens zugestürmt, das sich hinter seinem Haus erstreckte. Er hatte damals auf die dahinhetzende Hündin mit einer schnellen Bewegung reagiert. Dadurch hatte ihn die Kugel um Haaresbreite verfehlt. Und auch seine Nachbarin, die Wendys Namen rufend hinter dem Hund herlief, hatte nichts abbekommen. Leider hatte eine weitere Kugel dann die tapfere Wendy getroffen. Zum Glück war es nur ein Streifschuss gewesen. Auch diese Kugel war für den Kommissar gedacht gewesen. Die heimtückische Schützin wollte Merana davon abhalten, seine Ermittlernase noch tiefer in den damals aktuellen Fall zu stecken. Natürlich hatte der Kommissar weiter ermittelt und schlussendlich auch die Wahrheit ans Licht gebracht. Auch dank Wendy war ihm dies möglich gewesen, die ihm durch ihr Eingreifen vermutlich das Leben gerettet hatte. Der schnüffelnde Hund neben ihm hatte offenbar genug von seiner Gesellschaft. Er bog kläffend ab, hielt auf die Häusergruppe zu, die von der Kirche und den Gebäuden des alten Schlosses gebildet wurden. Wenn es sein Dienst erlaubte, würde er bald wieder Wendy abholen und sie mit nach Hellbrunn nehmen. Sie liebte es, zusammen mit Merana durch das Gelände der weit angelegten Parks zu traben. Er liebte es auch. Selbstverständlich hielt er Wendy dabei an der Leine.

Wenn er das eingeschlagene Tempo beibehielt, würde er in einer knappen Dreiviertelstunde zurück sein. Er würde duschen und sich dann umziehen. Er würde sich ein ausgiebiges Frühstück gönnen, ehe er zum Dienst aufbrach. Sein erster Termin war für halb acht angesetzt. Polizeipräsident Hofrat Günther Kerner wollte sich noch kurz mit ihm besprechen. Es ging um das wichtige Treffen, das die Vertreter des Innenministeriums für zehn Uhr angesetzt hatten. Es gab neue Erkenntnisse zum brisanten Thema, das den gesamten Apparat der Sicherheitskräfte schon seit knapp drei Wochen intensiv beschäftigte. Angekündigt waren mögliche Terroranschläge im Umfeld der Salzburger Festspiele. Beim heutigen Treffen des Innenministeriums und bei allen sich daraus ergebenden Maßnahmen hatte der Leiter der Salzburger Kriminalpolizei sich intensiv einzubinden. Das wollte das Innenministerium, und vor allem bestand sein Chef darauf. Also würde Merana dem Folge leisten. Vielleicht waren es die Gedanken über die möglichen Szenarien der in den Raum gestellten Terrorgefahr. Vielleicht war es auch einfach das Behagen an der prachtvollen Landschaft ringsum, die sich beim Aufgang der Sonne noch intensiver präsentierte. Wie auch immer. Er begann rascher zu laufen. Seine Füße eilten in weitaus schnellerem Tempo über den eingeschlagenen Weg als beabsichtigt. Somit stand er schon zehn Minuten vor sechs unter der Dusche. Er hatte sich eben den ersten Espresso genehmigt, überlegte kurz, ob er sich nur einfache Spiegeleier oder doch ein pikantes Rührei mit Ziegenkäse und Speck zubereiten sollte, als sein Handy anschlug. Es war Abteilungsinspektor Otmar Braunberger, einer seiner engsten Mitarbeiter. Merana hörte fünf Minuten zu, dann legte er das Handy zur Seite. Es gab einen mysteriösen Todesfall, wie er eben erfahren hatte, möglicherweise handelte es sich dabei sogar um einen Mord. Thomas Brunner und seine Spezialisten aus der Tatortgruppe waren bereits unterwegs. Und der Chef der Salzburger Kriminalpolizei hatte höchstpersönlich die Ermittlungsleitung zu übernehmen. Das war ein klarer Auftrag des Herrn Polizeipräsidenten, wie Otmar Braunberger ihm versichert hatte. Um das Meeting mit den Spezialisten des Innenministeriums hatte sich ab sofort Meranas Stellvertreterin zu kümmern, Chefinspektorin Carola Salman. Der Kommissar streckte die Hand aus, drückte die Off-Taste am E-Herd. Also kein aufwändiges Rührei. Auch keine Spiegeleier. Er griff nach der leeren Tasse. Ein zweiter Espresso ging sich in jedem Fall noch aus. Dann würde er sich sofort auf den Weg machen, direkt in die Salzburger Innenstadt. Und er würde sich einen Haferflockenriegel in die Tasche stecken.

2

Den ersten Streifenwagen der Kollegen machte er schon am Kajetanerplatz aus, direkt vor den Pollern und der Schranke, die die Zufahrt zur Kaigasse absperrten. Er parkte sein Auto daneben. Ein uniformierter Kollege hob grüßend die Hand an die Kappe. »Guten Morgen, Herr Kommissar.«

»Guten Morgen.«

Er kannte den jungen Beamten. Er war österreichischer Nationalmeister im Taekwondo. Das war eine koreanische Kampfsportart, wie Merana bekannt war. Auch seine Kollegin Carola Salman war sehr versiert darin. Auch sie trug den Schwarzen Gürtel, so wie der junge Beamte. Die Stimme des Kollegen hatte einen respektvollen Ton, klang fast ehrfürchtig. Vielleicht ist das so, wenn man seinen Posten in unmittelbarer Nähe einer Kirche zu beziehen hat, dachte er. Und es war zudem ein prachtvolles Gotteshaus, das den Rand des großen Platzes säumte. Der dreigeschossige Flügelbau mit den eindrucksvollen Säulen und Pilastern erinnerte daran, dass die Kirche einst Teil einer Klosteranlange im späten 17. Jahrhundert war.

Die hohe Tambourkuppel über dem Zentralbau schimmerte schon glänzend im Licht der Morgensonne, wie Merana bemerkte. Ja, es versprach ein schöner Tag zu werden. Zumindest, was das Wetter anbelangte. Ansonsten konnte der Kommissar noch nicht abschätzen, ob dieser Tag noch irgendeinen schönen Moment für ihn bereithielt. Immerhin befand er sich auf dem Weg zu einem Ort, an der die Leiche einer jungen Frau lag. Ob Unfallstelle oder Tatort würde sich wohl noch erweisen. Er eilte in die Gasse, sah die Fahrzeuge der Tatortgruppe, dahinter zwei weitere Streifenwägen. Der Aufgang zur Nonnbergstiege war ebenfalls mit gelben Absperrungen versehen. Auch hier waren zwei uniformierte Kollegen postiert. Zwei weitere kümmerten sich um die Passanten, die, aus der Innenstadt kommend, die Gasse entlang wollten. Einige harrten aus, wollten sich nicht weiterschicken lassen. Schaulustige, Neugierdsnasen, Merana kannte das zur Genüge aus vielen ähnlichen Situationen. Er blickte kurz nach oben. Vor einer Stunde hatte er die Festung noch aus der Entfernung gesehen, war in Begleitung eines zutraulichen Hundestrawanzers quer durch die gefällige Landschaft von Aigen getrabt. Er hatte den Anblick der mächtigen Burg genossen, wie immer. Er hätte nicht gedacht, dass er kaum zwei Stunden später sich direkt am Fuß des Festungsberges einfinden würde. Nicht, um den prächtigen Blick auf die Burg aus direkter Nähe auszukosten, sondern um einen mysteriösen Todesfall zu untersuchen. Wann bin ich diese steinernen Stufen eigentlich das letzte Mal nach oben gestiegen? Das muss vor rund einem Monat gewesen sein, überlegte er, als er die Großmutter aus dem Pinzgau bei sich hatte. Die alte Frau, immer noch rüstig, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Weg zum Frauenkloster und weiter bis zur Festung über diesen zauberhaften Aufgang zu nehmen.

»Nochmals einen guten Morgen, Martin.«

»Hallo, Otmar.« Der Abteilungsinspektor erwartete ihn auf einer der ersten Stufen. Er reichte ihm die Hand. »Was für ein prächtiger Sommermorgen. Es wäre weitaus angenehmer, an den Wolfgangsee zu fahren. Aber was machen wir? Wir begeben uns zu einem Platz, an dem eine Leiche liegt. Kannst du mir schon mehr über die Tote sagen als vorhin am Telefon?«

»Zumindest haben wir die offizielle Bestätigung. Bei der Toten handelt es tatsächlich um Isolde Laudess.«

Also doch. Laudess. Er hatte schon befürchtet, dass es stimmte. Dabei handelte es sich nicht einfach um irgendeinen Namen. Laudess. Dahinter verbarg sich viel. Der Name kündete von Erfolg und Ruhm. Von großer Publikumsbegeisterung genauso wie von nahezu hymnischem Kritikerzuspruch. Und das nicht nur in Salzburg während der Festspielzeit, sondern das ganze Jahr über im gesamten deutschsprachigen Raum. Allerdings war die geballte Aufmerksamkeit dabei nicht auf den Vornamen Isolde gerichtet. Die frenetische Begeisterung galt Senta Laudess, der derzeitigen Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen. Senta Laudess, gefeierter Star auf den Bühnen bedeutender Theaterhäuser. Dazu kam eine Reihe glänzender Auftritte in Film- und Fernsehproduktionen. Nicht wenige davon mit großen Preisen ausgezeichnet. Genau darauf hatte auch der Chef Bezug genommen. Merana hatte noch während der Herfahrt mit ihm telefoniert.

»Immerhin geht es hier um die Schwester der großen Senta Laudess, der von allen gefeierten Buhlschaft im heurigen Festspiel ›Jedermann‹. Da will ich überhaupt keine Diskussion, Martin. Ich wünsche, dass sich der Chef unserer Kriminalpolizei höchstpersönlich genau dieses Falles annimmt. Um die oberschlauen Kollegen aus dem Innenministerium soll sich gefälligst Carola kümmern. Das schafft sie locker. Wer weiß, ob es tatsächlich neue Verdachtsmomente gibt, wie sie behaupten. Oder ob die Herren Terrorspezialisten wieder einmal das Gras wachsen hören, wo noch nicht einmal die Spitze eines Halms aus dem Boden hervorlugt. Du wirst dich gefälligst um die rasche Auflösung dieses Verbrechens bemühen, Herr Kommissar. Eine junge Frau liegt tot am Aufgang zum Nonnbergkloster. Und dabei handelt es sich nicht um irgendein dahergelaufenes Salzburger Mädel, sondern um die Schwester der Salzburger Buhlschaft. Du bist ja gewissermaßen Stammgast im Festspielbezirk, kennst dich in jedem Winkel des Festspielhauses aus, bist mit allen dort per Du. Genau so einen Mann brauchen wir jetzt, um den Fall im Höchsttempo aufzuklären. Immerhin blickt die halbe Welt nach Salzburg wegen der berühmten Festspiele, in diesem Sommer noch mehr als sonst.«

Wie immer hatte sein Chef maßlos übertrieben. Dass die kulturinteressierte Welt ihre Aufmerksamkeit heuer noch stärker als sonst auf Salzburg richtete, stimmte schon. Immerhin feierten die Festspiele ein großes Jubiläum. Aber dass er, Martin Merana, »gewissermaßen Stammgast« im Festspielbezirk wäre, traf einfach nicht zu. Gut, der Zufall hatte ihn in den letzten Jahren immer wieder mal in diese Szenerie geführt. Er hatte den Mord an einer bedeutenden Sängerin aufgeklärt, an der gefeierten Darstellerin der Königin der Nacht in Mozarts »Zauberflöte«. Und davor war es ausgerechnet das »Jedermann«-Spektakel gewesen, das Merana erstmals in beruflichen Kontakt mit den Salzburger Festspielen brachte. Auf der »Jedermann«-Bühne war der bekannte Schauspieler Hans Dieter Hackner gelegen. Mit einem nachgemachten Renaissancedolch in der Brust. Und Merana musste sich damals die Frage stellen, wer um alles in der Welt ausgerechnet Hackner, dem gefeierten Darsteller des Todes, den Tod geschickt hatte. Er hatte die Frage schließlich beantworten können. Aber das war es schon im Großen und Ganzen gewesen, was ihn bei seiner Ermittlungsarbeit ins Reich der Festspiele geführt hatte. Keine Rede davon, dass er sich »in jedem Winkel« des ohnehin äußerst unübersichtlichen riesigen Festspielhauses auch nur halbwegs auskannte. Und die Anzahl der Menschen, mit denen er im Laufe seiner Arbeit auf das Du-Wort gekommen war, ließ sich locker an den Fingern einer Hand abzählen. Auf keinen Fall zählte da jemand aus dem Kreis der verantwortlichen Persönlichkeiten dazu. Er war mit einem der Beleuchtungsmeister per Du und noch mit ein paar gewiss sehr fachkundigen, aber eher unauffälligen Leuten, die vor allem im Hintergrund agierten.

»Ich gehe voran, Martin«, ließ Otmar Braunberger sich vernehmen und nahm die nächsten Stufen. Merana folgte seinem Abteilungsinspektor. Der Stufenaufgang bildete eine eigene schmale Gasse, flankiert von Fassaden hoher alter Häuser, die links und rechts emporragten. Dem Gemäuer war immer wieder deutlich anzumerken, dass der ansteigende Klosteraufgang schon sehr alt war. Nach etwa 30 Metern rückte ein Teil der zur Kaigasse gelegenen Häuserfront etwas von der immer noch steil ansteigenden Treppe ab. Dadurch ergab sich ein schmaler Freiraum, etwa zwölf Meter lang und an der breitesten Stelle etwa vier Meter tief. Der Untergrund war aus Steinen geformt, teilweise von Moos überwuchert. An der aufragenden Seitenmauer, die zur steil ansteigenden Treppe auf der rechten Seite gehörte, hatte sich allerlei Gesträuch und Blattwerk angesiedelt. Sie wichen zwei Kollegen der Tatortgruppe aus, die damit beschäftigt waren, Teile der Umgebung mittels Kameras festzuhalten. Andere sammelten Proben ein. Am hinteren Teil des Freiraums, knapp bevor die Häuserfront wieder im rechten Winkel zur Treppe stieß, erkannte Merana die Gerichtsmedizinerin. Der Körper der Frau, neben dem sie kniete, war bizarr verrenkt. Das konnte der Kommissar auch aus der Entfernung feststellen. Braunberger hielt inne, ließ dem Kommissar den Vortritt. Auch Merana blieb stehen, als schiene er abzuwarten. Fast zwei Minuten verharrte er in dieser Position. Erst dann macht Merana den nächsten Schritt, blieb wiederum stehen, wartete, ehe er einen weiteren Schritt und dann behutsam den nächsten setzte.

»Guten Morgen, Martin.« Die Gerichtsmedizinerin hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben. Offenbar wusste sie auch so, dass er sich behutsam näherte.

»Hallo, Eleonore.«

Er blieb stehen, ließ sich neben ihr nieder, stützte die Arme auf die Knie. Er vermeinte, zweierlei wahrzunehmen. Die entschlossen anmutende Ausstrahlung der Ärztin, die jeden Handgriff mit professioneller Routine setzte. Und zugleich glaubte er, eine Art Aura zu verspüren, die den Platz umgab, auf dem die Tote lag. Offenbar war die junge Frau mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, stellte er fest. Die dunkle Lache auf dem Untergrund war nicht sehr groß. Das Blut war längst eingetrocknet. Die Augenlider der Leiche waren offen. Die gebrochenen Augen starrten glasig in den Himmel. Er richtete seinen Blick zur Ärztin. »Kannst du mir schon Näheres sagen, Eleonore?«

Die Medizinerin wandte sich ihm zu, dann wies sie mit dem Kopf zur ansteigenden Steintreppe. Die Stützmauer war an dieser Stelle etwa fünf Meter hoch.

»Es steht wohl fest, dass sie von da oben herunterfiel. Das lässt sich einerseits aus den Verletzungen nachvollziehen. Außerdem haben Thomas Brunners Leute entsprechende Spuren am Gesträuch entdeckt, dass am oberen Teil der Mauer wuchert. Wann die bedauernswerte junge Frau hier herunterstürzte, kann ich natürlich nicht exakt sagen. Dazu weiß ich wohl mehr, wenn ich sie auf meinem Untersuchungstisch in der Gerichtsmedizin habe.«

»Ich weiß, Eleonore …«

Sie ließ ihn nicht weiterreden, schnaubte kurz.

»Und ich weiß, geschätzter Herr Ermittlungsleiter, dass du wie immer jetzt schon eine Einschätzung von mir hören willst.« Ihre Stimme hörte sich ein wenig fauchend an.

Dem Kommissar war bewusst, wie sehr er die Medizinerin bisweilen zu dieser Vorgehensweise nahezu drängte. Aber Frau Dr. Eleonore Plankowitz hatte mit den von ihr so bezeichneten Einschätzungen in den meisten Fällen äußerst präzise gelegen, wie die späteren forensischen und labortechnischen Untersuchungen bestätigt hatten.

»Also gut, Martin, dann will ich mich dir zuliebe auch dieses Mal darauf einlassen. Ich schätze, der Tod der jungen Frau ist zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens eingetreten.« Sie wies auf die Tote. »So wie es sich auf den ersten Blick zeigt, hat sie sich beim Aufprall nicht nur einen Teil der hinteren Schädeldecke zertrümmert. Sie hat sich auch das Genick gebrochen. Sie dürfte also sofort tot gewesen sein. Die anderen an der Leiche sichtbaren Verletzungen, vor allem die Abschürfungen, hat sie sich beim Herunterfallen zugezogen. Sie passen auch alle zur äußeren Struktur an dieser Mauer. Bis auf die eine Verletzung, die ist etwas eigenartig.« Eleonore Plankowitz deutete auf die linke Gesichtsseite der Toten. Auf Höhe der Schläfe war eine längliche, etwa drei Zentimeter breite Blessur zu erkennen. Merana beugte sich nach vorn. Er bemühte sich, die Tote nicht zu berühren, auch wenn er Schutzhandschuhe übergestreift hatte. Er betrachtete aufmerksam die Stelle. »Was sind das für eigenartige dunkle Partikel in der Wunde?« Er richtete sich wieder auf.

»Das wüsste ich auch gerne«, antwortete die Medizinerin. »Ich halte das für Splitter. So wie die Wunde aussieht, könnte sie an dieser Stelle von etwas getroffen worden sein.«

»Du meinst Fremdeinwirkung?«

Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Kann sein, kann nicht sein. Ich finde, es reicht für das unprofessionelle Prozedere an Einschätzung an dieser Stelle. Nur noch so viel. Wie mir Thomas vorhin bestätigte …«

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