Loe raamatut: «Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur», lehekülg 12

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Man befindet sich in Athamas’ Haus – bis jetzt war der Standort der Handlung etwas dunkel – und der Aiolide beginnt Befehle zu erteilen, wie es Pentheus in Met. III 562–563OvidMet. III 562–563 oder Agave in Met. III 713OvidMet. III 713 berichten. Ovid ist der einzige Autor, der die von Athamas gesehenen Tiere als eine Löwin mit ihren zwei Jungen identifiziert hat. Das bedeutet, dass Athamas nicht nur Learchos mit einem Tier verwechselt, sondern auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder, was die spätere Verfolgung von Ino und Melikertes rechtfertigen würde. Zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur werden Ino und ihre Kinder mit einer Löwin und ihren Jungen verglichen193. In Bezug auf dieses Bild könnte man sich auf das berühmte Frg. 1a Kannicht / SnellTragica AdespotaFrg. 1a Kannicht / Snell von Adespota: βρυαζούσης λεαίνης und Lac.Pl. Stat.ThebLactantius PlacidusStat.Theb. I 230. I 230 stützen; es erklärt, der Aiolide leonem se putaui occideret, obwohl es eigentlich sein Sohn war194.

Der Ausdruck uisa est mihi (514) ist, wie Anderson sagt, „a nice example of ironically ambivalent Latin“195: Als Passiv bedeutet es, dass Athamas sie wirklich gesehen hat; mit der Bedeutung ‚So habe ich es gesehen‘ = ‚Es sieht so aus‘ wurde dem Leser ein Hinweis darauf gegeben, was wirklich passiert war. Wenn man aber den Text eingehend analysiert, bemerkt man eine gewisse Ungereimheit in Ovids Versen: Wenn sich die Auswirkung des Arzneitranks unmittelbar (protinus) ereignete, wie konnte Athamas dann sagen, dass er kurz vorher (modo) eine Löwin mit ihren Jungen gesehen hatte?

Dann folgt die Jagdszene. Der Leser erinnert sich sofort an einen sehr ähnlichen Kontext für Aktaion und Pentheus mit seinem tragischen Ergebnis. Aber Athamas verfolgt diesesmal nicht Learchos, sondern Ino; der Grund dafür ist offensichtlich: Learchos kann noch nicht laufen, er ist ein schutzloses Kleinkind. Erwähnenswert ist, dass Ovid das Alter der Kinder von Ino verändert: Wenn Learchos ein Kleinkind ist, ist Melikertes ein Neugeborener. Aber Bacchus ist ein Erwachsener196, was unmöglich ist, wenn man der in Nonnos’ Dionysiaka197 (D. IX 53–91Nonnos von PanopolisD. IX 53–91) überlieferten Tradition folgt, nämlich dass Dionysos und Melikertes gleichzeitig von Ino gestillt worden sind. Die Änderung der Perspektive, und zwar dass Ino und nicht Learchos gejagt wird, „steigert das Ausmaß der Raserei“198.

Eine ähnliche Szene wird bei Nonnos (Nonnos von PanopolisD. X 68–73D. X 68–73) geschildert, aber nicht mit Learchos, sondern mit Melikertes. Dort fleht dieser seinen Vater an; da streckt Learchos, als Kleinkind, seinem Vater die Ärmchen liebevoll entgegen. In Bezug auf die Metamorphosen betont Anderson: „Ovid describes the pathetic actions of the object of the main verb in a series of participial clauses, without revealing the violent verb that nullifies the child’s gestures“199. Seine Grausamkeit ist grenzenlos. Vor den Augen seiner Mutter schwingt Athamas seinen Sohn200 nach Art einer Schleuder201 durch die Luft, bis er dessen Kopf am harten Gesteine zerschmettert202. Es sieht so aus, als werfe er einen Stein, aber es ist nicht so. Das Schwingen in der Luft hatte nur das Ziel, mehr Geschwindigkeit zu gewinnen, um den Stoß am Gesteine noch kräftiger werden zu lassen203. Ovid wird diese Szene im Fall von Herkules und des jungen Lichas wiederholen204; auch Seneca übernimmt diese grausame Darstellung für seinen Herkules, denn dieser Held bringt eines seiner Kinder um, indem er es an einem harten Gestein zerschmettert (Sen. HFSenecaHF. 1005–1007. 1005–1007). Bömer erläutert treffend Ovids Inkongruenz mit dem Begriff ‚Jagd‘, „denn kein Jäger wird es für ratsam erachten, das Junge einer Löwin auf diese Weise zu töten“205.

Zur Grausamkeit des Aioliden – es ist das einzige Mal, dass Learchos’ Tod so beschrieben wird – kommt noch das zarte Kindesalter von Learchos hinzu: Dies macht Athamas’ Tat noch erbamungsloser. Und als ob das nicht genug wäre, streckt das Kind seinem verbrecherischen Vater die Arme lächend entgegen, eine Szene, die, wie bereits erwähnt, Melikertes’ Tod bei Nonnos beeinflussen sollte206. Weil Learchos ein Kleinkind war, konnte Athamas möglicherweise nicht die Pfeile verwenden. In dieser Textstelle wird Athamas als furibundus (512), amens (515) und ferox (519) angesehen.

 6’) InoIno und MelikertesMelikertes’ FluchtFlucht (519–530)

Ovid präsentiert eine sehr realistische Meinung: Ino wird wahnsinnig, wahrscheinlich aufgrund des Giftes von Tisiphone; aber welche Mutter würde nicht halbverrückt angesichts einer solchen von Ovid geschilderten Darstellung, nicht tief verstört aus Angst und Schmerz, nicht umnachtet vor der geschauten Szene? Dieser Meinung ist Bernbeck: „Sie verhält sich daher zunächst nicht anders, als man von einer Mutter, die der Ermordung ihres Kindes zusehen muß, erwarten kann“207.

Ino flieht, wahnsinnWahnsinnig geworden. Das Geschrei, die ungeordnete Flucht, die fliegenden Haare208 sind physische Hinweise einer Störung ihrer Vernunft. Der Aufschrei könnte eine Äußerung ihres aufgeregten Zustandes sein, aber „it can also prepare us for her Bacchic fantasy“209. Bei Seneca (HFSenecaHF. 1009. 1009) flüchtet Megaira furenti similis, nachdem Herkules seine zwei Söhne getötet hat. Ino trägt sein Kind auf ihren Armen. In der Tat gibt es eine doppelte Bewegung in Hinblick auf Inos Arme: Derjenige, der aus dem mütterlichem Schoß herauskommt, stirbt auf ewig; derjenige, der in ihm bleibt, stirbt auch, aber um für ewig zu leben.

Das Geheul von Vers 521 wird in Vers 523 artikuliert: Euhoe, Bacche!; sie erinnern den Leser an Verg. Aen. VII 389VergilAen. VII 389. Es ist ein Hinweis nicht nur auf die Erziehung dieses Gottes durch Ino und die Verehrung, die er von seiner AmmeAmme bekommt, sondern auch auf den Irrsinn, der sie überwältigt. Im Gegensatz zu Athamas’ Wahnsinn hat der von Ino bacchische Zeichen, über „die nach der Tradition nur Bacchus verfügte“210. Bömer erläutert das, indem er sagt, „die SageSage gehört in den dionysischen Kreis“211. Wichtig ist zu bemerken, „the cry to Bacchus in 523 … comes from an insane woman, not from the once-proud aunt“212. Wie Ino sich um Bacchus kümmerte, als er ein Kind war, muss sie nun sterben, wenn Melikertes noch ein Kleinkind ist.

Bernbeck glaubt, dass, „Ovid wieder die beiden Motive dolor und uenenum miteinander vermischt“213. Tisiphones Gift verursacht aber nicht m.W. einen bacchischen Irrsinn, wie der deutsche Gelehrte behauptet214. Der Wahnsinn, der sowohl durch das Gift als auch durch den grausamen Tod ihres älteren Sohnes ausgelöst wurde, äußert sich m.E. in bacchantischer Art und Weise215. Diese Anrufung, die Ino für ihre Ermutigung und ihre Rettung ausspricht, veranlasst das sarkastische Lachen von Juno: Möge dieser Gott mit ihr verfahren, wie sie es mit ihrer Schwester Agave machte, nämlich dass die Mutter ihren Sohn tötet.

Ovid platziert Ino plötzlich auf dem Gipfel eines Felsblocks, genauso wie er blitzartig den Weg zur Unterwelt präsentiert hatte. Der Dichter beschreibt wunderschön den Felsvorsprung, der über das Meer ragt, wie ein Sprungbrett zum Tode. Das felsige Gelände gilt als ein Dach, das die Wellen vor dem Regen abschirmt. Anderson glaubt, diese Andeutung, „distracts us from the plight of Ino and son“216. Meiner Meinung nach will Ovid mit den Göttern des Himmels und des Wassers spielen: Der Felsblock, von dem Ino springen wird, wird Leukothea, eine Seegöttin, vor HeraHera, einer olympischen Göttin, beschützen. Auf jeden Fall scheint es m.E. nicht so, dass dieses Bild „die Stimmung der Szene spielerisch umschlagen läßt“217.

Ino kommt bis zu diesem Ort dank der Kraft, die insania (528)218 ihr verleiht. Juno war zum tiefen Auernus gegangen, als sie von Hass und Zorn angetrieben war; Ino erreicht den Gipfel der Felswand, weil der WahnsinnWahnsinn sie treibt. Tisiphone handelt unverzüglich, wie auch Ino: Sie springt ohne Angst. Der Unterschied zu Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 80–121 D. X 80–121 ist groß, weil Ino in dem griechischen Gedicht nicht nur mit dem Sprung zögert, sondern eine lange und pathetische Rede hält, bevor sie sich ins MeerMeer stürzt. Dass Ino nicht zögert, mit Melikertes zu springen, könnte m.E. durch den gewalttätigen Mord von Learchos durch seinen Vater Athamas veranlasst sein: Man muss schnell agieren, es gibt keine Zeit für Zweifel. Ovid deutet die Etymologie von Leukothea mit Blick auf das Weiße – angeblich des Schaums –, das Ino aufnimmt. Anderson meint, „the narrator coolly looks at the way the water grows white with foam when the bodies strike it, but he refuses to waste feeling on the tragic souls“219.

 7’) Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung (531–542)

Ovid setzt auf die Großeltern, um die Enkelkinder zu beschützen220. So geschieht es im dritten Buch für Pentheus221; nun ist es VenusVenus, die für ihre Enkeltochter Fürbitte einlegt222. Venus’ Eingriff aber „ist gegenüber der Überlieferung neu“223. Der Grund ist klar: Von der Göttin heißt es: inmeritae neptis miserata labores (531), weswegen es möglich ist, dass ein positives Bild von Ino gezeichnet wird224. Bernbeck sagt, dieser Bitte, die der Divinisierung vorhergeht, folgt der Darstellung epischer Tradition225.

Das Problem liegt darin, dass Ovid einen Anlass finden muss, dass sie sich für Ino einsetzt; Bernbeck denkt, dieses Motiv „besteht in der leiblichen Verwandtschaft“226. In der Tat bleibt alles im Schoße der Familie, weil VenusVenus ihrem väterlichen Onkel Neptun schmeichelt. Anderson schreibt eine interessante Anmerkung über diesen Gott: „Neptune intervened against Juno, of his own accord, in the storm of Aen. 1 and, in response to Venus’ appeal, in Aen. 5779 ffVergilAen. V 779“227. Neptuns Rolle als ‚Divinisierer‘ von Ino und Melikertes ist absolut neu. Aristides hatte schon Poseidon mit Leukothea in Verbindung gebracht, obwohl Aristides ihre Identiät mit Ino bestreitet228.

VenusVenus bittet Neptun direkt, Erbarmen zu haben229 und sie als Seegötter aufzunehmen. Dies ist tatsächlich die erste physische Metamorphose der Erzählung. Anderson denkt, das Verb iactari „implies that she and her son are still alive, tossed on the waves“230. So weit darf man nicht gehen: Ovid bezieht sich m.E. ganz einfach auf Inos Sprung.

Der lateinische Dichter lokalisiert den SturzSturz dank des ionischen MeerMeers, das „der südliche Teil des Adriatischen Meeres“231 ist. Anderson behauptet treffend, „it may be better to allow Ovid to be poetic and vague than to argue that Ino made it down to the Corinthian Gulf and that Ovid conceives of that body of water as part of the Ionian Sea“232; dieser Meinung ist auch Haupt233. Bömer äußert sich sehr ähnlich: „Es ist aus diesen Worten nicht zu ersehen, ob Ovid (oder seine Quelle) eine bestimmte Stelle, genauer: den Korinthischen oder den Saronischen Golf gemeint hat“234. Wenn man eine konkrete Angabe sehen will, wird angenommen, „daß er tatsächlich die Nordseite des Isthmus gemeint hat, die zum mare Ionium führt („Korinthische Version“)“235; das steht der megarischen Version, die auf den Molurischen Fels hinweist, entgegen. Andererseits verhindert Learchos’ Tod außerhalb der Herrschaft der Meeres offensichtlich, dass sich VenusVenus ihres ältesten Urenkels erbarmt.

Die Göttin bezieht sich auf ihren Namen, um gewisse Sonderrechte im Königreich des Meeres zu haben. Ovid denkt eigentlich an AphroditeAphrodite, wie es im Vers 538 gesagt wird; in der Tat heißt Schaum auf griechisch ἀφρός; von ihm sagt Hesiod (ThHesiodTh. 195–198. 195–198 ), dass sie aus ihm geboren ist. Merkwüdig ist, dass Bömer andeutet: „der Name ist nicht griechisch“236, weil Ovid an VenusVenus und nicht an Ἀφροδίτη denken muss. Auffälliger noch ist die Art, die Venus verwendet, um den Schaum anzuführen, denn sie sagt nicht, dass sie aus ihm geboren ist, sondern dass sie selbst als Göttin einst Schaum war (spuma fui, Vers 538). Das Problem ist „der Widerspruch … zu den Worten der Venus selbst, in denen sie sich nicht als Tochter Jupiters, sondern als die Schaumgeborene bezeichnet“237, das heißt, dass Ovid auf die Venus oder eher auf die Aphrodite Urania hinweist, deren Verwandtschaft mit Neptun sehr zweifelhaft ist. Schließlich ist die Verwechslung zwischen graium und gratum in der Antike interessant. In der Tat findet man graiumque gemäß Andersons Ausgabe in den Handschriften LM2 und gratumque in der Handschrift A.

Bernbeck fasst die verschiedenen Punkte der Bitte nach dem Schema der epischen ‚impetratoria‘-Rede ausgezeichnet zusammen: „Zuerst die Anrede mit einer Ehrerbietigkeitsformel (532f.), dann der Hinweis auf die Situation, die durch die Bitte geändert werden soll (534f.), darauf die Bitte selbst (536), zuletzt ein Gedanke, der an das Verhältnis gegenseitiger persönlicher Verpflichtung erinnert und dadurch die Bitte unterstreicht“238. Falsch ist aber die Behauptung von Bernbeck, worauf auch Bömer239 hinweist: „Dort wird die Verwandlung, soweit überhaupt eine Gottheit genannt wird, auf Bacchus zurückgeführt“240.

Neptun nimmt das Flehen auf und führt einen kleinen Prozess von DivinisierungDivnisierung durch, indem er alles von ihnen wegnimmt, was sterblich ist, und ihnen alles verleiht, was an ihnen ewig ist. Anderson achtet auf Ovids Gebrauch des Wortes maiestas in Met. II 847OvidMet. II 847 und er glaubt nicht, „we may doubt that Ovid really wants us to admire the exchange of mortality for this and of greatness“241. Bömer vermutet, dass dieses Merkmal der Götter, das sich in grauitas deorum spiegelt, eine griechische Tradition ist, die in die lateinische Welt zu Ciceros Zeit aufgenommen wurde. Allerdings erklärt der deutsche Forscher, „es verdient angemerkt zu werden, daß die Handbücher über die römische Religion die maiestas deorum nicht behandeln“242. Ein Hinweis auf diese Verwandlung ist nicht nur die Änderung des Aussehens, sondern auch die Namensänderung in LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon. Die lateinischen Versionen dieser Namen aber werden nicht erwähnt; es sieht so aus, als ob Ovid nur die griechische Tradition dieser Besonderheit übernehme. Anderenteils wird die Umgestaltung ihrer Körper nur angedeutet (faciemque nouauit, Vers 541). Allerdings „gibt es keine anschauliche, allmähliche Veränderung, wie sie Ovid in anderen Erzählungen beschreibt“243.

Bernbeck schließt daraus: „So hat Ovid vom Schluß der SageSage ausgehend die Ereignisse gewissermaßen rekonstruiert und die Überlieferung um eine Bittszene erweitert, um eine Szene also, die für epische Darstellung charakteristisch ist“244. Viarre meint, „[la] métamorphose d’Ino et de Mélicerte s’opère de la même façon245 au moyen de l’amour – Vénus – et de l’eau – Neptune – [Cfr. IV, 536ss]“246. Er denkt, dass dieses Erbarmen über Ino durch die Linderung einer unhaltbaren Situation zu einer echten Apotheose führt.

 8’) Anhang: Inos sidonische Gefährtinnen (543–562)

Zunächst muss man sich nach der Szene selbst fragen, weil sie kein anderer literarischer bzw. mythographischer Autor überliefert hat, worauf Bömer in seinem Kommentar hindeutet: „Die Geschichte ist anderweitig nicht bekannt“247. Da die Verwandlung in Steinfiguren oder in Küstenvögel ein Element ad hoc für die Metamorphosen ist, wird logischerweise angenommen, dass diese Textstelle am plausibelsten eine Erfindung Ovids ist. Dazu kommt noch: „Dies Motiv der auf die Haupthandlung folgenden Verwandlung von ‚Begleitpersonen‘ findet sich bei Ovid öfter, immer variiert: II 340ff. Heliaden. VIII 533ff. Meleagriden. XI 67ff. Maenaden“248. Ovid gefällt es nach Anderson „to note how sympathy for a victim leads to metamorphosis for friends“249. Man darf jedoch nicht ausschließen, dass der römische Dichter sich auf eine dunkle Tradition bezieht, die die Gegenwart der Ismeniden nahe den Felswänden auf diese Weise erklären wollte.

Ovid schildert ein Gefolge von sidonischen Frauen, die Ino begleiten. Sein Vater KadmosKadmos kam ursprünglich aus Sidon in Phönizien250; die Schwierigkeit ist aber deutlich, wie Anderson anführt: „These women can hardly be first-generation Sidonians“251. Außerdem ist Ino in ThebenTheben geboren und nicht in Sidon. Sie folgen ihr bis zum Rande der Klippe252, bis zum selben Ort, wo Ino ins Meer gesprungen ist; sie halten sie für tot253. Dann werden die typischen Attribute der damals üblichen Klageweiber254 beschrieben: sich die Haare raufen und die Kleider vom Leib reißen. Die zusätzliche laute Klage sidonischer Frauen füllt die Lücke des Trauerns. Den Gesten fügen sie nämlich die Worte hinzu: Juno ist ungerecht und sehr grausam. Dies ruft noch ein weiteres Mal Junos Zorn hervor: Die anklagenden Worte werden das deutlichste Denkmal dessen, worüber sie klagen, nämlich Junos Grausamkeit.

Res dicta secuta est (550)255. Die Worte der Göttin werden unverzüglich durchgeführt. Dies steht im Widerspruch zur großen Paraphernalia der früheren Verse. Junos Absicht wird dort durch einen langen und leidvollen Besuch in der Unterwelt und durch die Erinnye Tisiphone ausgeführt; noch dazu ist Athamas ein Mittel von ZeusZeus’ Frau, um KadmosKadmos’ Haus das Böse zu schicken. Hier nicht: Die Aktion ist zeitnah und unmittelbar. Junos Worte sind keine bloße Redefigur: Die sidonischen Frauen werden selbst zu einem Denkmal. Die Versteinerung der Gefährtinnen von Ino ist ein Zeugnis von Junos Grausamkeit, ein Denkmal für Paralyse, Ruhe, Tod. Merkwürdig ist, dass die ungerechte JunoJuno ihr bösartiges Werk mit der treuesten Gefährtin Inos beginnt; auf diese Weise zeigt sich noch deutlicher Junos Ruchlosigkeit. Bömer erklärt, „pietas ist als Bezeichnung eines Verhältnisses gegenüber Menschen außerhalb der consanguinitas (VII 169) selten“256.

In diese Skulpturengruppe kommen Viarre zufolge nach und nach „quatre attitudes différentes, signe d’un même deuil et d’une même inquiétude“257:

 a) Der Antrieb: saltumque datura moueri | haud usquam potuit scopuloque affixa cohaesit (552–553). Diese sidonische Fraue verbindet sich völlig mit dem Fels der Klippe.

 b) Ein Klagegeschrei: temptatos sensit riguis se lacertos (555). Seltsam ist, dass Ovid für diese Frau das Distributiv altera benutzt, denn sie ist nicht die zweite von zwei, sondern von vielen anderen Frauen. Gewagt ist die Verwendung von temptatos mit lacertos: Dies ergibt ein unerwartetes Bild.

 c) Eine Anrufung der Wellen: Saxea facta manus in easdem porrigit undas (557).

 d) Sich die Haare raufen: subito digitos in crine uideres (559).

Es gibt einen gewissen Prozess in der Versteinerung der sidonischen Frauen, genauso wie in der Fokussierung der Einzelheiten: vom Körper, der springen will, zu den Armen, die sich wünschen, auf die Brust zu schlagen, zu den nach den Wellen des Meeres sich ausstreckenden Händen, bis zu den die Haare raufenden Fingern. Die Bewegung erstarrt auf Junos Stimme hin; so müssen sie für ewig bleiben.

Allerdings leiden sie nicht alle unter einer Lähmung, ganz im Gegenteil gibt es auch einige, die nie aufhören, sich zu bewegen. Sie werden zu Vögeln, zu den Ismeniden, die im dortigen Meer die Fläche streifen258. Die Ätiologie ist ersichtlich. Eitrem beteuert, „nach Ovid. Met. IV 561fOvidMet. IV 561. wurden die Gefährtinnen der L. in αἴθυιαι verwandelt (als solche erschienen sie ja selbst dem Odysseus in der Od. a. O., vgl. Die AtheneAthene αἴθυια bei MegaraMegara)“259. Es scheint, dass ein Heiligtum von Athene ‚Aithyia‘ sich auf den nahe bei Megara liegenden Klippen befand260; dies würde die megarische Version des Mythos unterstützen. Die Frage ist meiner Meinung nach, warum Ovid zwei Arten von Metamorphosen für die sidonischen Frauen nennt. Andersons Grund ist m.E. nicht sehr überzeugend: „Birds serve as a common symbol of grief, with their piercing cries and seemingly restless flight“261. Leider wurde dafür kein anderer Vorschlag gefunden.

Abgesehen von den erwähnten Varianten für die Verse 431 und 471 sollte man folgendes Textkritikproblem ansprechen: „MSS tradition indicates convincingly that 446 was not in the Ovidian text that survived into the medieval period“262. In der Tat wird dieser Vers in MNλ ausgelassen und nicht wenige Herausgeber haben Zweifel, ob er überhaupt zum Text gehört.

Zunächst muss man mit Bömer zugeben, dass „sich der Zusammenhang auch ohne diesen Vers verstehen“263 lässt. In diesem Fall muss man ein Zeugma und das Auflösen der ‚Strafen‘ annehmen. Dieser Vers kommt zum ersten Mal in einigen Korrekturen einer früheren Handschrift vor; die Datierung dieser Änderung ist vom 12. Jh. n. Chr. Seither wurde er in alle späteren Kopien der Handschriften eingestellt. Der Korrektor264 ist sehr kritisiert geworden, weil die Strafen innerhalb der Stadt der Toten, und nicht außerhalb stattfinden. Allerdings gilt diese Kritik zwar für Vergil, aber nicht für Ovid; in den Metamorphosen kann Juno selbst in diese Gegend eintreten, obwohl sie eine olympische Göttin ist. Man könnte denken, dass die vierte Gruppierung von Toten eine Art Übergang zu Junos Ziel vorbereitet.

Bömer, der den Vers ausführlich analysiert hat, meint: „so bleibt die Entscheidung über die Echtheit des Verses letztlich subjektiv“265. Da der Hauptteil der Tradition diesen Vers nicht präsentiert und die Darstellung der Strafen als ein Fremdteil der Gesamtbeschreibung anzusehen ist, entscheidet sich Bömer, ihn beiseite zu lassen: „Der Interpolator hat dann den Versuch gemacht, das harte Zeugma artes celebrare durch artes exercere zu glätten, seine Vergilkenntnisse anzubringen und gleichzeitig, mit Hilfe Vergils, seinen christlichen Zeitgenossen ins Gewissen zu reden“266. Anderson jedoch schließt aus, „the ‘interpolator’, if he is such, is right on target“267. Heinsius, Merkel, Magnus, Mendner unterlassen seine Erwähnung268; Helm, Lafaye, Breitenback verteidigen ihn269. Anderson behält ihn in Teubners Ausgabe, im Gegensatz zu Tarrant270, in dessen Ausgabe (Oxford) er eine Zeile frei lässt und den Vers darunter in eckiger Klammer schreibt. Meiner Meinung nach könnte der Vers wie bei Teubner im Text bleiben.

Diese besondere wichtige Textstelle ist einige persönliche Endüberlegungen wert.

Die in den Metamorphosen erzählte Geschichte über Athamas und Ino könnte meiner Meinung nach als eine grandiose theatralische Darstellung angesehen werden. Das Drehbuch hat Juno geschrieben; Tisiphone hat das Werk ausgeführt; Ino und Athamas spielen die Hauptrollen; Learchos und Melikertes sind die Nebenfiguren; Bacchus ist die angeblich abwesende Figur, aber er ist immer anwesend; die sidonischen Frauen sind der dem Werk hinzugefügte Epilog. Darüber hinaus ist in dieser Darstellung nicht der Leser der Zuschauer par excellence, sondern Juno, die aus dem Olymp die ganze Aktion sieht und daran Gefallen (vgl. Vers 524) findet.

Es ergeben sich vier Sichtweisen auf das Werk: Ino und Athamas, die nur die ihnen den Wahnsinn schickende Erinnye Tisiphone sehen; Juno, die Anstifterin, die weiß, warum jene wahnsinnig geworden sind; Ovid, der die ganze Geschichte schreibt und beabsichtigt, das, was er schon in den Metamorphosen aufgezeichnet hat, in diesem Buch noch zu schreiben, und auch das, was er von dieser Erzählung schon in anderen Werken berichtet hat und was schon über diesen Mythos vor ihm geschrieben wurde; der Leser, der zu all diesen Elementen hinzufügt, was nach Ovid darüber erzählt worden ist, eine Tradition, die mit Sicherheit wiederum von diesem Dichter und seinen Ansichten beeinflusst worden ist.

Meiner Meinung nach agieren die Personen entschieden und unverzüglich: Juno ist entschlossen, zur Unterwelt zu gehen, ohne lang darüber nachzudenken; Tisiphone verlässt ihr Haus augenblicklich; Athamas ruft sofort seine Gefährten, um zur Jagd zu gehen; Ino zögert nicht, vom Steilufer zu springen; Neptun verhandelt nicht über die Gewährung der Divinisierung. Alles vollzieht sich jedoch im letzten Teil langsamer, und zwar bei der Bestrafung der sidonischen Frauen: Da ist jede Einzelheit sehr wichtig und der Prozess der Versteinerung wird schrittweise und nicht unversehens geschildert.

Ovids Beschreibung stellt auch eine große Bewegtheit vor: Juno steigt aus dem Olymp bis zur Unterwelt hinab und kehrt zum Olymp zurück; Tisiphone steigt aus der Unterwelt zum Hause von Athamas hinauf und kehrt zu ihrem Haus zurück; Athamas schreitet aus dem Palast heraus in Richtung Wald; Ino bewegt sich aus dem Wald über die Felswand zum Meer. In den beiden letzten Fällen kehren die von Wahnsinn unterjochten Hauptfiguren nicht zum Hause zurück. Der Wald und das Meer bleiben als Todesorte. Nur dank des Eingreifens von VenusVenus wird die SeeSee für Ino (und Melikertes) ein Rettungsort und eine ewige Wohnung (Heilung des Wahnsinns). Diesen Bewegungen steht die fortschreitende Unbeweglichkeit der sidonischen Frauen entgegen: Ihre Bewegungslosigkeit ist nicht ein Rettungszeichen, sondern ein Zeugnis von Grausamkeit und Bestrafung. Deswegen haben sie kein Leben, darum werden sie zu Stein271.

Es sieht nicht so aus, als bekümmerte sich Ovid darum, eine ordentliche und perfekt zusammenhängende Erzählung zu verfassen, wie es schon oben angedeutet wurde. Der Dichter zeigt verschiedene Szenen, die sich „durch Assoziationen“272 verbinden. Vergil aber präsentiert eine einheitlichere Geschichte; das kann man z.B. in der Beschreibung der Unterwelt sehen: „Zusammenfassung des ersten Abschnitts (Aen. I 50, VII 323VergilAen. VII 323VergilAen. I 50), Aufbruch und Ankunft am neuen Ort, notwendige Angaben über den Ort, bzw. die Personen der neuen Szene (Aen. I 51–63, VII 324–29VergilAen. VII 324–329VergilAen. I 51–63), dann die weitere Handlung“273. Bernbecks Behauptung über den mangelnden Zusammenhang der Erzählung bei Ovid ist jedoch m.E. ein wenig übertrieben: „Ovid legt auf die Kontinuität der Handlung keinen besonderen Wert“274. Meiner Meinung nach schlägt Ovid eine andere Art von Beschreibung vor, nämlich eine anschaulichere Erzählung, die aus diesem Grund die perfekte Verbindung und Einheit verliert.

Bernbeck zufolge275 besteht der Text aus verschiedenen Szenen, die fast unabhängig voneinander sind:

 Einleitung: Grund für Junos Zorn (416–419).

 Erste Szene: Junos Monolog (420–431).Einführung zur 2. Szene: Tartaros Beschreibung (432–446).

 Zweite Szene: Bitte um Tisiphones Hilfe (447–480).

 Dritte Szene: Tisiphones Angriff (481–511).

 Vierte Szene: Athamas’ Wahnsinn und Inos SprungSprung (512–530).

 Fünfte Szene: Bitte von VenusVenus und Divinisierung von Ino und Melkertes (531–542).

Daraus ergibt sich, dass die Schilderung des Wahnsinns nicht das Hauptmotiv in Ovids Erzählung ist und die Geschichte sich vor allem auf die Darstellung der Unterwelt konzentriert. Bernbeck sagt deshalb: „Bei Ovid dagegen überwuchern die vorbereitenden Szenen, bezeichnenderweise seine eigenen Erfindungen, das durch die Überlieferung vorgegebene Geschehen“276. Dieser Meinung ist auch Anderson: „Thus, he ends up with a brief traditional tale in two phases of about sixteen lines each, which frames his own episode of grotesque Tisiphone, a brilliant tour de force of eighty lines“277.

Bernbeck278 hat Recht, wenn er meint, dass die Figuren von JunoJuno und Tisiphone eine hervorragendere Rolle spielen als Athamas bzw. Ino selbst. Er übt aber eine sehr strafende Kritik an Ovids angeblichen Fehlern gegen die epische Tradition, wie z.B. das Weglassen der Teile, die die Monologe oder die Bitten vorbereiten. Er glaubt, „es fehlen die im Epos gebräuchlichen Angaben über Zugang und Abgang der Personen“279. Ebenso merkt er, wie schon angedeutet worden ist, den Mangel der Einheit der Szenen an und meint darum, dass bei Ovid Ungenauigkeiten und Widersprüche bestehen. Letzlich denkt er, „all diese Erscheinungen bedeuten eine Durchbrechung der Kontinuität des Geschehens und der Darstellung“280. Dies ist m.E. zu exzessiv; Ovid hat seine Art von Erzählung und seine eigenen Richtlinien. Schließlich ist der Humor, den Bernbeck so ungern und im Text allgegenwärtig sieht, auch nicht in der ganzen Erzählung zugegen.

Auf jeden Fall gilt Ovids Textestelle als wesentlich im Verstehen des Mythos von Athamas, denn seine Erzählung ist verpflichtender Lesestoff, wenn nicht sogar die einzige vorhandene Quelle, für die nach ihm kommenden Schriftsteller. Man kann kategorisch behaupten, dass die Mythologie allgemein und Athamas Legende insbesondere aus Ovids Perspektive im Laufe der Jahrhunderte gelesen und verstanden wurden. Interessant ist diesbezüglich ein typisches Beispiel von literarischem Weiterleben im Feld der Mythologie, nämlich ein Fortbestand der berühmten Beschreibung der in diesem Buch I-L-M genannten Version in Ovids Metamorphosen: Es handelt sich um Dantes Göttliche Komödie281.

Im 30. Gesang der Hölle beginnt Dante seine Geschichte, indem er den Leser in eine entfernte, irreale und mythologische Zeit transponiert: „Nel tempo che“282. Dante schlägt zwei Beispiele von WahnsinnWahnsinn vor; das erste gehört zum thebanischen Zyklus: Die von Ovid berichtete I-L-M-Version283. Dante bezieht sich offensichtlich auf Ovids Erzählung, wie man aus den im Gedicht verwandten Bildern schließen kann. Athamas ruft seine Gefährten für die Jagd zusammen; der Aiolide sieht eine Löwin mit ihren Jungen; er tötet Learchos, indem er ihn am harten Gestein zeschmettert. Das Auffälligste in Dantes Text ist die Charakterisierung von Athamas als tierisch284, die den Leser verwirrt, so wie der Aiolide selbst die Wirklichkeit verwechselt285.