Loe raamatut: «Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur», lehekülg 17

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I.2.1 Das Motiv des NeidNeides

In diesem ersten Fall konzentriert sich das Thema auf den Neid, den die StiefmutterStiefmutter gegen die Kinder der früheren Ehefrau hegt. Im Mythos von Athamas ist diese Motivierung die Mehrheitsoption der griechischen und lateinischen Autoren, zumindest nach den Informationen der erhaltenen Werke. Allerdings wird der Hass gegen PhrixosPhrixos bzw. HelleHelle selten explizit gemacht, sondern dieser HassHass wird angenommen, weil sie die Stiefmutter der Kinder von Nephele ist1.

Ein fragwürdiges Element dieser Version ist die Verfahrensweise der Stiefmutter, um Phrixos (und Helle) zu beseitigen: der verbrannte Samen. Im Prinzip versteht man nicht, was der gedörrte Samen mit dem letzten Ziel der Intrige, dem Tod von Phrixos2, zu tun hat. Der Zweck der IntrigeIntrige der Stiefmutter ist die Verursachung einer großen Plage in der Stadt, damit das Orakel in Delphi befragt wird. Dann folgt der zweite Teil des Planes der grausamen Stiefmutter: die Bestechung des Boten. Vor dieser Analyse aber sollte man einen kleinen excursus über die zwei verschiedenen Arten natürlichen Unglücks unternehmen: die Unfruchtbarkeit und die DürreDürre.

Die erste Plage kommt direkt aus der Bosheit der Stiefmutter; ihr Hauptziel ist die Bestrafung von Phrixos; die zweite Katastrophe aber hat ihren Ursprung in einer möglicherweise noch primitiveren Vorstellung: ein natürliches, nicht von Menschenhand veranlasstes Unglück, dessen Ziel die Hinrichtung Athamas’ ist. Auch Friedländer meint dies, wenn er den Bericht von Schol. in Ar. Nu. 257 HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257b Holwerda vorschlägt, weil dieser Text der älteren Motivierung näher ist als die jüngere Tradition, die „ganz von dem MärchenMärchenmotiv der bösen Stiefmutter beherrscht“3 wird. Diese zweite Geschichte soll hier sorgfältig untersucht werden.

Diese zweite Erzählung, die angeblich älter zu sein scheint, könnte ein kultischer Mythos über einen sehr alten Ritus gegen die DürreDürre einer Gegend sein4. Hier findet man die Rolle des Klimas im Mythos. Drei Belege gibt es diesbezüglich: zwei sehr viel spätere Autoren, Eudoc. 25 D’AnsseEudokiaEudoc. 25 D’Ansse (11. Jh. n. Chr.) und Apostol. XI 58ApostoliosApostol. XI 58 (15. Jh. n. Chr.) und verschiedene Scholien zu Aristophanes’ Die Wolken5.

Der Leser fragt sich, wie man behaupten kann, dass dies eine sehr alte, wenn nicht die älteste Version von allen ist. Der Grund liegt m.E. im Scholion und nicht bei den oben genannten Autoren. Dieses Scholion versucht, die schon analysierte Textstelle von Aristophanes’ Die Wolken6 zu erklären. Der Scholiast überliefert die Geschichte, die in einer der Athamas7 betitelten Tragödien des Sophokles hätte vorkommen können. Immer bleibt der Zweifel an dem genauen Umfang der Andeutung: Wenn die Scholiasten sich darauf beziehen, dass Sophokles auf diese Weise seine Tragödie verfasst hat, berufen sie sich dann auf den ganzen Text oder nur auf den letzten Teil, und zwar auf das Erscheinen eines bekränzten Athamas, der auf dem ZeusZeus-Altar sterben muss? Zweifellos gehört dieser letzte Teil, wie auch die anderen Scholien bezeugen, zu der sophokleischen Tragödie; meiner Meinung nach sollte man auch verstehen, dass der Rest der Erzählung ebenfalls in der Handlung der (zweiten) Athamas-Tragödie von Sophokles vorkam.

Die Überlieferung findet sich bei Apostolios (15. Jh. n. Chr.), aber auch in den Scholien von Thomas Magister und Triclinius (14. Jh. n. Chr.). Eine ähnliche Geschichte kann man bereits bei Eudokia lesen (9. Jh. n. Chr.). Der Bogen spannt sich also vom 9. Jh. n. Chr. bis zum 15. Jh. n. Chr. Eine solche Tradition bezieht sich jedoch auf ein Werk von Sophokles, der im 5. Jh. v. Chr. lebte. Wenn all diese Belege richtig sind, findet man eine sehr alte Tradition vor, eine, die eine sehr viel spätere Rezension hatte.

Diese Texte beinhalten einige Schlüsselstellen, die neues Licht darauf werfen können.

An erster Stelle wird gesagt, dass Nephele (Νεφέλη), deren Name tatsächlich ‚WolkeWolke‘ bedeutet – die Andeutung auf den Regen ist deutlich – nicht stirbt, sondern ἀπέπτη εἰς οὐρανὸν, καὶ τὴν τοῦ ἀνδρὸς χώραν αὐχμῳ̃ ἐκόλασε8. Dies ist die erste von Nephele verursachte Bestrafung, die mit der Eifersucht auf Ino motiviert wird; die zweite Bestrafung konzentriert sich auf Athamas selbst: Nephele bittet um seinen OpferOpfertod wegen seines Verhaltens ihrem Sohn gegenüber. Das heißt, dass sich Nepheles ZornZorn direkt mit der DürreDürre und dem bekränzten Athamas verbinden lässt, der auf dem Opferaltar wegen seiner schmählichen Verhaltensweise sterben muss. Dies erinnert den Leser an den Text von Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 1979, in dem ein bekränzter Athamas zum Opfertod auf dem Altar geführt wird. Dieser Beleg könnte das Alter der Legende und den Grund ihres geringen Erfolgs in der griechischen Literatur darstellen: Diese Geschichte wurde mit den örtlichen Traditionen kleiner Stätten in ThessalienThessalien verknüpft und sie hat keinen Widerhall im allgemeinen depositum mythologicum von Griechenland gefunden.

An zweiter Stelle ist es die DürreDürre, nämlich der Mangel an Regenwasser, das Unglück, das das Land, dessen König bzw. Statthalter Athamas ist, zerstört – darum muss er mit seinem Leben für dessen Schaden aufkommen. Dies wird mit der Eigenart von Nephele, die über das aus dem Himmel kommende Gewässer herrscht10, reibunglos erklärt. Darüber hinaus kann diese natürliche Plage nicht von Menschenhand ausgelöst werden. Deshalb wird die Intrige der Stiefmutter in dieser Tradition ausgelassen – der verbrannte Samen ist immer ein menschliches Werk – und man hängt von der göttlichen Gnade völlig ab. Immerhin behauptet der Text, Νεφέλην θεὰν οὖσαν. Dass es keine Intrige der Stiefmutter ist, heißt nicht, dass das Thema der Stiefmutter nicht gegenwärtig ist. Diese kommt vor, weil Athamas’ Frau θέλουσα Φρύξον καὶ Ἕλλην ἀπολωλέναι. Meiner Meinung nach versteht man die Bestechung der Stiefmutter, um Nepheles Kinder zu töten, in dieser Tradition viel besser als in der üblichen Version, wo deren Erwähnung etwas künstlich erscheint. In der vorliegenden Tradition aber nützt die StiefmutterStiefmutter sehr schlau die Gelegenheit der Dürre aus und bedient sich des Orakels, um sich von den Kindern der früheren Frau zu befreien.

An dritter Stelle hat das Orakel von Delphi eine logischere Rolle, denn es gilt als ein bedeutsamer kultischer Ort für die wichtigsten die Gemeinschaft betreffenden Fragestellungen. Schlesier aber macht auch auf die doppelte Wertigkeit dieses Orakels aufmerksam: „Wer von ihm Klarheit wünscht, erhält Zeichen, rätselhafte Zweideutigkeiten, bei deren Deutung er keine Unterstützung findet“11.

An vierter Stelle geschieht Athamas’ OpferOpferung zu Ehren von ZeusZeus, dem Gott par excellence des Blitzes und Donners, auch des Sturmes und des Regens, eine ganz andere als jene von Phrixos und Helle. Wenn der Opfertod der Kinder von Nephele als Versöhnungsopferung vollzogen wird, so ist die Opferung von Athamas sowohl in den Scholien zu Die Wolken von Aristophanes als auch bei Eudokia und bei Apostolios deutlich als eine Bestrafung zu lesen, in der erwähnten Textstelle von Herodot als eine Reinigung. Die Texte sind deutlich: der Sinn der Opferung hat sich völlig geändert. Die Opferung der Kinder des Königs hat nicht ‚funktioniert‘ und der König selbst muss folglich, wie in Hdt. VII 197HerodotHdt. VII 19712Hellas zu lesen ist, bestraft werden, um den Ort zu reinigen; sonst käme über den Stamm ein Generationenfluch. Diese Einführung des Mythos in dem ländliches Gebiet13 wird von Bonnechère erwähnt, der ihm mit dem Ritual der Nymphe Hagno vergleicht, als die DürreDürre in Arkadien14 auftrat: Der Priester von Zeus Lykaion15 betet und bringt die geeignete Opferung dar; dann veranlasst er eine Vernebelung mit Wasserdampf, der nach und nach zu einer WolkeWolke wird; diese wächst mit anderen zusammen und schlieβlich fällt der Regen. Wenn also der rituelle Sinn des Opfers pro pluuia verlorengegangen ist, dann musste man die Intrige des verbrannten Samens in Anspruch nehmen, um Phrixos’ Opfer zu rechtfertigen.

An fünfter Stelle konnte das Thema der Stiefmutter aus dem Zusammenleben des Athamas, der in der I-L-M-Version als Inos Mann gilt, mit diesem anderen Athamas, der eng mit Nephele16 verbunden ist und dessen erste und echte Ehefrau ThemistoThemisto17 sein konnte, entstehen. Auf diese Weise fand man ein plausibles Motiv für den Tod von Nepheles Kindern, denn es wäre unlogisch, dass die eigene Mutter ein Übel herbeiruft, um ihren Kindern zu schaden. Darum ist es unmöglich, die drei Versionen in einer einzigen Erzählung zusammenzufassen, auch wenn Nonnos es in seiner Dionysiaka versuchte: Diese Geschichten sind an verschiedenen Orten Griechenlands und aus verschiedenen Gründen geboren. In der Tat konnte das Thema der Stiefmutter ursprünglich mit Themisto in Bezug auf Inos Kinder in Zusammenhang stehen; auf diesem Muster konnte Inos HassHass gegen Nepheles Kinder erwachsen.

Schlieβlich glaubt Bonnechère, dass das von Menschenhand verursachte Unglück, dessen ältester Beleg nicht früher als in die hellenistische Zeit18 zurückgeht und dessen Handlung keine Parallele in der griechischen bzw. lateinischen Literatur hat, „ne fit pas partie du noyau primitif de l’histoire et l’ἀκαρπία dont il est ici question pourrait n’avoir été, à l’origine, qu’un fléau semblable à tous ceux que compte le répertoire mythologique grec, rationalisé par la suite“19.

Nun ist die bei den Autoren verbreitetere Version zu analysieren, nämlich das VersöhnungsopferOpfer als List der Stiefmutter, um Nepheles Kinder umzubringen. Merkwürdigerweise gibt es in der archaischen Epoche keinen Beleg dieser Version, wohl aber hat man eine Andeutung zum ungewöhnlichen Thema von PotipharPotiphar. Der Protagonist ist der Widder und, obwohl bei Hesiod20, bei Hekataios21 und natürlich bei Pherekydes22 immer von Phrixos gesprochen wird, sind die letzten Phasen des Mythos in dieser Version die wichtigsten; einerseits die Tröstung des Phrixos durch den Widder nach Helles SturzSturz (Hekataios), andererseits Phrixos’ AbenteuerAbenteuer in KolchisKolchis (Hesiod und Pherekydes23). Nun muss man aber hier einen größeren Schritt machen. Die IntrigeIntrige der Stiefmutter und all ihre Wirkungen folgen weiter unten24.

I.2.2 Potiphars Thema

Am merkwürdigsten ist bei diesem Thema1 in Hinblick auf Athamas, dass der Hass der StiefmutterStiefmutter gegen Phrixos zum ersten Mal durch eine Verbitterung wegen ihrer verschmähten Liebe und nicht durch den NeidNeid erklärt wird.

Der erste Text, in dem das Wort μητρυιά mit diesem Mythos in Verbindung gebracht wird, ist Pi. P. IV 161–162PindarP. IV 161–1622. Die Deutung des Scholions (Schol. in Pi. P. IV 288a DrachmannScholia zu PindarSchol. in Pi. P. IV 288a Drachmann) zerstreut alle Zweifel: ἐκακώθη γὰρ διὰ τὴν μητρυιὰν ἐρασθεῖσαν αὐτοῦ καὶ ἐπεβουλεύθη. Fontenrose denkt, diese Version „was better known in the fifth century than later; for Pindar and Sophocles were acquainted with it“3. Prof. Lucas de Dios weist auf das häufigere Vorkommen dieses Motives in der griechischen und lateinischen Mythologie hin: Es wird wenigstens sechsmal verwendet4 hin; dieses Thema wurde sogar sehr häufig in der TragödieTragödie benutzt.

Vor der Analyse dieses Themas muss geklärt werden, was unter ‚Potiphars Motiv‘ zu verstehen ist. Der Name kommt aus dem Alten Testament5. In Gen 39, 1–206 ist die genaue Geschichte zu lesen. Hier wird eine kurze Zusammenfassung des Vorworts und der Episode präsentiert.

Joseph, der schön von Aussehen war, wurde von seinen eigenen Brüdern für zwanzig Silber-Schekel an Ismaeliter verkauft, denn der NeidNeid verzehrte sie: Er war der Lieblingssohn ihres Vaters und sie hatten seine Träume satt. Joseph kam in Ägypten an und die Midianiter verkauften ihn an PotipharPotiphar, einen Kämmerer des Pharao, den Obersten der Leibwächter (Gen 37, 36). Joseph nahm Potiphar für sich ein und gewann das Vertrauen seines Herrens: Der Kämmerer gab ihm alles, was er besaß, in seine Hand. Nun folgt die bekannte Episode mit Potiphars Frau. Diese versuchte Joseph im geheimen zu verführen, aber er wies sie ab; sie hatte jedoch sein Kleid in ihrer Hand – Joseph war voll Angst geflohen – und verleumdete Joseph bei ihrem Mann, der ihn in den Kerker werfen ließ. Am Ende7 wird Joseph mit Gottes Hilfe in Ägypten Erfolg haben und den Gipfel der Macht erreichen8. Worauf López Salvá treffend hinweist, ist das moralisierende Ziel der Erzählung und eignet sich als Beipiel der Besonnenheit und der Keuschheit von Jakobs Sohn9.

Mit einem Schema kann man die Merkmale dieses Themas in folgenden Punkten zusammenfassen10:

 1) Ein junger Mann erregt die Leidenschaft der Ehefrau einer anderen männlichen Figur, die dem Jugendlichen sehr nahe steht.

 2) Er weist das unsittliche Angebot zurück, die Frau verleumdet ihn bei ihrem Mann, der ihr glaubt.

 3) Der Jugendliche wird bestraft11, doch am Ende siegt die Wahrheit, die Tugendhaftigkeit des jungen Mannes stellt sich heraus und die Schandtat der Frau12 wird bekannt.

Obwohl die Erzählung im Buch Genesis dem Motiv den Namen gegeben hat, kommt das Potifar-Motiv an anderen kulturellen Orten und sogar früher vor als die Abfassung der Josephs-Episode in der Genesis13. López Salvá macht eine wichtige Erklärung dazu: „Intentar establecer un stemma o buscar un arquetipo en este tipo de temas tan relacionados con los sentimientos humanos es poco menos que imposible, pues, al ser estos universales, es harto dificil determinar si ha habido influencias, relaciones o contaminaciones, o si han surgido independientemente unos de otros en las diferentes comunidades en las que aparecen“14.

Abgesehen von der biblischen Erzählung sollte man zweifellos auch das berühmte MärchenMärchen ‚Die Geschichte der zwei Brüder‘ bzw. ‚Das Brüdermärchen‘15 heranziehen. Dieser Bericht ist im Papyrus D’Orliney (ca. 1225 v. Chr.) erhalten. Diese Schilderung verbindet mythische Elemente mit denen der volkstümlichen Folklore16.

Es wird die Geschichte von zwei Brüdern erzählt, Anubis17 und Bata, den ägyptischen Göttern namensgleich; der ältere, Anubis, besaβ ein Haus, eine Frau und erheblichen Reichtum; der jüngere, Bata, arbeitete sehr hart für seinen Bruder auf dem Feld und im Hause. Einmal bat Anubis Bata darum, nach Hause zu gehen, um Saatkorn zu holen. Als der junge Mann zu Hause ankam, pries Anubis’ Frau seine Kraft und schlug ihm vor, bei ihr zu liegen. „Der junge Mann wurde wie ein oberägyptischer Panther, wenn er in Wut gerät, wegen des gemeinen Antrags, den sie ihm gemacht hatte“18 und lehnte sie ab. Sie hatte Angst und bemalte ihren Körper so, als ob er sie geschlagen hätte, um sie zu vergewaltigen.

Als der ältere Bruder nach Hause kam, manipulierte sie die Tatsachen und forderte ihren Ehemann auf, seinen Bruder zu töten. Anubis glaubte seiner Frau und versteckte sich hinter der Stalltür, denn Bata schlief nicht bei ihnen im Hause, sondern im Stall bei den Tieren. Der jüngere Bruder kehrte nun auch nach Hause zurück und dann geschah etwas Wunderbares: „Er kam heim, die Leitkuh trat in den Stall und sagte zu ihrem Hirten: »Paß auf, dein älterer Bruder steht dir gegenüber mit seiner Lanze, um dich zu töten. Lauf weg vor ihm!«“19. Und nicht nur die erste, sondern alle Kühe, die den Stall betraten, sagten ihm dasselbe. Er beugte sich vor und sah die Füße seines Bruders und ein Messer in dessen Hand; er ließ die Last auf den Boden gleiten und floh schnell aus dem Stall. Der Bruder verfolgte ihn, aber der Gott Re half Bata, indem er einen Fluss voller Krokodile zwischen beiden Brüdern fließen ließ. Bata erzählte ihm die ganze Wahrheit und zum Zeugnis seines Wortes entmannte er sich und warf seinen Penis ins Wasser, wo ein Fisch diesen verschluckte. Anubis hatte Mittleid mit ihm und weinte laut. Später kam er nach Hause, „tötete seine Frau und warf sie den Hunden vor. Dann setzte er sich in Trauer über seinen Bruder“20.

In der indischen Literatur findet sich ebenfalls Potiphars Motiv. Lucas de Dios weist auf die diesbezüglich grundlegende Arbeit Maurice Bloomfields hin. Der spanische Wissenschaftler stellt zwei Beispiele aus den in den siebenundzwanzig Seiten versammelten Geschichten in Bloomfields Artikel heraus. Am auffälligsten ist, dass die StiefmutterStiefmutter des Knaben, der immer ein Prinz ist, in diesen zwei Geschichten diejenige ist, die die Keuschheit des Jugendlichen auf die Probe stellt.

Der erste Fall ist der des Prinzen Paduma, des Königs Brahmadata von Benares und der neuen Ehegattin des Königs21. Nach der durch die Stiefmutter verursachten Verführung, der Ablehnung des jungen Mannes, der Verleumdung durch die Ehefrau und dem Zorn des Königs wird das magische Element eingeführt: „The deity dwelling in that mountain places him safe and sound within the hood of the King of the Dragons, who carries him home and confers upon him half his kingdom. At the end of a year Prince Paduma adopts the life of an ascetic“22. Der König erfährt alles und bestraft die Frau. Der zweite Fall ist der des Prinzen Kumala, des Kaisers Asoka und der Stiefmutter Tisiaraksita23. Zwei bedeutungvolle Merkmale weist diese Erzählung auf: Die StiefmutterStiefmutter bestraft den Prinzen hart, indem sie ihm das Augenlicht wegnimmt, und der junge Mann verzeiht seiner ‚Mutter‘ und beteuert dem König: „«King, no pain afflicts me; no wrath over this cruel injury. As truly as my heart has forgiven my mother, so truly shall my former sight return to me!» Then he had his eyes again, more beautiful than before“24.

Drei Merkmale sind es, die sowohl von der ägyptischen als auch von der indischen Literatur hervorgehoben werden und die in der griechischen Literatur nicht erscheinen:

 1) Der junge Mann benennt immer die Frau, die ihn verführt, als seine Mutter, es sei denn, dass sie im ersten Fall seine Schwägerin oder im zweiten Fall seine Stiefmutter ist.

 2) Der junge Mann arbeitet sehr hart oder lebt sehr asketisch.

 3) Die Frau stirbt eines elenden Todes durch die Hand ihres Mannes.

López Salvá denkt, diese Arten von Legenden „podrían enmarcarse en ese género de leyendas cortesanas, tan habituales en el Proximo Oriente, como Heródoto nos hace ver en sus relatos persas“25; die ägyptische Erzählung aber könnte nicht in den Rahmen dieser Erzählungen passen. Mit anderen Worten, im Osten – dies ist eigentlich das Thema, das López Salvá behandelt – könnte m.W. diese Geschichte ja innerhalb der höfischen Erzählungen ihren Platz haben, aber nicht überall.

In Hinblick auf die Benutzung dieses Motives in der griechischen Literatur erklärt Lucas de Dios: „El primer testimonio, y más importante, de la incidencia del motivo de Putifar en el Teatro grecolatino es la constatación de que los seis mitos existentes (sic) al respecto sirvieron al menos en alguna ocasión como núcleo argumental de alguna obra dramática, frente a otras muchas áreas que nunca tuvieron la fortuna de subir a escena“26. In der Tat stimmt das Schema dieses Motivs mit den grundlegenden Punkten der Zusammenstellung der griechischen Theater überein. Im Fall von Phoinix wurde das bei Homer (Il. IXHomerIl. IX) zu lesende mythische Material wesentlich geändert27. Sechs Beispiele dieses Motives lassen sich in der griechischen TragödieTragödie28 finden:

 1) Proitos – Stheneboia – Bellerophon.

Die erste Erzählung dieses Falls ist im Il. VI 155–211HomerIl. VI 155–211 zu lesen, der auch auf diese Weise in Apollod. II 3, 1ApollodorosApollod. II 3, 1 und in Hyg. Fab. LVIIHyginusFab. LVII erhalten ist. Im von Euripides’ Stheneboia überlieferten Argument wird die Handlung stark geändert: Bellerophon schlägt seiner Geliebten vor, mit ihm wegzufahren, und er bringt sie um, indem er sie vom fliegenden Pferd Pegasus ins MeerMeer stößt. Möglich ist, dass es bei Sophokles’ Iobates sich auch um diese geänderte Geschichte handelte.

 2) Akastos – Astydameia – Peleus.

Die Erzählung steht im Frg. 211 Merkelbach / West von HesiodHesiodFrg. 211 Merkelbach / West und vor allem in Apollod. III 13, 3.7ApollodorosApollod. III 13, 3.7; im 5. Jh. v. Chr. war sie sehr bekannt, wie Pi. N. IV 56PindarN. IV 56PindarN. V 26; V 26 und Ar. NuAristophanesNu. 1063. 1063 belegen. Wie im früheren Fall besteht eine fahrlässige Tötung (φόνος ἀκούσιος) und „una estratagema subrepticia a resultas de la cual se espera alcanzar la deseada venganza“29. Sophokles verfasste wahrscheinlich diesbezüglich einen Phthiotides30, dies ist jedoch nicht gesichert. Euripides schrieb einen Peleus31, über den die philologische Kritik in zwei gröβere Lager gespalten ist32, und zwar den Teil, der Potiphars Thema andeutet, wie Welcker vor zwei Jahrhunderten vorgeschlagen hat, und den, der an eine letzte Episode im Leben des Peleus denkt.

 3) Kyknos – Philonome – Tenes.

Mit einem anderen Ende wird diese Geschichte in Conon XXVIIIKononConon XXVIII und Schol. in Lyc. Alex. 232 ScheerScholia zu LykophronSchol. in Lyc. Alex. 232 Scheer berichtet; Lucas de Dios meint, die literarische Bearbeitung dieses Mythos datiere aus neuerer Zeit33, denn die Quellen sind nicht sehr alt. Nur ein Fall spricht gegen diese Meinung. Nach Lucas de Dios wurde ein Tenes, vielleicht von Euripides, über dieses Thema möglicherweise im 5. Jh. v. Chr. verfasst. Sicherer aber scheint López Salvá zu sein: „Los fragmentos del Papiro de Oxirrinco 2455 y 2456, publicados por Turner en 1962, han disipado las dudas sobre la autenticidad de la tragedia euripidea y han confirmado que desarrolla el tema de Putifar“34.

 4) Amyntor – Phthia – Phoinix.

Die Schilderung in Il. IX 447–484HomerIl. IX 447–484 über Phoinix stellt nicht das PotipharPotiphar-Thema, sondern das eines Liebhabers dar, der eine Nebenfrau verführt. Euripides’ Phoinix ändert die Geschichte zum Motiv von Potiphar hin35, indem jene Nebenfrau sich in den Knaben verliebt und ihn anklagt, da er den Erwartungen ihrer Liebe nicht entgegenkommt. Ennius’ Phoinix konnte Euripides’ Version folgen. López Salvá glaubt, „la fuente común de esas historias bíblicas36 y homéricas debe buscarse en Ugarit o Fenicia“37. Der Name dieser Figur, der phönizisch ist, deutet darauf hin.

 5) Athamas – Kretheus – Demodike – Phrixos38.

Lucas de Dios erwähnt Athamas’ Geschichte an dieser Stelle und schreibt, was von Hippolytos betrifft, am Ende seines Artikels; López Salvá beschreibt es an vierter Stelle (Nummer 10 in ihrem Artikel), indem sie die frühere Erzählung von Kyknos-Philonome-Tenes auslässt, die sie erst ein wenig später präsentiert.

López Salvá meint über diese Erzählung: „Otra historia de corte, en que aparece el tema de Putifar y que también está preñada de motivos próximo-orientales“39. Lucas de Dios glaubt, dass der Hinweis auf die Frau als die Tante des begehrten jungen Mannes das Schema des Motives banalisiert und erschwert. In Bezug auf den Namen Demodike meint López Salvá, dass es vielleicht nur um einen bedeutungsträchtigen Namen geht. Nach Lucas de Dios ist es auch merkwürdig, „Eurípides, un poeta tan aficionado al «motivo de Putifar» como estamos viendo en esta páginas y que escribió dos tragedias tituladas ambas Frixo, no utilizase en ninguna de las dos ocasiones este motivo como base argumental“40.

Welcker41 kommt in seiner Untersuchung über die griechische Tragödie zu dem Schluss, dass es sich bei Sophokles’ Phrixos um Potiphars Motiv handeln könnte. Lucas de Dios denkt ganz anders: „El tradicional paralelismo de contenido en correspondencia a la identidad de títulos42 hablaría igualmente en contra de aplicar al Frixo sofocleo el motivo de Putifar“43. Ribbeck44 und Warmington45 interpretieren Accius’ Athamas nach diesem Motiv, aber D’Antò46 lehnt diese Zuschreibung ab, über die sich auch Prof. Lucas de Dios nicht völlig sicher ist.

Prof. López Salvá analysiert zwei Motive des Mythos von Athamas, die, obwohl sie in Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20 – in dieser Fabel wird das Motiv von PotipharPotiphar in Athamas’ Mythos dargestellt – nicht erscheinen, eine große Ähnlichkeit mit einigen Merkmalen der Geschichte mit Potiphars Motiv in anderen Literaturen haben. López Salvá macht z.B. auch auf die von Nephele veranlasste DürreDürre aufmerksam, wie in Eudoc. 25 D’AnsseEudokiaEudoc. 25 D’Ansse, Apostol. XI 58ApostoliosApostol. XI 58, Schol. in Ar. Nu. 257b HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257b Holwerda und Schol. th-tr. in Ar. Nu. 257a KosterScholia zu AristophanesSchol. th-tr. in Ar. Nu. 257a Koster47 zu lesen ist; deren Erwähnung erinnert den Leser an andere Dürren: „[La] provocada por Asertu al no ceder Baal a sus requerimientos amorosos, la que siguió a la muerte de Aqat, o la que asoló Egipto cuando José se hallaba encarcelado48 a causa de la falsa acusación de la mujer de Putifar“49. Im Hinblick auf den fliegenden Widder bezieht sich López Salvá auf die unzähligen Belege von Flügeltieren in Mesopotamien50.

Abschließend zweifelt Lucas de Dios am Alter dieser Variante und sogar an der Möglichkeit, dass sie einmal in einer griechischen oder lateinischen TragödieTragödie aufgeführt worden ist: „En el caso de Atamante / Creteo-Demódica-Frixo no tenemos realmente apoyo estable alguno para afirmar que subiese en alguna ocasión a escena“51.

 6) Theseus – Phaidra – Hippolytos.

Die berühmte Tragödie von Euripides Hippolytos steuert ein neues Element bei, denn Theseus’ Sohn „rechaza no sólo las propuestas de un amor deshonesto, sino las de cualquier otro tipo, puesto que él pertenece al área anímica de Ártemis“52; dies führt zu einer völlig neuen Lösung: Hippolytos’ Tod. In der Tat ist es der einzige Fall, in dem der begehrte junge Mann stirbt. López Salvá weist darauf hin, dass, im Gegensatz zu den Geschichten von Bellerophon, Peleus und Phoinix, Phaidras und Hippolytos’ Schilderung weder bei Homer noch bei Hesiod noch bei einem der Lyriker etwas aufscheint, was zu dieser ‚unerwarteten‘ Lösung führen könnte. Diese Gelehrte meint, die Variante Sohn-Stiefmutter „es la que adopta por sus virtualidades trágicas el tema en las versiones griegas más recientes (Fénix, Frixo, Tenes, Anágiro e Hipólito), a nuestro juicio por contaminacion con el mito de Edipo“53. Allerdings weist López Salvá auch darauf hin, dass Phrixos’ Fall in einem Stadium zwischen den frühren Formen, die keine verwandtschaftlichen Beziehungen andeuteten, und den späteren, die das inzestuöse Thema der Stiefmutter als Provokation vorschlagen, angesiedelt ist. Im Fall von Phrixos wird entweder die ‚Tante‘ (Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20) oder die Stiefmutter (Pi. P. IV 162PindarP. IV 161–162) genannt.

Diesen Beispielen54 sollten einige Geschichten hinzugefügt werden, die innerhalb von Potiphars Motiv dem Mythos von Athamas ähneln.

So kann man z.B. den Bericht über Hebros in Plu. Fluu. III 1PlutarchFluu. III 155 sehen, in dem erzählt wird, wie die StiefmutterStiefmutter Damasipa ihren Stiefsohn Hebros vor seinem Vater Kassander verleumdet, indem sie ihn der Vergewaltigung beschuldigt. Blind vor Wut verfolgt der Vater seinen Sohn, bis er sich in den seither seinen Namen tragenden Fluss wirft.

Ein zweiter Fall ist der von Okna und Eunostos, deren Geschichte in einem kleinen Fragment der Dichterin Myrtis von Anthedon überliefert ist56. Hier kann man lesen, wie Okna, Kolonos’ Tochter, den Eunostos, Helios’ Sohn, vor ihren Brüdern falsch bezichtigt, die ihm dann eine Falle stellen und ihn töten. Helios wirft die Jungendlichen ins Gefängnis. Okna bereut und enthüllt die Wahrheit. Kolonos entscheidet sich, seine Kinder zu verbannen und stößt Okna von einer Klippe.

Reue, wie bei Okna, erscheint im Fall von Ino nicht, auch wenn man eine etwas ähnliche Geschichte in der I-L-M-Version bei Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37) oder bei Hygin (Fab. IIHyginusFab. II) sehen könnte, weil entweder eine Dienerin / ein Diener die verbrecherische Absicht der weiblichen Figur enthüllt oder eine mächtige Gestalt die Intrige erfährt, ohne zu sagen, wie sie das Böse entdeckt hat. Der gemeinsame Punkt ist, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt; diese Tat zieht unheilvolle Folgen für die Frau nach sich.

Interessant ist auch, dass Eunostos’ Geschichte zu der Stadt Tanagra (BöotienBöotien), auf die linke Seite des Flusses Asopos gehört und infolgedessen im Ausdehnungsbereich von Athamas’ Mythos. López Salvá denkt, „a este Eunosto se le rindió culto en un santuario en el que se prohibía la entrada de la mujeres“57; die Ähnlichkeit mit Leukotheas KultKult in der Stadt Chaironeia nach Plutarch (MorPlutarchMor. 267d-e. 267d-e) ist erstaunlich. Die spanische Akademikerin meint, dass dieser Bericht stark ätiologisch klingt, indem er zu erklären versucht, warum der Eintritt zu dem oben genannten Tempel von Eunostos den Frauen verboten war.

Also ist die Konkomitanz mit unserem Mythos sehr bedeutsam. Möglich ist, wie Prof. López Salvá oder Fontenrose bemerken, dass Potiphars Motiv ursprünglich ein Leitmotiv des Mythos von Athamas war.

Augenfällig ist nach López Salvá der Einfluss des Orients in dieser Art von Legenden: „Estas historias se sitúan generalmente en alguna corte real. Ese ambiente cortesano evoca las grandes monarquías orientales: Egipto, Mesopotamia, Ugarit, coexistentes (sic) con la realeza micénica. Y todas miran hacia Oriente“58. Bemerkenswert ist, dass Athamas’ Mythos derjenige ist, der die Griechen nach dem entferntesten Land des Orients ‚trägt‘, wo Jason und die Argonauten das Goldene VliesGoldenes Vlies finden müssen. Auf jeden Fall ist die Richtung immer ostwärts. Die einzigen Belege für westwärts sind die Ankunft von Ino bzw. Melikertes in MegaraMegara, Korinth, Korone, wie Pausanias59 es schildert, oder – das ist der äußerste Fall – in RomRom, wie bei Ovid60, der die I-P-H-Version ablehnt und die I-L-M-Version vertritt.