Loe raamatut: «Unterwegs und Daheim», lehekülg 3

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Unübertrefflich!
– Pears Seife für den Teint! –
Sozodont giebt Schönheit und Jugend!
– Paillards Spieldosen! –
Wades Kopiertinte!

Man ergriff ihn auf frischer That und es stellte sich heraus, daß er ein Amerikaner war. Bei seinem Verhör sagte der Richter: »Sie sind aus einem Lande, wo man um elenden Gewinnes willen die Natur ungestraft und nach Belieben beleidigen und entweihen darf, und in ihr den Schöpfer! Aber hier wird das nicht gestattet! – Mit Rücksicht auf Ihre Unwissenheit und weil Sie ein Fremder sind, will ich Ihnen ein gnädiges Urteil sprechen; wären Sie ein Eingeborener, so würde Ihre Strafe weit strenger ausfallen. Vernehmen Sie meinen Spruch: Sie werden sofort jede Spur Ihrer abscheulichen That von dem Schillerdenkmal entfernen und eine Geldstrafe von zehntausend Franken bezahlen. Ferner sind Sie zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, worauf Ihnen die Ohren abgeschnitten und Sie bis zur Grenze des Kantons gepeitscht und für immer verbannt werden! – Die härteren Strafen werden Ihnen in diesem Falle erlassen, – nicht um Ihnen Gnade zu erweisen, sondern um der großen Republik willen, die das Unglück gehabt hat, Ihnen das Leben zu geben.«‹

Die Bänke auf dem Dampfboot stehen so, daß die Passagiere einander den Rücken zukehren. Hinter mir saßen gerade einige Damen. Auf einmal wurden sie von jemand angeredet und ich hörte folgendes Gespräch mit an:

»Sie sind wohl aus Amerika? Ich auch.«

»Ja, wir sind aus Amerika.«

»Das wußte ich – ich erkenne die Amerikaner immer. In welchem Schiff sind Sie herübergekommen?«

»In der City of Chester.«

»Von der Inman-Linie, nicht wahr? Wir in der Batavia, – Cunard, wie Sie wissen. Was für eine Überfahrt haben Sie gehabt?«

»Eine ziemlich ruhige.«

»Da können Sie von Glück sagen; unsere war schrecklich rauh. Der Kapitän sagte, so rauh wäre es nur selten. Wo sind Sie her?«

»Von New-Jersey.«

»Ich auch – nicht doch, ich meine aus New-England, in Neu-Bloomfield bin ich zu Hause. Gehören diese Kinder Ihnen beiden?«

»Nur mir, meine Freundin ist unverheiratet.«

»So! Ich auch. – Reisen die beiden Damen allein?«

»Nein, mein Mann reist mit uns.«

»Unsere ganze Familie ist mit; allein zu reisen ist schrecklich langweilig – meinen Sie nicht auch?«

»Das ist wohl möglich.«

»Oho, da kommt der Pilatus wieder heraus. Er heißt nach Pontius Pilatus, wie Sie wissen, welcher Wilhelm Tell den Apfel vom Kopf geschossen hat; im Reisehandbuch steht die ganze Geschichte, aber ich habe sie nicht gelesen – ein Amerikaner hat es mir erzählt. Ich lese nie, wenn ich so von einem Ort zum andern gehe und mich gut unterhalte. Haben Sie schon die Kapelle gesehen, in der Wilhelm Tell gepredigt hat?«

»Gepredigt hat er da Wohl nicht!«

»O doch, der Amerikaner hat es mir gesagt; er hat seinen Bädeker immer offen und kennt den See besser als die Fische, die darin schwimmen. Warum sollte sie denn auch sonst Tells Kapelle heißen?! Sind Sie schon früher hier gewesen?«

»Ja.«

»Ich nicht; es ist meine erste Reise, aber wir waren allenthalben – in Paris und überall. Nächstes Jahr soll ich in Harvard studieren und ich lerne jetzt immerfort Deutsch; ehe ich nicht Deutsch kann, werde ich nicht aufgenommen. Ich habe Ottos Grammatik immer bei mir und sehe hinein, wenn ich Lust dazu bekomme; jetzt beim Herumreisen lerne ich nicht ordentlich, sondern sage mir nur manchmal her: »ich habe gehabt, du hast gehabt, er hat gehabt, wir haben gehabt, ihr habet gehabt, sie haben gehabt!« Das geht so wie im Schlaf, und dann bin ich's wieder für ein paar Tage los. Es strengt den Verstand ganz schauderhaft an, Deutsch kann man nur in kleinen Dosen lernen; zuerst läuft alles in einander, wie geschmolzene Butter. Mit dem Französischen ist's etwas ganz anderes, das wird mir ganz leicht, ich kann: j'ai, tu as, il a u.s.w. herunterrasseln wie das Abc! In Paris bin ich sehr gut damit durchgekommen und überall, wo französisch gesprochen wird. In welchem Hotel wohnen Sie?«

»Im Schweizerhof.«

»Was? wirklich? Ich habe Sie ja nicht im Salon gesehen! Ich gehe sehr oft dahin, weil ich dort so viele Amerikaner treffe, und eine Menge Bekanntschaften mache. Sind Sie schon auf dem Rigi gewesen?«

»Nein.« »Wollen Sie hin?«

»Ja, es ist unsere Absicht.«

»In welches Hotel gehen Sie?«

»Ich weiß nicht.«

»Dann gehen Sie zu Schreiber, es ist voll Amerikaner. In welchem Schiff sind Sie herübergekommen?«

»In der City of Chester.«

»Ach ja, das habe ich Sie schon einmal gefragt, aber ich frage jeden, in welchem Schiff er herübergekommen ist, und da passiert es mir manchmal, daß ich die Frage wiederhole. Gehen Sie nach Genf?«

»Ja.«

»In welchem Hotel werden Sie wohnen?«

»Wahrscheinlich in einer Pension.«

»Das wird Ihnen nicht gefallen – in den Pensionen sind wenig Amerikaner. In welchem Hotel wohnen Sie hier?«

»Im Schweizerhof.«

»Ja so, das habe ich Sie auch schon gefragt; aber ich frage jeden danach und da habe ich den ganzen Kopf voll Hotels; es dient aber doch zum Gespräch, und ich unterhalte mich sehr gern, es ist eine rechte Erholung auf solcher Fahrt – finden Sie das nicht auch?«

»Ja – zuweilen.«

»Mich erfrischt es förmlich. So lange ich im Gespräch bin, langweile ich mich nie, – geht es Ihnen nicht auch so?«

»Ja, – gewöhnlich, aber es giebt Ausnahmen von der Regel.«

»O natürlich! – ich spreche auch nicht gern mit jedermann. Manche Leute fangen gleich ein Gewäsch an von Scenerieen und Geschichte und Bildern und allerhand lästigen Dingen, die einem bald überdrüssig sind. Dann sage ich immer: ›Jetzt muß ich mich empfehlen – ich hoffe, wir sehen uns noch,‹ – und spaziere weiter. Wo sind Sie her?«

»Aus New-Jersey.«

»Ja, potztausend, das habe ich Sie ja auch schon gefragt! Haben Sie schon den Löwen von Luzern gesehen?«

»Noch nicht.«

»Ich auch nicht; aber der Mann, der mir vom Pilatus erzählt hat, sagt, es sei eine der Sehenswürdigkeiten; er sei achtundzwanzig Fuß lang – ich kann mir das kaum denken, aber er behauptet es und hat ihn erst gestern gesehen. Da war der Löwe im Sterben und jetzt wird er wohl schon tot sein; das schadet aber nichts, natürlich wird er doch ausgestopft! – Sagten Sie, die Kinder gehören Ihnen oder der andern?«

»Mir nicht.«

»O ja, richtig! Gehen Sie nach ... nein, das habe ich Sie schon gefragt. In welchem Schiff ... halt, das habe ich Sie auch schon gefragt. In welchem Hotel ... nein, Sie haben mir das gesagt. Was fehlt denn noch? – hm – ja so – Was für eine Überfahrt ... nein, das haben wir auch schon besprochen. Hm – hm – ich glaube, das ist wirklich alles. – Bon jour – ich habe mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Damen. Leben Sie wohl!«

Noch ein Landsmann

(Nummer 2.)

Ich saß mit Harris in einer Sennhütte, beschäftigt, meine Tagebücher zu ordnen und verschiedene wissenschaftliche Beobachtungen zu Papier zu bringen, als ein schlanker, junger Amerikaner zu uns eintrat. Er mochte etwa dreiundzwanzig Jahre alt sein und näherte sich mir mit jener ungekünstelten Selbstgefälligkeit, welche Jünglinge seines Alters für feine, weltmännische Lebensart halten. Er trug das Haar in der Mitte gescheitelt und lächelte so albern, wie ein Höfling auf der Bühne, als er sich mir vorstellte. Während er mit seiner schöngepflegten Rechten meine Hand umkrallte, verbeugte er sich dreimal mit dem Oberkörper bis zu den Hüften nach Theatersitte und sagte in gnädig herablassendem Beschützerton:

»Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, freue mich wirklich außerordentlich. Habe alle Ihre kleinen Versuche gelesen und bewundere sie sehr; hörte, Sie seien hier und wollte –«

Ich deutete auf einen Stuhl und er nahm Platz.

Dieser hohe Herr war der Enkel eines zu seiner Zeit sehr namhaften Amerikaners, der auch heutigen Tages noch nicht vergessen ist und dem nur noch so wenig fehlte, um ein großer Mann zu sein, daß er bei seinen Lebzeiten allgemein dafür gehalten wurde.

Ich ging langsam in dem Zimmer auf und ab, mit der Lösung wissenschaftlicher Probleme beschäftigt und hörte dabei die folgende Unterhaltung:

Enkel. Sie sind zum erstenmal in Europa?

Harris. Ich? – Ja.

Enkel ( mit einem wehmütigen Seufzer zur Erinnerung an vergangene Freuden, die man in ihrer Süßigkeit nur einmal genießt), Ach, ich weiß, wie Ihnen zu Mute ist. Der erste Besuch ist so romantisch. Ich möchte jene Gefühle wohl noch einmal durchleben.

Harris. Ja, ich finde, es übertrifft alle meine Träume. Es liegt ein unbeschreiblicher Zauber darin. Ich muß gestehen ...

Enkel ( mit einer gezierten Handbewegung, als wollte er sagen: »Verschonen Sie mich mit den rohen Ausbrüchen Ihrer Begeisterung, guter Freund!«) Ich weiß, ich weiß! Man besucht die Kirchen und staunt. Man geht durch endlose Galerien und staunt wieder. Man steht hier und dort und überall auf historischem Boden und staunt immerfort. Man sammelt seine ersten unreifen Kunstbegriffe und fühlt sich stolz und glücklich. Ja, stolz und glücklich – das ist der richtige Ausdruck. Recht so, genießen Sie es nur – es ist ein unschuldiges Vergnügen.

Harris. Aber Sie? Freuen Sie sich denn nicht mehr daran?

Enkel. Ich? Sie spaßen wohl, bester Herr. Wenn Sie erst ein so alter Reisender sind wie ich, werden Sie solche Frage nicht mehr stellen. Ich sollte noch die vorgeschriebenen Galerien besuchen, in den vorgeschriebenen Kirchen herumstehen und alle die abgedroschenen Sehenswürdigkeiten besichtigen? – das fiele mir ein!

Harris. Aber was thun Sie denn sonst?

Enkel. Was ich thue? Ich bin bald hier, bald dort – immer unterwegs; aber ich folge nicht der großen Herde. Heute bin ich in Paris, morgen in Berlin, dann wieder in Rom; vergebens würden Sie mich aber im Louvre suchen oder an andern Orten, die der gewöhnliche Reisende in den Hauptstädten aufsucht. Wer mich finden will, muß in verborgene Ecken und Winkel gehen, wohin sich andere Leute nie verlieren. An einem Tage quartiere ich mich vielleicht in einer entlegenen Bauernhütte ein, am nächsten in einem längst verlassenen Schloß, das irgend ein Kleinod der Kunst birgt, für welches der Unerfahrene kein Verständnis hat und an dem ein weniger geübtes Auge flüchtig vorübergehen würde. Oft weile ich auch als Gast in den geheiligten Wohngemächern von Palästen, in deren unbenutzte Räume die große Herde einen Blick werfen darf, wenn sie sich dem Diener dafür erkenntlich erweist.

Harris. Sind Sie ein Gast an solchen Orten?

Enkel. Ja, ein hochwillkommener Gast.

Harris. Das überrascht mich. Wie geht das zu?

Enkel. Meines Großvaters Name verschafft mir Zutritt bei allen Höfen Europas. Ich brauche ihn nur zu nennen und jede Thür steht mir offen. Ich eile nach Belieben von einem Hof zum andern und bin stets gern gesehen. In den europäischen Schlössern fühle ich mich so zu Hause, wie Sie bei Ihren eigenen Verwandten. Es giebt, glaube ich, keine hochstehende Persönlichkeit, die ich nicht kenne. Ich habe fortwährend alle Taschen voll Einladungen; jetzt bin ich auf dem Wege nach Italien, wo ich versprochen habe, in mehreren hohen Adelsfamilien als Gast einzukehren. In Berlin mache ich im Kaiserpalast die glänzendsten Gesellschaften mit. Und so geht es überall, wohin ich auch komme.

Harris. Wie angenehm. Doch muß Ihnen Boston ziemlich langweilig erscheinen, wenn Sie wieder zu Hause sind.

Enkel. Natürlich; aber ich gehe nicht oft nach Hause. Dort ist kein Leben – man findet da wenig, was der höhern Natur des Menschen Nahrung giebt. Der Horizont von Boston ist sehr beschränkt, wissen Sie. Die Leute selbst ahnen das nicht, man könnte sie auch nicht davon überzeugen, deshalb äußere ich auch nicht dergleichen, wenn ich dort bin. Wozu könnte das auch führen? – Boston würde es doch nicht verstehen, es hat eine zu gute Meinung von sich; aber sein Horizont ist sehr eng, das können Sie mir glauben. Wer so viel gereist ist wie ich und so viel von der Welt gesehen hat, erkennt das klar und deutlich, aber ändern läßt es sich nicht. Darum bleibe ich auch nicht dort, sondern suche mir eine Sphäre, die meinem Geschmack und Bildungsstandpunkt besser zusagt. Wenn ich gerade nichts Wichtigeres zu thun habe, fahre ich vielleicht einmal im Jahr hinüber, aber ich komme sehr bald wieder nach Europa zurück, wo ich meine meiste Zeit zubringe.

Harris. Ja so, Sie machen Ihre Pläne und dann – –

Enkel. Nein, entschuldigen Sie, ich mache gar keine Pläne. Ich thue jeden Tag nur, wonach mir zu Mute ist. Zu binden brauche ich mich nicht, ich bin mein eigener Herr und lebe ganz nach Gefallen. Ein alter Reisender wie ich braucht sich nicht zu beschränken, indem er sich bestimmte Ziele steckt. Das Reisen ist mir zur zweiten Natur geworden, zur fest eingewurzelten Gewohnheit. In einem Wort, ich bin ein Bürger der Welt – anders kann ich mich nicht bezeichnen. Ich sage nie: ich will da oder dorthin gehen, ich verliere überhaupt kein Wort darüber, sondern schreite gleich zur That. Vielleicht bin ich nächste Woche bei einem spanischen Granden zu Besuch, oder nach Venedig abgereist, wenn ich nicht etwa nach Dresden gehe. Wahrscheinlich werde ich mich binnen kurzem nach Ägypten begeben. Während mich dann meine Freunde aber noch an den Katarakten des Nil vermuten, erfahren sie zu ihrer Überraschung, daß ich schon irgendwo in Indien bin. Ich setze die Leute fortwährend in Erstaunen. »Als wir zuletzt von ihm hörten,« sagen sie wohl, »war er in Jerusalem, aber der Himmel weiß, wo er jetzt ist.«

Bald darauf erhob sich der Enkel, um fortzugehen; vielleicht hatte er eine Verabredung, irgendwo mit einem Kaiser zusammenzutreffen. Er wiederholte seine Höflichkeitsbezeugungen, streckte mir auf Armeslänge seine weiße Rechte hin, drückte sich mit der andern Hand den Hut gegen den Magen, knickte dreimal in der Mitte zusammen wie ein Taschenmesser und murmelte:

»Sehr gefreut, sehr gefreut. Wünsche Ihnen besten Erfolg.«

Dann entzog er uns seine holde Gegenwart.

Einen Großvater zu haben, ist ein großes, ein erhabenes Glück.

Da ich das Bild des jungen Menschen möglichst naturwahr zeichnen wollte, habe ich durchaus nicht zu stark aufgetragen. Meine anfängliche Entrüstung über ihn verwandelte sich bald in inniges Mitleid. Wer könnte auch Groll hegen gegen ein leeres Nichts? – Ich habe das Gespräch möglichst wortgetreu wiedergegeben, den Kern und Inhalt jedenfalls ganz genau. Dieser Jüngling und der harmlose Schwätzer, den ich auf dem Schweizer See traf, sind die kostbarsten und interessantesten Vertreter des jungen Amerika, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin. Die Art, wie sich der dreiundzwanzigjährige Enkel zu wiederholten Malen einen alten Reisenden und erfahrenen Weltmann nannte, schien mir unbezahlbar, und daß er die Güte gehabt hat, seine Vaterstadt Boston nicht über ihren engen Horizont aufzuklären, war äußerst dankenswert.

Die Besteigung des Riffelbergs

Kaum war ich auf meiner Schweizerreise in Zermatt angelangt, so benützte ich gleich den ersten Abend, um mich gründlich darüber zu unterrichten, wie man Alpenbesteigungen am besten bewerkstelligt.

Ich las alles darauf bezügliche in den Büchern, die ich auftreiben konnte, und darin u. a. folgende Ratschläge:

Man schafft sich vor allem feste, mit spitzigen Nägeln beschlagene Schuhe an und einen Alpenstock, der vom dauerhaftesten Holze sein muß, denn, wenn er bricht, kann man leicht ums Leben kommen. Man muß eine Axt mit sich führen, um Stufen in das Eis zu hacken und eine Leiter, die über die unwegsamsten Felsen forthilft. Mancher Tourist ist schon stundenlang nach einem Übergang umhergeirrt, bloß weil er sich nicht mit einer Leiter versehen hatte. Ein dickes Seil von 150-500 Fuß Länge ist ganz unumgänglich nötig, um sich an steilen und schlüpferigen Abhängen hinunterzulassen. Sehr nützlich ist auch ein starker, stählerner Haken zum Erklimmen derjenigen Felswände, für welche die Leiter zu kurz ist. Der Tourist wirft den an einem Seil befestigten Haken wie einen Lasso in die Höhe, bis derselbe an einer Felsenspitze hängen bleibt, dann arbeitet er sich mit Händen und Füßen an dem Seil hinauf. Hierbei darf er aber dem Gedanken nicht Raum geben, daß – sollte der Haken nicht halten – er selbst ins Fallen geraten und zuletzt in einer Gegend der Schweiz auf den Boden kommen würde, wo kein Mensch ihn erwartet. Mit einem dritten Seil, – und das ist die Hauptsache – müssen sich alle Bergsteiger an einander binden, damit, wenn einer aus der Gesellschaft in einen Abgrund oder eine Gletscherspalte hinabstürzt, die andern sich entgegen stemmen und ihn am Seil wieder heraufziehen können. Ferner braucht man einen Gazeschleier, um das Gesicht vor Schnee, Graupeln, Hagel und Wind zu schützen, und eine blaue Reisebrille, um nicht schneeblind zu werden. Endlich braucht man noch Träger, die mit Mundvorrat und Wein beladen werden, sowie mit wissenschaftlichen Instrumenten und wollenen Decken.

Zum Schluß meiner Studien las ich noch den Bericht über das entsetzliche Abenteuer, das Herrn Whymper einmal auf dem Matterhorn zugestoßen ist, als er allein 5000 Fuß über der Stadt Breil herumkletterte. Er suchte seinen Weg an einem Abhang gefrorenen Schnees. Derselbe war ein paar hundert Fuß lang und lief zunächst in eine Spalte aus, an deren Ende ein Abgrund von 800 Fuß Tiefe gähnte, gerade oberhalb eines Gletschers. Sein Fuß glitt aus und er stürzte hinab. Hören wir ihn selbst: »Wegen meines Tornisters fiel ich mit dem Kopf zu unterst und schlug zunächst etwa 12 Fuß tiefer auf Felsengestein; ich prallte wieder ab und nun ging's Hals über Kopf dem Abgrund zu. Der Alpenstock flog mir aus der Hand und immer mächtigere Sätze beförderten mich hinab, bald über Eis, bald über Gestein, wobei ich meinen Kopf vier- bis fünfmal mit stets verstärkter Gewalt aufschlug. Beim letzten Sprung flog ich 50-60 Fuß weit wie ein Kreisel durch die Luft und quer über die Spalte. Glücklicherweise schlug ich mit der ganzen linken Seite des Körpers am Rande derselben auf. Mein Kopf lag zum Glück oben und nach ein paar krampfhaften Griffen mit den Händen fand ich just über dem Abgrund einen Anhalt. Alpenstock, Hut und Schleier wirbelten an mir vorbei und verschwanden, und das Krachen, mit dem die durch meinen Fall losgebröckelten Steine auf die Gletscher fielen, sagte mir vernehmlich, mit wie knapper Not ich dem Geschick entronnen war, in der fürchterlichen Tiefe zerschmettert zu werden. In sieben bis acht Absätzen war ich beinahe 200 Fuß hinabgestürzt, und weitere zehn Fuß würden mich in einem Riesensprung bis zu dem Gletscher hinunter befördert haben.

Meine Lage war auch jetzt keineswegs gefahrlos, da ich den Felsen nicht einen Augenblick loslassen durfte und mir das Blut aus zwanzig offenen Wunden floß. Die schlimmsten am Kopfe versuchte ich zwar mit der einen Hand zu schließen, während ich mich mit der andern festhielt, aber bei jedem Pulsschlag schoß ein neuer Blutstrahl hervor. Plötzlich kam mir ein glücklicher Einfall – ich nahm einen großen Klumpen Schnee und legte ihn mir als Pflaster auf den Kopf. Das Blut hörte allmählich auf zu fließen. Nun arbeitete ich mich höher am Felsen hinauf und es gelang mir noch, eine gesicherte Stelle zu erreichen – dann verließen mich die Sinne!

Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, nahte sich die Sonne schon dem Untergang, und es war stockfinster, ehe ich die ›Riesenleiter‹ hinabgestiegen war. Glück und Behutsamkeit im Vereine halfen mir die 4700 Fuß bis nach Breil hinab, ohne daß ich auch nur ein einzigesmal ausglitt oder die Richtung verlor.«

Nach diesem Abenteuer mußte Whymper seiner Wunden wegen mehrere Tage lang das Bett hüten; kaum war er aber wieder aufgestanden, so erklomm er denselben Berg noch einmal. Die Kronik dieses Bergriesen erzählt von vielen traurigen Katastrophen, denen Touristen zum Opfer gefallen. Die bekannteste ist der Absturz einer aus vier Engländern (der obengenannte Whymper, Lord Douglas, Hudson und Hadow) bestehenden Gesellschaft, welche mit den Führern Croz, Taugwalder (Vater und Sohn) und Javelle 1865 eine Besteigung des Matterhorns unternahmen. Das Seil, mit welchem die acht Personen unter einander verbunden waren, riß und drei Engländer sowie der Führer Croz stürzten 1200 Meter tief hinab auf den Matterhorngletscher, während nur Whymper und drei Führer sich auf dem Grat festhielten. Im Jahre 1881 stürzte der Amerikaner Mosley ab, der sich bei der sogenannten ›Schulter‹ des Seiles entledigte. 1886 starb der Engländer Burkardt, der bei der ›Schulter‹ von einem Schneesturm überrascht wurde, vor Kälte. Ein richtiger Alpenbesteiger thut es nicht anders; er kann nicht genug Abenteuer bestehen!

Dieser und ähnliche Berichte von unglaublichen Gefahren, Abenteuern und Triumphen unserer Alpenbesteiger hatten mich in die größte Aufregung versetzt. Ich war ganz entzückt und berauscht davon. Nachdem ich eine Weile schweigend dagesessen, fuhr ich plötzlich in die Höhe und rief aus:

»Mein Entschluß steht fest!«

Der Ton dieser Worte fiel meinem Reisebegleiter Harris auf; er blickte mich an; und als er sah, was in meinen Augen geschrieben stand, wurde er sichtlich bleich und stammelte: »Rede!« – worauf ich mit erkünstelter Ruhe erwiderte: »Ich will den Riffelberg ersteigen!« – Mein armer Freund fiel vor Schreck jählings vom Stuhl, als hätte ich ihn totgeschossen. Er beschwor mich, meine Absicht aufzugeben, – inniger kann kein Sohn seinen Vater bitten, – ich aber blieb taub gegen sein Flehen. Als er endlich sah, daß mein Entschluß unerschütterlich war, gab er sein Drängen auf, und nur das bitterliche Schluchzen, das sich seiner Brust entrang, unterbrach eine Zeitlang unser tiefes Schweigen. Unbeweglich wie ein Marmorbild saß ich da und starrte ins Leere. – Im Geiste kämpfte ich schon mit allen Gefahren des wilden Gebirges, während mein Freund mit von Thränen umflorten Augen voll staunender Bewunderung nach mir hinblickte. Endlich fiel er mir gerührt um den Hals und rief mit überströmendem Gefühl: »Dein Harris wird dich nie verlassen, laß uns zusammen sterben!« – Laut pries ich hierauf die standhafte Treue meines Freundes und am Ende hatte er bald alle Furcht vergessen und brannte vor Begierde, sich in das Abenteuer zu stürzen. Er wollte sogleich die Führer zum Aufbruch um 2 Uhr morgens bestellen; ich aber machte ihm klar, daß wir ja um diese Zeit keine Zuschauer haben würden und daß der Aufbruch bei Nacht in der Regel nicht im Dorfe stattfindet, sondern erst nach dem ersten Nachtquartier im Gebirge. Ich sagte ihm, wir wollten Zermatt am nächsten Tage zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags verlassen; bis dahin hätten wir Zeit, mit den Führern alles zu besprechen und die Aufmerksamkeit des Publikums auf unser Unternehmen zu lenken. Dann ging ich zu Bett, aber ohne Ruhe zu finden! Wer eine dieser großen Alpenbesteigungen vorhat, kann niemals schlafen, und so warf ich mich denn wie im Fieber die ganze Nacht auf meinem Lager hin und her. Ich war daher herzlich froh, als ich die Uhr halb zwölf schlagen hörte. Es war hohe Zeit aufzustehen und sich zum Mittagessen anzukleiden. Ganz ermattet und wie zerschlagen trat ich um zwölf Uhr in den Speisesaal. Die große Nachricht mußte sich herumgesprochen haben, denn ich bildete bald den Mittelpunkt für die Neugier und das Interesse der Gäste. Es ist sehr schmeichelhaft, als Löwe des Tages zu gelten, – wenn man dabei seine Mahlzeit in Ruhe verzehren könnte!

Wie es in Zermatt üblich, wenn eine große Besteigung von dort aus unternommen wird, lassen Einheimische und Fremde ihre eigenen Pläne für den Augenblick fallen, um von einem guten Platz aus den Aufbruch der Expedition beobachten zu können. Dieselbe bestand aus 198 Personen mit Einschluß der Maulesel, und aus 205 mit Einschluß der Kühe. Es wurde 4 Uhr nachmittags, bis der ganze Zug in Ordnung war und sich in Bewegung setzen konnte, dann bot er aber auch das großartigste Schauspiel, das Zermatt je gesehen.

Ich befahl dem ersten Führer, Menschen und Tiere hintereinander in Zwischenräumen von zwölf Fuß in einer Reihe aufzustellen und sie alle zusammen durch ein starkes Seil zu verbinden. Seine Einwendung, daß die zwei ersten Meilen des Weges ganz eben seien und man das Seil nur an gefährlichen Stellen brauche, ließ mich kalt; denn meine Bücher hatten mich gelehrt, daß viele der schlimmsten Unfälle in den Alpen nur aus dem Umstand entspringen, daß sich die Leute nicht rechtzeitig an einander binden. Durch meine Schuld sollte die Liste der Verunglückten nicht vergrößert werden.

Als der Zug nun fertig dastand, durch das Seil verknüpft und marschbereit, war der Anblick ganz prächtig!

Er nahm eine Länge von 3122 Fuß ein, – mehr als eine halbe Meile – außer mir und Harris waren alle zu Fuß; jeder trug einen grünen Schleier, eine blaue Brille, einen weißen Mullstreifen um den Hut, das zusammengewickelte Seil über der Schulter und die Eishacke im Gürtel. Die linke Hand umschloß den Alpenstock, die rechte den zugemachten Regenschirm, und hinten waren die Krücken aufgeschnallt; Edelweiß und Alpenrosen schmückten die Hörner der Kühe und das Gepäck auf dem Rücken der Lasttiere.

Wir nahmen den gefährlichsten Posten ein, ganz hinten, und jeder von uns war mit fünf Führern verbunden. Unsere Träger hatten sich mit unseren Eishacken, Alpenstöcken und der übrigen Ausrüstung beladen, während wir selbst auf unseren kleinen Eseln saßen. Wir hatten sehr kleine gewählt, damit wir, wenn Gefahr drohte, die Beine ausstrecken, uns auf den Boden stellen und den Esel unter uns weglaufen lassen konnten. Ich kann jedoch dieses Tier nicht empfehlen, wenigstens nicht zu derartigen Ausflügen, weil es einem mit seinen Ohren die Aussicht versperrt. Obgleich wir beide, ich und mein Begleiter, das vorschriftsmäßige Bergsteigerkostüm besaßen, hatten wir es doch zu Hause gelassen, und aus Hochachtung für die zahlreichen Touristen beiderlei Geschlechts, die uns abmarschieren sahen, sowie aus Rücksicht für alle diejenigen, welchen wir unterwegs begegnen könnten, Fräcke angezogen. Um ein viertel auf fünf Uhr gab ich den Befehl zum Abmarsch, und meine Untergebenen trugen ihn schnell die ganze Linie entlang. Da brach die Zuschauermenge, die vor dem Monte-Rosa-Hotel Spalier stand, in lautes Hurra aus, worauf ich zum Gegengruß kommandierte: ›Stillgestanden, – Achtung – Hoch!‹ – bei letzterem Wort flogen alle Regenschirme auf der ganzen halben Meile mit einemmale in die Höhe! – Es war ein herrliches Schauspiel, wie solches in den Alpen nie zuvor gesehen worden war, und eine vollständige Überraschung für die Zuschauer, die nun in einen wahren Beifallssturm ausbrachen. Ich ritt mit abgezogenem Hut an ihnen vorbei, um meinen Gefühlen Ausdruck zu geben; es auf andere Weise zu thun, war ich außer stande, da ich vor Rührung nicht sprechen konnte.

Wir tränkten die Karawane an dem kalten Strom, der am Ende des Dorfes durch eine Röhrenleitung floß, und ließen bald darauf die Stätten der Zivilisation hinter uns. Gegen halb sechs Uhr erreichten wir die Brücke, welche sich über den Bispfluß wölbt, und schickten zuerst eine Abteilung hinüber, um ihre Sicherheit zu prüfen, dann folgte die ganze Karawane ohne Unfall. Der Weg führte nun in allmählicher Steigung über grüne Matten bis zur Kirche von Winkelmatten. Ohne dieses Gebäude näher in Augenschein zu nehmen, machte ich eine Schwenkung nach rechts und überschritt die Brücke über den Findelenbach, nachdem ihre Tragfähigkeit untersucht worden war. Dann wendete ich mich abermals zur Rechten, und erreichte bald eine zweite Strecke Wiesenland, an dessen äußerstem Ende einige verfallene Hütten standen.

Der Platz war wie geschaffen zum Bivouakieren; wir schlugen daher unsere Zelte auf, speisten zu Abend und stellten die nötigen Wachen aus. Nachdem wir noch die Ereignisse des Tages verzeichnet hatten, legten wir uns schlafen. Um 2 Uhr morgens standen wir wieder auf und zogen uns bei Licht an, wobei uns recht frostig und unbehaglich zu Mute war. Nur wenige Sterne leuchteten am dunkeln Himmel und der große Kegel des Matterhorns war in schwarze Wolkenmassen gehüllt. Da unser Hauptführer fürchtete, daß wir Regen bekämen und zum Aufschub riet, warteten wir. Gegen neun Uhr brachen wir bei ziemlich klarem Wetter auf.

Der Weg führte nun zu schrecklich steilen Höhen hinauf, die dicht mit Lärchen- und Arvenbäumen bewaldet waren. Das Erdreich war vom Regen ganz aufgeweicht, auch lagen viele lose Steine umher. Die Gefahr und Unbequemlichkeit der Wanderung wurde überdies noch durch die zahlreichen Touristen vermehrt, die uns auf ihrem Rückweg zu Pferd oder zu Fuß entgegen kamen, während andere Touristen, im Hinaufsteigen begriffen, rasch an uns vorbei wollten und uns überall drängten und stießen. Aber es sollte noch schlimmer kommen: eine Stunde später riefen alle siebzehn Führer plötzlich Halt! und traten zu einer Beratung zusammen. Nachdem diese eine geraume Zeit gedauert hatte, erklärten sie, daß wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach verirrt hätten. Ich fragte, ob sie es denn nicht bestimmt wüßten, worauf sie erwiderten, sie könnten das nicht mit vollständiger Gewißheit behaupten, da noch keiner von ihnen je zuvor in dieser Gegend gewesen sei. Wenn sie es aber auch nicht beweisen könnten, so sage ihnen doch ihr Gefühl, daß sie sich verirrt hätten; auch hielten sie es für ein verdächtiges Zeichen, daß uns so lange keine Touristen begegnet seien.

Da saßen wir schön in der Patsche.

Der besseren Sicherheit wegen bewegten wir uns nur langsam und bedächtig vorwärts, da der Wald sehr dicht war; auch stiegen wir nicht in die Höhe, sondern zogen um den Berg herum, in der Hoffnung unsere alte Spur wieder aufzufinden. Mit Einbruch der Nacht kamen wir, todmüde, vor einem haushohen Felsen an, bei dessen Anblick den Leuten vollends der Mut sank, und Furcht und Verzweiflung die Oberhand gewannen. Sie schluchzten, weinten und klagten, daß sie ihre Heimat und ihre Lieben nie wiedersehen würden, und ergingen sich in Verwünschungen gegen mich, den Urheber dieses verhängnisvollen Unternehmens, ja einzelne brachen sogar in Drohungen aus!

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