Die Zärtlichkeit der Fische

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Die Zärtlichkeit der Fische
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Marie Levy

Die Zärtlichkeit

der Fische

Erzählungen

Über die Autorin

Marie Levy, geboren 1967, lebt in München. Sie studierte Ethnologie und arbeitet seit vielen Jahren als Journalistin im In- und Ausland. „Marie Levy“ ist ein Pseudonym.

Impressum

Copyright: © 2014 Marie Levy

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1818-5

Umschlagbild: Lilly Gaza

Reproduktion: Garnet Polivka

Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe,

die wir hinterlassen, wenn wir gehen.

Albert Schweitzer

Die Schmuckverkäuferin

„Yo soy la Colombiana“ sagt sie, um der Welt zu zeigen, dass sie, Lorena, einundzwanzig, ihr keine Rechenschaft schuldet. „Ich bin die Kolumbianerin“.

„Wenn ich in ein Restaurant gehe und mir ist danach, dann ziehe ich einfach die Schuhe aus und setze mich so – weil es mir so gefällt“. Und zum Beweis zieht sie sich die Schuhe aus und kreuzt die Beine auf dem Stuhl.

Klein, zart, mit burschikosen Bewegungen duldet sie keine Traurigkeit oder schlechte Laune in ihrer Umgebung. „Was machen wir nun?“, fragt sie in diesem Fall. „Lasst uns Spaß haben!“ Und sie lacht.

Spielen sie in der Disko keinen Reggae, dann tanzt sie eben Salsa. Nicht so elegant wie die anderen, nicht so gekonnt, aber dafür mit doppelt so viel Energie.

Findet sie keine Touristen, denen sie einen Ausflug in die Umgebung organisieren kann, dann macht sie eben Schmuck aus Silberdraht. Ist der Vorrat noch groß genug, sitzt sie an ihrem Schmuckstand am Fluss bei den anderen, handelt ein bisschen, lernt diesen oder jenen kennen, tauscht Informationen aus. Findet heraus, was für sie wichtig ist.

Die Polizei ist wieder auf der Suche nach den Führern, die illegal arbeiten? Gut, keine Touren in den nächsten Tagen. Hat sie Geld, kann sie die Sache mit den Polizisten auch anders regeln.

Manchmal genügt es, eine Nachricht in Umlauf zu setzen, ich brauche dieses oder jenes, endlich eine Lizenz als Führer vielleicht. Möglich, dass Tage später einer, den sie gar nicht kennt, am Stand vorbeikommt, der aber bereits weiß, was sie braucht und wo sie es findet. Wenn nicht morgen, dann vielleicht übermorgen. Geld zum Leben kann man sich leihen. Der Freund am Hot-Dog-Stand hat für den Notfall auch mal ein Hot-Dog übrig. Ein Bierchen allemal.

Wenn sie mit jemandem reden möchte, den sie nicht kennt, winkt sie den einfach zu sich und sagt: „Setz dich, ich will dir etwas sagen“. Und die meisten Leute setzen sich, denn sie hat Charme.

Jeden Morgen bauen sie den Schmuckstand auf, jeden Abend bauen sie ihn ab. Er besteht aus ein paar Kisten, über die roter Stoff gebreitet wird. Darauf wird der Schmuck dekoriert. Mit viel Liebe machen sie das. Ihre Wohnung ist immer irgendein Hotel, möglichst billig natürlich, hässlich natürlich, aber das stört sie nicht. Ihr Zuhause ist die Straße.

Am Schmuckstand arbeitet sie zusammen mit ihrem Freund Antonio und einem halbwüchsigen Kariben, Pablo. Der Kleine ist ihr Sohn, sagt sie, denn sie passt auf ihn auf. Und er, ab und zu im Spaß, nennt er sie Mama, und man sieht, dass es ihm gut tut. Seine eigenen Eltern hat er schon vor Jahren verlassen.

Antonio, Lorenas Freund, ist der Papa. Ein Papa mit Händen, die immer irgendeine Beschäftigung suchen, immer etwas schaffen. Meistens ist es Schmuck. Ausdrucksvollen, glatten, sehnigen Händen, die in irritierendem Gegensatz zu seinem vernarbten Gesicht mit unergründlich ernsten Augen stehen. Neunundzwanzig Jahre, tief eingekerbt.

Dass sie ein Paar sind muss man wissen. Nur manchmal sieht man seinen Arm um sie gelegt. Kommen Bekannte, erhebt sie sich sofort. Er lässt sie gehen. Aber dass sie sich Wärme geben müssen, alle drei, das sieht man. Das Nötigste zum Überleben.

Zigaretten holen und Bier, das macht immer der Kleine. Kommt ein Freund an den Stand, dann bekommt er Bier, Wasser, Pepsi, was er möchte. Danach bleibt er vielleicht eine Stunde, vielleicht einen Tag und hilft mit.

Ist der Markt zu Ende, dann ziehen sie weiter, in Venezuela, Brasilien, manchmal, wenn es gut läuft, auch nach Europa, wie Antonio, der mit seinem Schmuck bereits in Frankreich war. Ab und zu haben sie eben Geld, ab und zu nicht.

„Es gefällt mir zu reisen“, sagt Lorena. Ihr Traum ist Italien. „Bald“, sagt sie.

Bietet sich die Gelegenheit, dann fährt sie auch alleine weiter. Vielleicht, wenn sie Menschen trifft, die ihre Freunde werden, mit denen sie reden kann, die ihr Wärme geben und mit ihr lachen. Und die sie abends in den Schlaf streicheln, wenn sie krank ist, ohne mit ihr schlafen zu wollen. Dann gibt es Tränen beim Abschied, wenn sie wieder alleine zurückbleibt.

Irgendwann ist es dann auch an der Zeit, dass sie sich wieder trennt, von Antonio, der vielleicht schon eine Andere hat, und von dem kleinen Kariben, den sie nur „Sohn“ nennt. „Er geht mir immer aus dem Weg, wenn ich fahre, weicht mir aus, um sich nicht verabschieden zu müssen“, erklärt sie. „Er hat Angst, dass ich dann nicht wiederkomme.“ Manchmal frage er sie, ob er mitkommen könne. „Ich sage dann zu ihm: Du musst arbeiten, bleib bei Antonio“.

Nur manchmal, ganz selten, erzählt sie wirklich von ihrem Leben. Eine kleine dunkle Bar braucht sie dazu, ein, zwei Gläser Wein, jemanden, der wirklich zuhört. Ja, mit fünfzehn sei sie von zuhause weggegangen, aus Kolumbien, da sie nicht für die Mafia arbeiten wolle, sagt sie, nach Brasilien. Zwei Jahre später nach Venezuela.

Und noch viel seltener erzählt sie mehr.

Dass ihre Eltern ermordet wurden, als sie sechzehn war, dass sie seitdem nicht mehr heimfahren kann, weil sie die Erinnerung in dem Haus nicht ertragen würde. Dass sie einen zweijährigen Sohn hat, von einem Brasilianer, der sie verlassen hat, als sie schwanger war.

Wo der Sohn ist? Im Moment bei einer Freundin. Sie besucht ihn ein- bis zweimal die Woche und spielt mit ihm.

„Es ist schön, ein Kind zu haben“, erklärt sie, und ihre Augen weiten sich vor Freude, als sie sein Gesicht beschreibt. Sie will ihn nach Kolumbien bringen, wenn sie genug Geld beisammen hat, zu ihrer Schwester, die hat eine Familie, dort wird er es gut haben.

Wohl, bis er in das Alter kommt, von zu Hause wegzugehen, oder für die Mafia zu arbeiten, oder bis seinen Pflegeeltern etwas zustößt. Aber davon spricht sie nicht. Möglich, dass sie nicht darüber nachdenkt, in dem Bestreben, sich zumindest für ihr Kind eine heile Welt zu erträumen.

„Ich hoffe, dass er es versteht, wenn er größer ist, ich kann das nicht, an einem Ort bleiben“ entschuldigt sie sich dafür, dass sie den Sohn nicht bei sich hat.

Sie erzählt in diesen seltenen Momenten auch von ihrer großen Liebe, einem Italiener, mit dem sie einen Monat unterwegs war. Zur Erinnerung an diese Zeit trägt sie in ihrer Tasche eine Visitenkarte von einem Luxushotel mit sich herum, in das er sie eingeladen hat.

Erst als er wieder in Italien war, teilte er ihr telefonisch mit, dass er eine Verlobte hat, Italienerin, sehr schön. Er hat ihr eine Wohnung in Italien angeboten – natürlich ohne die Verlobung zu lösen, wo denkt sie hin.

Viele Male hat sie versucht, ihn anzurufen, jedes Mal hat ihr die Stimme versagt, erzählt sie, als sie ihm ein paar Wochen später mitteilen wollte, dass sie ein Kind erwartet, von ihm. Schließlich hat sie es abgetrieben. Ganz schwarz sind ihre Augen nun, vor Traurigkeit. Vor sieben Monaten war das und manchmal, sagt sie, hat sie das Gefühl, dass irgendetwas sie erdrückt, wenn sie an diese Geschichte denkt. „Ein Trauma“, sagt sie.

Seitdem hat sie mit niemandem mehr geschlafen. Antonio? „Ach der, er liebt mich, na und?“ Manchmal gibt er ihr Geld. Und es freut sie, sagt sie, dass er macht, was immer ihr gefällt. „Wie ein Roboter“, sagt sie. Warum? „Man hat mir wehgetan, warum sollte ich es anders machen?“ Liebe? „Aber nein, er ist doch hässlich.“ Ein guter Mensch? „Ja, ein Freund“. Manchmal schlafen sie Arm in Arm.

Und dann lacht sie wieder. Ein fröhliches, verschmitztes Lachen, nicht das Lächeln für Touristen. „Irgendwann gehe ich nach Italien, bald, nicht wegen dem Typen. Einfach, weil ich es so will.“

Und auch dort wird sie sagen: „Yo soy la Colombiana“, weil sie frei ist, vogelfrei.

Die Seide der Kobolde

Warum er an diesem Abend mit ihr mitgegangen war, hätte er nicht genau sagen können. Sie war nach der Vorstellung noch in die Theaterbar gekommen und hatte sich neben ihn gesetzt. Offenbar kannte sie Leute aus dem Stück, in dem er mitspielte. Ihr Gesicht hatte etwas Unschuldiges, und er beschloss, mit ihr zu flirten. Sie hatte schon etwas getrunken, gerade genug, um sexy zu sein, ohne ordinär zu wirken. Und noch etwas hatte sie. Sie hatte Magie. „Hexe“, nannte er sie bei sich, und konnte sich vorstellen, dass sie seine Gedanken träumen würde.

Als sie ihn fragte, ob sie diese Nacht in seinen Armen schlafen könne – ohne mit ihm schlafen zu wollen – da sagte er ja, ohne dass er hätte nein sagen können. Als sie sich vorbeugte, um mit einer seiner Kolleginnen zu reden, und sich dabei mit der Hand in seiner zerrissenen Jeans einhängte, irgendwo in der Nähe seines Knies, da wusste er, dass er mitkommen würde.

Im Morgengrauen kamen sie vor ihrem Haus an. Ihre Wohnung war nicht groß. Die selbstgebaute Schiebetür zu ihrem Zimmer ratterte ohrenbetäubend in die Morgenstille. Sie musste etliche Nachbarn damit aufgeweckt haben. Die Wohnung roch nach Gemütlichkeit. Plaudernd, als würden sie sich schon ewig kennen, zogen sie sich aus und legten sich ins Bett. „Du wolltest doch in meinen Armen schlafen, also komm her.“ Damit zog er sie zu sich. Sie war klein und zart. Aber sie hatte einen schönen runden Hintern und schöne große Brüste. Sie war okay. Einen sehr weißen Hintern und sehr weiße Brüste, wie er amüsiert feststellte, als er den Bikiniabdruck wahrnahm. Er selbst war schwarz.

 

Irgendwann wollte er dann doch mit ihr schlafen. Nicht, weil er sie wirklich begehrte. Einfach nur, um zu wissen, wie sie sich anfühlte. Dass er nicht kommen würde, das war ihm klar. Er sagte ihr das, sagte ihr auch, dass er keine Verantwortung übernehmen wolle, dass er gerade eine lange Beziehung hinter sich habe und den ganzen Kram. Sie reagierte ruhig darauf. „Du musst nicht mein Freund werden.“ Er zog sie über sich. „Ich glaube, du wirst heute einen netten Orgasmus haben“, scherzte er. Sie lachte, ließ sich herüberziehen. Zurückhaltend war sie, ein bisschen. Während sie miteinander schliefen, murmelte er ihr Geschichten ins Ohr. Da wusste sie, dass sie sich in ihn verlieben würde.

Übungen nannten sie es später, als sie sich daran erinnerten, dass keiner von ihnen gekommen war. „Sex ist, wenn wenigstens einer kommt“, da waren sie sich einig.

Danach legte sie sich neben ihn, zündete sich und ihm eine Zigarette an und forderte ihn auf, zu erzählen. Er erzählte ihr von der Frau, die er vor einigen Monaten verlassen hatte, davon, dass er sie, wie er sagte, nie geliebt habe. Er schien sich dafür zu schämen. Dass er seitdem nicht mehr gekommen war, dass er sich nicht leicht verliebe. Sie hörte ihm zu, und irgendetwas in seiner Art zu erzählen machte sie froh darüber, dass er bei ihr war.

Er blieb, so lange er konnte. Sie schliefen fast den ganzen Tag. Als sie ihn abends zur Vorstellung brachte, wollte er ihre Telefonnummer haben und er gab ihr seine.

Hin und wieder begegnete er ihr in dem Theater, in dem er spielte. Ob sie wegen ihm kam, wusste er nicht genau. Sie schien viele Leute zu kennen.

Das nächste Mal, als er sie nach der Vorstellung ansprach, war er müde, unausgeschlafen und schlechter Laune. Und er wusste nicht, ob er sie sehen wollte. Aber er wollte, dass es ihr gut ging. „Ruf mich an“, sagte er ihr zum Abschied und hoffte, dass sie es nicht tun würde.

Ein paar Tage später sah er sie erneut. Sie stand da, mit einer Freundin, in der Pause, die unvermeidliche Zigarette in der Hand. Und er war überrascht von ihrer Schönheit. Danach fragte er sie, ob sie ihn mitnehmen würde, am Tisch, bei den anderen. Sie sagte ja. Ansonsten redeten sie nicht viel. Ab und zu gab er ihr seinen Wein zu trinken, und ihre Hände berührten sich dabei.

Später an diesem Abend sagte er ihr, dass er sich in sie verliebt hätte – zwischen zwei Bissen Pizza – und sie fragte nur: „Bist du sicher?“ „Ich glaube ja“, nickte er.

Er ging vor ihr, um draußen auf sie zu warten. Er wollte noch nicht, dass die Welt von ihnen wüsste. Als sie kam und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief, da musste er mit ihr lachen, über ihr Glück.

Dieses Mal kam er. Am nächsten Morgen, unter ihren Händen und zwischen ihren Lippen. „Ich weiß, dass es bei dir gehen wird“, hatte er zuvor gesagt. „Ich weiß es auch“, hatte sie geantwortet, denn sie war vor ihm gekommen, an seiner Hand.

Dann erzählte er ihr von seiner Reise zwischen die Sterne. Von der ungeheuren Explosion des Firmaments, in die sie ihn und seinen schwarzen Schwanz entführt hatte.

Er erzählte ihr auch von dem Moment, als seine Seele sich erstmals seines neuen Lebens bewusst geworden war, in seinem Blickfeld nur die Stäbe des Kinderbettes. Und sie sah durch seine Augen den Blick, mit dem er ein Baby gewesen war. Lange lagen sie noch nebeneinander und eröffneten sich die Magie dieser Welt mit unglaublichen Geschichten von Wahnsinn und Wahrheit.

Bald darauf kam er zu ihr, um Abschied zu nehmen. Sie träumte noch von einem Anfang. Alles was sie wusste war, dass er einer von denen war, auf die sie gewartet hatte. Wusste, dass sie ihn lieben könnte.

Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Frau, die er verlassen hatte ihn nicht freigeben, dass sein schlechtes Gewissen die Gefühle immer wieder ersticken würde. Er hatte Angst. „Verliebe dich nicht in mich“, sagte er deshalb, „ich werde dir wehtun“.

Diese Nacht schlief sie nicht gut neben ihm. Sie spürte, dass er nicht bei ihr war.

In die Abschiedsvorstellung kam sie mit der Gewissheit, dass sie leiden würde. Sie sah ihn mit der anderen gehen, ängstlich besorgt, diese nicht mit seiner fehlenden Liebe zu quälen.

Nach ein paar Tagen hatte sie alle Tränen geweint, die sie für ihn hatte, in der Gewissheit, dass dies eines der wenigen Wunder hätte sein können, das die launische Welt der Liebe für die Menschen bereithält. Ihre Freunde hatten den Kopf geschüttelt und sie Träumer geschimpft, aber sie hatte in seinen Augen ihre Seele gesehen.

Sie hatte den Reigen der Kobolde erblickt, die ihn umtanzten, blitzartig fratzenhaft und auf schillernde Weise freundlich. Ihre Hexenaugen hatten sie erkannt und liebevoll als ihre Gefährten begrüßt. Sie wollte ihm gerne sagen, dass in ihrem Leben Platz wäre – für ihn und die Kobolde.

Er willigte ein, sie noch einmal zu sehen. Sie verabredeten sich, doch er kam nicht vorbei. Sie hatte sich schön gemacht in der Ahnung, dass er nicht kommen würde. Das half ihr, sich nicht leid zu tun. Sie machte Musik daheim und feierte ein Abschiedsfest. Sie sang und tanzte für ihn.

Dann lächelte sie dem Leben durch das Fenster zu. „Seine Haut war wie Seide“, erzählte sie dem Novembernebel.

Kriegerliebe

Da ihm da, wo er aufwuchs, nichts anderes als die Kraft seiner Arme und die Macht seiner Wut das Überleben hatten sichern können, war ihm die Gewalt zur zweiten Natur geworden. Sie lebte in seinem Körper wie ein zusätzliches Gen, geboren aus der Vereinigung von Armut und Hass.

In dem täglichen Kampf um den Stärkeren war er immer der Stärkste gewesen. Stämmig und untersetzt von Statur schien sein Schwerpunkt tiefer als der aller anderen Menschen, mit denen er sich maß. Es war fast unmöglich, ihn zu Fall zu bringen, und seine Faust versprach schon sehr früh, tödlich zu werden. Zugleich konnte er, der sonst eher schwerfällig Wirkende, im Kampf zu einer sekundenschnellen Beweglichkeit wachsen, die ihn ohne das Zutun von bewusster Gedankenkraft schon den bloßen Absichten seines Gegners ausweichen ließ. Über das Kindliche seines unterentwickelten Intellekts hatte sich eine Maske der stumpfen Unbeweglichkeit gelegt, die in ihrer Unlesbarkeit erschreckender war als jede noch so deutliche Grausamkeit in einem Gesicht.

Das einzige, das seinem maßlosen Stolz Linderung verschaffen konnte, war Macht. Und da er keinen Zugang zu der Macht des Geldes hatte, entschied er sich für die Gewalt. Er wurde der Anführer, weil er der Beste war, der Grausamste und ohne Gnade. Doch da er seine Macht Tag für Tag beweisen musste, gab sie ihm keine Sicherheit. Er wurde immer empfindlicher, was vermeintliche Angriffe auf sein grenzenloses Ego betraf. Er fing an, sogar gegen Blicke zu kämpfen.

Irgendwann stand dann einer nicht mehr auf. Tödlich verwundet von seiner Faust, vorher gelähmt durch seine Wut.

In der Jugendstrafanstalt fand sich jemand, der sich seiner annahm. Einer, der erkannte, dass er ein Kämpfer war, wie ihn nur das Elend schaffen konnte. Ein Kämpfer, der gewinnen musste, weil er nicht geliebt werden würde. Und einer, der wusste, wo Fäuste wie seine erwünscht waren. So wurde er Boxer.

Seine Wut war grenzenlos. Wie eine Maschine mähte er seine Gegner nieder, unempfindlich gegen Angst oder Mitgefühl. Unempfindlich gegen die Liebe, so wie die Straße es ihn gelehrt hatte.

Mit dem Geld, das er durch seine Kämpfe verdiente, wurde er zum Protzer. Gleich einem Pavian, der seinen roten Arsch zur Schau trägt, trug er seine teuren Uhren und seine Autos vor sich her. Zum Liebling des Volkes wurde er nie. Dazu hatte er zu wenig Charme, hatte zu wenig Unschuld im Blick. Er war immer der andere, der Fremde, keiner von ihnen. Ein Untier, geboren aus dem Hass der Welt. Das Volk ergötzte sich an den Schauern, die er ihm über den Rücken jagte. Kleine Kinder mussten mit der Drohung leben, dass er sie holen würde, wenn sie nicht gehorchten. Doch während der Kämpfe war er ein Star. Faszinierend durch das Dunkle um ihn. Prickelnd, da niemand bis auf den Grund seines Hasses schauen konnte. Einem Hass, der so mathematisch war, wie eine geometrische Figur. So präzise und berechnend wie ein militärischer Plan. Fesselnd, da seine Brutalität nie bis zur Neige auslotbar war und deshalb gewissen Moorlöchern glich, um die seit Jahrtausenden die Irrlichter tanzen. Unwiderstehlich in ihrer unfassbaren, windesleichten Tödlichkeit.

Mit dem Geld kamen die Frauen. Da sie ihm körperlich unterlegen waren hatte er nur Verachtung für sie. Aber er genoss den Rausch, den er ihnen verdankte. Und da sie immer wieder kamen wusste er, dass sie käuflich waren, bestochen durch seine Macht. Manche von ihnen wollten bleiben, um die eigene Bedeutungslosigkeit in ihm zu verlieren. Andere wollten sich nur kurz an ihm beschmutzen, da sie die Reinheit nicht mehr erregte. Die Spiele, die er mit ihnen spielte, glichen seinen Kämpfen. Scheinangriffe, taktieren, kurzzeitiger Rückzug. Aber immer hatte er den Sieg im Auge. Und der Sieg bedeutete, den anderen kompromisslos zu unterwerfen. Feinfühligkeit hatte ihn nie jemand gelehrt. Mitgefühl hätte Untergang bedeutet da, wo er herkam und da, wo er war. Gewalt war seine einzige Sprache, Unterwerfung seine einzige Zärtlichkeit. Er gab ihnen das, was sie von ihm erwarteten, das, was sie brauchten für ihre geborstenen Herzen, und damit verwehrten sie ihm wieder und wieder den Zugang zur Liebe.

Doch eines Tages kam eine, die anders war. Eine, die die Unschuld noch nicht verloren hatte. Ihr Blick erinnerte ihn an den Teddybären, den er als kleiner Junge aus dem Müll gezogen und mit ins Bett genommen hatte. Bis er alt genug war, ihm die Arme auszureißen. Dann nämlich, als er bemerkte, dass der Teddy zu gleichgültig war, um ihn zu beschützen. Doch das wusste er nicht mehr. Er spürte nur den Zauber einer längst vergessenen Weichheit, fühlte Sehnsucht und Wärme gleich einer ewig vergangenen Geschichte. Doch das Leben hatte ihn gut im Griff. Er stolzierte vor ihr auf und ab, einem Gockel gleich, zahlte ihr Drinks und spielte ihr den Helden vor. Der Stumpfsinn seines Gesichts verbrannte in der Gewissheit des Sieges. Er wusste, dass er wirkte. Und sie, die sich aus seinen Uhren und Autos nichts machte, sie ließ sich blenden von seinem Wissen um seine eigene Macht. Unreif, wie sie war, hielt sie seine Siegerpose für Stärke und seine Protzerei für Männlichkeit. Seine Plumpheit war ihr Unbeholfenheit und seine zwingende Dunkelheit hieß Abenteuer. Seine Aufmerksamkeit war Ehre. Als er sie nach einer Party noch auf einen Drink in sein Hotelzimmer einlud, da sagte sie zu, ohne den Abend zu Ende zu denken. Immerhin war er ein Mann von Welt, er war berühmt und das Hotel war kein Hinterhof. Kaum waren sie in seinem Zimmer, da küsste er sie, noch während er die Türe zuzog. Er drückte sie an die Wand dabei, ein Bild verrutschte, ging zu Boden. Ihre Abwehr hielt er für Temperament, ihre Hilflosigkeit machte sie zur Beute. Und mehr noch ihre Eitelkeit. Er war ein Mann mit viel Erfahrung, ein berühmter Mann, ein Boxer. Sie wollte nicht zeigen, dass es ihr zu schnell ging. Dass sie nicht erregt war, schien ihr ihre Schuld. Sie ließ sich aufs Bett drängen, ließ sich streicheln. Sie wusste nicht, was sie seinem Willen entgegensetzen sollte. Als er plötzlich ihren Rock hob, ihren Slip zur Seite schob und zustieß, tief und schmerzhaft, da begann das Entsetzen sie zu lähmen. Es schien, als habe sich ihre ganze Lebenskraft an einem Punkt zwischen ihren Lenden versammelt und dieser würde wieder und wieder auf die boshafteste Weise malträtiert. Er glaubte, noch nie in solche Höhen der Lust gelangt zu sein. Diese Frau, die er unter sich hatte, war köstlich. Sie war wunderbar eng.

Sie ging, während er noch die Entspannung genoss, als die Polizisten kamen, schlief er schon. Er war keiner von denen, die vor der Öffentlichkeit Gnade finden sollten. Endlich konnten sie ihn strafen, für die Lust an ihren inneren Fratzen. Die Unschuld schenkten sie lieber anderen, nicht weniger Schuldigen, die sie mit Süße kauften, die nicht nach Gosse rochen. Was sie nie wissen sollten, war der Traum, den er im Halbschlaf geträumt hatte, als sie gegangen war. Er handelte von weißen Schleiern und Ewigkeit.

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