Loe raamatut: «Der Blick in den See», lehekülg 4

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48 Was übrigens nicht bedeutet, dass das Wissen um Grammatik nicht trotzdem sinnvoll sein kann: Wenn ich zu Hause am Schreibtisch versuche, Sätze der neu zu erlernenden Sprache korrekt zu konstruieren und auf Lernkarten zu schreiben, hilft mir das Wissen um sprachliche Gesetzmäßigkeiten. Dennoch bildet diese Art des Lernens „nur“ eine hilfreiche Ergänzung zum Üben der Sprache in der praktischen Anwendungssituation. Der Löwenanteil des Lernens geschieht immer jenseits der Theorie in der Anwendung.

49 Dies hat mit der Tatsache zu tun, dass viele Dinge, die wir TUN, im sog. ➔ „prozeduralen Speicher“, dem „Verhaltensgedächtnis“ abgelegt sind, welches weitgehend unabhängig vom ➔ „deklarativen Speicher“ existiert, in welchem wiederum bewusste (und leicht zu versprachlichende) Wissensinhalte wiedergegeben werden.

50 Man beachte an dieser Stelle, wie sich die Vorstellung von einem Bild an zwei Kletterseilen im Gehirn einbrennt.

51 Vgl. hierzu Roth, G. und Strüber, N. (2014), S. 64

52 Ich möchte hier auf ein ähnlich reziprokes Verhältnis von Ausdruck und Eindruck im Zusammenhang mit Ritualen verweisen. Siehe dazu das Kapitel „Riten und Rituale als Raum der Reflexion.“

53 Ein andere Möglichkeit Reflexionsprozesse zu beschreiben wäre, sie in „Top-Down-“ und „Bottom-up-Prozesse“ zu unterteilen.

Dabei würden mit „Top-Down-Reflexionen“ Prozesse beschrieben, die vom Bewusstsein her kommend verlaufen und mit Hilfe von Fokussierungen, Fragen und Methoden auf kognitiv-deduktive Art und Weise etwas zu verstehen versuchen (so wie es viele angeleitete Reflexionen tun.) Unter „Bottom-up-Reflexionen“ könnte man Prozesse einordnen, welche kleinschrittige, induktive Entwicklungen vom unterbewussten Gefühl hin zu einer bewussten Erkenntnis beschreiben (was häufig bei offeneren Reflexionsräumen der Fall ist.) Wen dieser Gedanke interessiert, dem schicke ich gerne ein kleines Extrakapitel per E-Mail, welches mir für das vorliegende Buch einfach zu speziell war.

54 Siehe zu all diesen Reflexionsmethoden den Praxisteil

55 Zum Isomorphiebegriff siehe Bacon S. 32 ff

56 Mit „gut und sinnvoll“ meinen wir „den möglichen Erkenntnisgewinn maximierend“ mit Blick auf das Prozessziel bzw. Richtziel und unter Einbezug des vermuteten aktuellen Themas.



2.Theoretische Aspekte von Reflexion


2.Theoretische Aspekte von Reflexion


2.1Die Berge sprechen lassen, heißt schweigen – Warum „the mountains speak for themselves“ kein passives Modell ist

In diesem Teil des Buches werde ich Reflexion aus ganz verschiedenen Perspektiven heraus betrachten. Ich will so herausfiltern, was Reflexion alles sein kann, wie sie im Zusammenhang mit „Nicht-Reflexion“, mit Metaphern und mit archetypischen Bildern steht. Ich möchte einen Blick aus systemischer, ritueller und sprachlicher Perspektive auf Theorie und Praxis von Reflexion werfen. Reflexion in der vollen Bedeutung zu erfassen, wird dabei vermutlich nicht gelingen – aber ich möchte den Reflexionsbegriff einkreisen. Auf diese Weise erhoffe ich mir ein tieferes Verständnis dieses Begriffes und viele hilfreiche Gedanken für die Praxis. Beginnen möchte ich mit einem Wirkmodell, dass bewusst auf die verbale Reflexion verzichtet: Dem Modell der sprechenden Berge.

„The mountains speak for themselves“ – hinter dem Wirkmodell mit dem blumigen Namen steht die Annahme, dass die Berge, die Flüsse, die Wildnis etc. allein schon eine erzieherische Funktion ausüben, dass das Leben in einer natürlichen Umwelt von allein lehrt und zeigt, was zweckmäßig ist und was nicht. Das bloße Erlebnis wirkt aus sich heraus, trägt unterbewusst zu einer Lernerfahrung bei und steht somit als Quelle der Veränderung im Mittelpunkt.1 Das Sprechen über die Erfahrungen und somit die Reflexion des Erlebnisses ist gemäß diesem Modell nicht notwendig, es kann statt dessen die Wirkung des Erlebnisses sogar zerstören.

Bezüglich einer Verhaltensmodifikation spielen sogenannte Schlüsselerlebnisse eine wichtige Rolle: „Aufgrund ihrer hohen Intensität haben sie subjektiv eine besonders herausragende Stellung im Verlauf der Wildniserfahrung, behalten diese durch ihre relative Einzigartigkeit auch in der Erinnerung bei und stehen so als direkte Erfahrung weiterhin zur Verfügung.“2

Die Aufgabe des Trainers würde gemäß der ursprünglichen Theorie allein in einer wildnistechnisch kompetenten Begleitung der Teilnehmer bestehen; er müsste somit nicht über Techniken und Methoden der Beratung oder Gesprächsführung verfügen. Wird über die gemachten Erfahrungen lediglich spontan und unorganisiert gesprochen, bleibt es den Teilnehmern selbst überlassen, ob und wie sie ihre Erfahrungen aufarbeiten wollen und was sie aus den Programmen mitnehmen.

Die Kritik an diesem Wirkmodell besteht darin, dass ein Eingehen auf spezifische Interessen und Problemlagen unterschiedlicher Zielgruppen kaum möglich ist, eine zielbewusste Vorgehensweise fehlt, die Teilnehmer kaum etwas „über sich, über ihre Beziehungen zu anderen oder über ihre Strategien, mit ihren Lebensthemen zu Rande zu kommen“3 lernen, die Programme aufgrund ihres benötigten umfangreichen zeitlichen Rahmens unökonomisch sind4, die Einlösung pädagogischer Ziele nicht überprüft werden kann, eine Mehrfachcodierung5 der Lerninhalte zugunsten einer stärkeren Nachhaltigkeit fehlt und sich der Transfer in den Alltag somit schwierig gestaltet.

Trotz dieser Kritik soll an dieser Stelle ein Plädoyer für das Modell gehalten werden. Es lassen sich nämlich Bereiche festhalten, in denen der Verzicht auf eine Reflexion nicht nur angemessen, sondern sogar wichtig erscheint.

Wenn beispielsweise eine Gruppe Jugendlicher nach einer anstrengenden Wanderung auf einem Berggipfel steht, schweigend den Sonnenuntergang betrachtet und fasziniert ist von den Farben, der Stille und der Klarheit, so würde jede pädagogische Intervention, die versucht, diesen Augenblick zu versprachlichen, die Wirkung der Natur zerstören.6 Bei einer intensiven Naturerfahrung wie dieser können somit die Berge wirklich für sich selbst sprechen.

„The mountains speak for themselves“ kann auch bedeuten, an direkten, aus der Situation oder dem eigenen Handeln in der Natur entspringenden Konsequenzen zu lernen bzw. lernen zu müssen. Auch dies lässt sich gut an Hand eines Beispiels erklären: Ein an einer Wochenendtour durch die Wildnis Teilnehmender hat trotz aller Empfehlungen keine warme Ersatzkleidung mit. Gegen Abend wird es plötzlich kühler und er merkt, dass seine Einschätzung der Temperatur falsch war. Er lernt, wie kalt es nachts im Wald sein kann und wie angenehm ein Lagerfeuer ist. Bei dieser Gelegenheit bedarf es keines pädagogisch erhobenen Zeigefingers und keiner Reflexion. Der Leiter der Tour kann annehmen, dass der Teilnehmende aus der Situation gelernt hat und sich das nächste Mal dementsprechend vorbereiten wird. Hier sprach die Nachttemperatur für sich selbst.7

Wenn Erlebnispädagogik Räume öffnen möchte, in denen Erfahrungen gemacht werden können, so obliegt es ihr auch, diese Räume nach Bedarf frei zu lassen, damit der Teilnehmende sie selbst füllen kann. Erziehung ist nicht nur Sache des Pädagogen – je mehr es dem Teilnehmer gelingt, aus sich selbst oder der Natur an Sinnstiftung zu schöpfen, um so stärker ist diese Sinnstiftung mit seinen Bedürfnissen und seiner Situation isomorph.

Das Modell „the mountains speak for themselves“ eignet sich, wenn Empfindungen im Rahmen eines Erlebnisses nicht zerredet werden sollen, damit sie durch ihre Stärke intensiver in die Tiefe wirken und sich besser in der Erinnerung des Teilnehmers verankern können. Es eignet sich ebenso, wenn ein Kommentar von außen eine Lernerfahrung kontraproduktiv beeinflussen würde und es umgekehrt wahrscheinlicher ist, dass der Teilnehmende stillschweigend seine eigenen – und die erwünschten – Schlüsse zieht. Doch all dies klingt zu einfach. Wir reden nicht darüber, sind auf der sicheren Seite und bezeichnen das als Erlebnispädagogik? Mitnichten.

Die Berge sprechen zu lassen heißt nicht, „halt nicht darüber zu reden“.

Die Berge sprechen zu lassen heißt nicht, darauf zu vertrauen, „dass irgendwie alle schon irgendwas mitnehmen werden.“

Die Berge sprechen lassen heißt Schweigen. Es ist das bewusst eingesetzte, reflektierte und sich in die Situation einfügende Schweigen, das der Pädagoge wählt, weil er spürt, dass jedes vermeintlich pädagogische Quäntchen zu viel des Guten wäre. „The mountains speak for themselves“ setzt man nicht ein, weil einem gerade nichts besseres einfällt. Es ist ein Wirkmodell, das auf bewusstem Schweigen beruht, weil die Atmosphäre es einfordert. Gemeinsames Schweigen schafft Nähe und Beziehung. Gemeinsames Schweigen ist eine Form emotionalen Ausdrucks.

Es steht angesichts oben genannter Kritik außer Frage, dass sich die erlebnispädagogische Arbeit nicht allein auf diesen Ansatz beschränken darf.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Erfahrungen auch ins Unterbewusste hineinwirken können dürfen müssen. Reflexion geschieht auch nonverbal.

Und: „the mountains speak for themselves“ kann vielleicht bewusst genutzter Raum für andere, schweigende Formen des Gefühlsausdrucks sein?


Outward Bound Plus – Darstellung eines Modells und seiner Kritik

Bei dem Modell Outward-Bound-Plus wird dem Erlebnis die Reflexion beigestellt. Das Modell beruht auf der Erkenntnis, dass die volle Tragweite einer Erfahrung erst durch ihre bewusste Verarbeitung erreicht wird.8

Nach dieser Erkenntnis ist ein Transfer, also die Übertragung des durch das Erlebnis Gelernten ins Alltagshandeln nur dann möglich, „wenn das Erlebte bewußt aufgearbeitet und damit der kognitiven Erkenntnis zugänglich gemacht wird.“9 Der Bewusstmachungsprozess begünstigt es, die Bedeutung der Gefühle und ihrer Konsequenzen für sich selbst zu klären – die Erfahrung gelangt bildlich gesprochen vom Bauch in den Kopf und erst hierdurch in die Hand. Die Reflexion dient dieser Aufarbeitung der Erlebnisse und der Diskussion bezüglich ihrer Übertragbarkeit in den Alltag. Somit können durch die Reflexion Erlebnis und Alltag miteinander verknüpft werden.

Durch diese Form des Arbeitens wird ein gezielterer Einsatz der Erlebnispädagogik möglich, bei dem ein genauer Bezug zwischen den Teilnehmern und ihrer Lebenssituation hergestellt werden kann.

So können diejenigen Medien gewählt werden, die mit den „Problembereichen“ der Teilnehmer zu tun haben. Auch kann der Trainer während eines Kurses das auf eine Reflexion folgende Programm auf den aktuellen Stand der Gruppe abstimmen, da er durch die Reflexion ständig Informationen über die momentanen subjektiven Sichtweisen der einzelnen Teilnehmer, ihre Themen und Bedürfnisse erhält.

Kurse können durch eine präzise Planung effektiver gestaltet werden und weniger bleibt dem Zufall überlassen. Durch die Reflexion können „für die verschiedensten Entsender maßgeschneiderte Kurse (…) (angeboten werden), die bestimmte, ausgewählte Schlüsselqualifikationen fördern.“10 Auch werden die Inhalte neben dem Abspeichern im episodischen und prozeduralen Speicher zusätzlich im semantischen Speicher festgehalten, was ihrer späteren Abrufbarkeit zugute kommt.11

Durch die Reflexion kann zudem verhindert werden, dass ein Erlebnis „falsch“ (im Sinne von „ungünstig für eine intendierte Lernerfahrung12“) interpretiert wird, dass ein Teilnehmer z. B. aufgrund eines Scheiterns an der Felswand den Rückschluss auf sein Leben zieht, dass er auch bei Problemen im Alltag immer scheitern wird. Sein Scheitern kann durch die Reflexion zwar nicht verhindert werden, es kann jedoch z.B. thematisiert werden, wie er grundsätzlich mit Scheitern umgeht – oder was Scheitern überhaupt ist …! Dies kann zu einem positiven Erkenntnisgewinn bei dem Teilnehmer führen. Was allerdings nicht bedeuten soll, dass der Trainer die Reflexion als Möglichkeit nutzen sollte, das Erlebnis nach Gutdünken zu deuten. Reflexion dient nicht dem „Ins-rechte-Licht-rücken“ der Aktion durch den Trainer, sondern der Betrachtung des bei den Teilnehmern Vorhandenen. Die Einbeziehung der Reflexion in die Erlebnispädagogik bedeutet auch eine Erweiterung der Anforderungen an die Trainer.

So muss der Trainer neben den erforderten technischen Kenntnissen also auch über psychologische und pädagogische Kompetenzen wie z.B. die der Gesprächsführung verfügen.

Bezüglich der Gestaltung der Reflexion lassen sich drei13 Möglichkeiten feststellen:


1.Das „Kommentierte Handlungslernens“: Hierbei fasst der Trainer im Anschluss an die Aktivitäten die wesentlichen Lernziele zusammen und weist die Teilnehmer darauf hin, wie sie die Erfahrungen umsetzen sollen.
2.Das „Handlungslernen durch Reflexion“: Hier werden die Teilnehmer durch Fragen und Diskussionen nach der Aktion aktiv an dem Prozess der Reflexion beteiligt.
3.Das „Direktive Handlungslernen“: Hier werden mögliche Entwicklungen bereits vor der Aktivität thematisiert, während der Aktivität dann erprobt und im Nachhinein mit den Vorstellungen verglichen und ausgewertet.

Das Modell „Outward Bound Plus“ kann insofern kritisch betrachtet werden, dass eine Erlebnispädagogik auf dieser Basis nicht mehr geeignet ist für Teilnehmer, welche nicht über die Fähigkeit oder die Bereitschaft zur Artikulation verfügen bzw. bei denen diese eingeschränkt ist.14

Indem der Fokus stark auf die Reflexion gerichtet und der Lernprozess aus der Erfahrung heraus verlagert wird, verliert die Erlebnispädagogik ihre Einmaligkeit im Unterschied zu den üblichen kognitiv ausgerichteten Lernformen. Eine Gefahr besteht zudem darin, dass die Aktion allein zum Materiallieferanten für die Reflexion wird, wodurch ihr der Eigenwert in Bezug auf affektive, interaktionale und menschenverbindende Komponenten teilweise genommen wird.

Da eine gute Reflexion, die sich nach den Bedürfnissen der Teilnehmer richtet, hohe Anforderungen an den Trainer stellt, kann die Reflexion leicht zu einem unerwünschten „Ritual“ nach der eigentlichen Aktivität verkommen.15

Andererseits: Wer behauptet denn, dass die Reflexion zwangsläufig NACH der Aktion stattfinden muss? Das Modell des „processing at the edge“ nach Luckner und Nadler besagt, dass es durchaus effektiv ist, innerhalb des laufenden Prozesses durch Interventionen bei den Teilnehmern Reflexionsbewegungen hervorzurufen oder die Situation gezielt einzufrieren um eine Reflexionsrunde in den Prozess zu integrieren.16

Wir haben gute Erfahrungen mit solchen Zwischenreflexionen und Prozessunterbrechungen gemacht. Mögliche Lernfelder konnten so umgehend erschlossen und sofort genutzt werden. Dieses Vorgehen kommt auch der von Gilsdorf angeführten Kritik an einer strikten Aufteilung des Prozesses in Aktions- und Reflexionsphase entgegen.17

Welchen Anforderungen Reflexion gerecht werden muss, werde ich in späteren Kapiteln strukturell und im dritten Teil des Buches an Hand der Betrachtung von Reflexionsmethoden beleuchten. Zunächst aber will ich darüber nachdenken, was dieser so selbstverständlich scheinende Begriff der Reflexion eigentlich bedeutet.


Aktion und Reflexion – Thesen zum Reflexionsbegriff

„In der Programmierung bedeutet Reflexion (engl. reflection) bzw. Introspektion, dass ein Programm seine eigene Struktur kennt und diese, wenn nötig, modifizieren kann18.“

Obiges Zitat habe ich gefunden, als ich nach einer geeigneten Definition von Reflexion gesucht habe. Es ist – abgesehen von der Tatsache, das es auf einen technischen Gegenstand abzielt – eine recht interessante Definition, weil sie Kontroversen ermöglicht und zur genauen Betrachtung anregt. Ich werde auf der Basis dieses Zitates eine Idee von Reflexion entwerfen, welche als Ausgangsbasis für dieses Buch dient.

Zunächst fällt auf, dass die Begriffe „Reflexion“ und „Introspektion“ quasi synonym verwendet werden. Nach umfassender Recherche zahlreicher psychologischer, philosophischer, pädagogischer und erkenntnistheoretischer Bücher (die ich hier weder alle aufzählen noch zitieren möchte), bin ich mittlerweile komplett verwirrt, was die genaue Unterscheidung dieser Begriffe betrifft: Einige verwenden sie synonym, andere treffen Unterscheidungen, wieder andere verwenden sie recht sparsam und ersetzen sie durch andere19.

Aber wenn ich über diese Begriffe nachdenke, stellen sich mir zwei unterschiedliche „Bewegungen“ dar. In der Reflexion20 wird etwas „zurückgeworfen“, „zurückgelenkt“, „wiedergespiegelt“, d.h. sie geschieht durch die Betrachtung einer externen (oder externalisierten?) Größe. Die Introspektion21 macht die Bewegung nach innen – hier liegt der Gegenstand ihrer Betrachtung. Im Unterschied dazu ist Reflexion ein Akt der Externalisierung und damit ein In-die-Distanz-gehen zu dem, was man betrachtet. Hat diese Differenzierung alltagspraktische Relevanz, wenn es um das Selbst geht? Betrachten wir uns in der Reflexion vielleicht kontextabhängiger, als in der Introspektion, wo nur wir als Referenzpunkt dienen? Und: Ist es in der Praxis nicht oft so, dass Introspektion und Reflexion so fließend ineinander übergehen, dass dieser Unterschied kaum auffällt? Ein weiterer Unterschied könnte sein, dass ich mittels Innenschau zu erkennen suche, was in mir ist – mehr versuche, zu erspüren und zu erkennen. Introspektion hat es möglicherweise auch schwerer mit der Versprachlichung. Die Betrachtung aus der Distanz hingegen tendiert vielleicht eher zum kognitiv-analytischen. Für die Praxis bedeutet dieser Unterschied zunächst nur, dass der Erlebnispädagoge über Länge und Art des Betrachtungsweges nachdenken muss. Soll es gleich von der Aktion in die Reflexion gehen? Sollen die Teilnehmer zunächst in sich gehen um dann in der Gruppe zu reflektieren? Möglicherweise entstehen qualitative Unterschiede schon dadurch, sich diese Fragen im Vorfeld zu stellen.

Doch wie geht es in unserer obigen Definition weiter?

„Ein Programm, dass seine eigene Struktur kennt.“ Dem hohen Anspruch, meine Struktur zu kennen, bin ich bisher nur ansatzweise gerecht geworden, aber ich gebe mir weiterhin Mühe. Wir können die Struktur unserer komplexen Persönlichkeit vermutlich niemals ausreichend kennen – was vielleicht auch ganz gut so ist22.

Als abgeschwächte, pädagogische Zielformulierung aber lasse ich mir den Satz gefallen. Die Reflexion wäre dann der Versuch, (Er-)kenntnisse über das, was mich ausmacht (innere Strukturen, Muster und Prozesse) zu erlangen.

„… und diese wenn nötig zu modifizieren?“

Die Erlebnispädagogik versucht Räume zu öffnen, in denen Erlebnisse ermöglicht werden, welche durch ihre Eindrücklichkeit und ihre irritierende Wirkung verändernd wirksam sein können. Die Reflexion dient dazu, die Basis für Modifikationen zu schaffen.

Aber derart komprimiert formuliert, wirkt dieses Ansinnen mechanistisch und will nicht mehr so recht zu den systemisch-konstruktivistischen Vorbehalten passen, welche die Erlebnispädagogik heutzutage (glücklicherweise) hat bzw. haben muss. Es ist fraglich, ob wir Modifikationen selbst (willentlich) steuern können. Aber es gibt Veränderungen. Pädagogik und Therapie beweisen es jeden Tag aufs neue. Wodurch entstehen sie? Durch Bewusstwerdung, welche die Reflexion hervorruft? Oder aber durch unterbewusste Prozesse, die keiner Reflexion im Sinne einer kognitiv-verarbeitenden Ausdrucksform bedürfen?

Was ist die Rolle der Reflexion?

Wir bewegen uns bereits in einer Fragestellung, in der „Reflexion“ weitaus weiter aufgefasst werden muss als bei Betrachtung des Outward-Bound-Plus-Modells zunächst offensichtlich. Es geht vielleicht nicht mehr um „Erleben und Reden“, sondern um einen Raum zur Verarbeitung und Verwertung von Erlebnissen.23 Das kann ein Ritual sein, das kann eine ungerichtete geistige Bewegung innerhalb eines viertelstündigen Mini-Solos sein.

Das kann jegliche Form eines Rahmens sein, der zur Verarbeitung des Erlebnisses dient – weit weg jeglicher Verbalisierung.

Ich möchte an dieser Stelle explizit auf Matthias D. Witte verweisen, der in seinem Buch einige in der Erlebnispädagogik-Szene vorhandene Meinungen zu „spontaner“ bzw. „unbewusster“ Reflexion gut auf den Punkt bringt.

„Es (das Erlebnis) wirkt, ähnlich dem Traum auch ungedeutet und entfaltet nur so sein Veränderungspotential, obwohl dem reflektierenden Teilnehmer der Zugang verwehrt ist. Gelegenheiten der bewussten Reflexion ergeben sich in zwanglosen, spontanen Gesprächen ebenso wie in angeleiteten Gruppengesprächen. Überdies kann bewusste Reflexion auch in der Auseinandersetzung mit sich selbst stattfinden.“24

Weder das metaphorische Modell noch das Modell „The Mountains speak for themselves“ leugnen explizit die Reflexion – sie nutzen lediglich andere Formen und wirken auf andere geistige Bereiche ein.25 Die dahinterstehende Kernfrage lautet: Auf welcher Ebene kann das Erlebnis jetzt gerade am Besten wirken? Kann ich nicht manchmal darauf vertrauen, dass in einer unstrukturierten, von mir als Leitung undeterminierten und unkontrollierten Weise Reflexion stattfindet? Kann ich nicht Signale einer Reflexion in Mimik, Gestik, Haltung, Verhalten meiner Teilnehmer finden?

Oder ist das reine Spekulation und bedarf es einer Ausdrucksform, die mir die Kontrolle über das Ergebnis vom Erlebnis ermöglicht? Es gibt so viele Reflexionsmethoden, die sich im nonverbalen Bereich bewegen und die ich einsetze, wenn verbale Methoden nicht passen, ich aber nach Outward-Bound-Plus arbeiten will. Das Modell spricht nicht ausschließlich von verbaler Reflexion. Und hinter den nonverbalen Methoden der Reflexion kommen recht schnell andere Methoden der Reflexion: Reflexionsräume und Reflexionsformen, die nichts mehr mit Austausch im Sitzkreis zu tun haben. Hier verschwimmt eine Grenzlinie. Wo und wann hört Outward-Bound-Plus auf, Outward-Bound-Plus zu sein?

Ich möchte an dieser Stelle einige Thesen zur Reflexion in den Raum stellen, die an einer zu engen Vorstellung von Reflexion rütteln wollen.

1 Die Betrachtung eines Erlebnisses findet immer statt, verbal oder nonverbal, zielgerichtet oder nicht – sofern es nicht bewusst verdrängt wird. Die Einwirkung von außen auf diesen Verarbeitungsprozess dient ggf. der Strukturierung und der differenzierten Herausarbeitung von Details. Durch eine Reflexion mittels von Außen herangetragener Fokussierung auf einen bestimmten Aspekt kann eine bessere Wahrnehmung und genauere Deutung dieses Aspekts erreicht werden.

2 Jede emotionale Bewegung braucht eine Möglichkeit des Ausdrucks. Jede Form des Ausdrucks ist ein Akt der Externalisierung und damit mögliche Basis für eine Betrachtung aus der Distanz. Somit ist auch ein Raum, der eine Externalisierung ermöglicht (z.B. im Rahmen eines vom Individuum selbst gestalteten, persönlichen Rituals), ein potentieller Raum der Reflexion.

3 Analysierende Formen der Betrachtung beinhalten die Gefahr einer stark rationalisierenden Form der Deutung auf Seiten des Teilnehmers. Vielleicht geht es um Betrachtungsformen, die das Erlebnis nicht „vom Bauch in den Kopf“ holen, sondern es im „Bauch“ lassen – und darum, mittels Introspektion Wege des Verständnisses zu erschließen, die sich dem nüchternen Verstand zunächst entziehen. Anders gesagt: Vielleicht entdeckt der Teilnehmer im Erlebnis ein Bild, dass sich ihm emotional erschließt, welches aber niemals durch verstandesmäßige Formen der Reflexion hinreichend verstanden werden könnte.

Wie mit der Kritik am Outward-Bound-Plus-Modell umgehen?

Die Kritik am Outward-Bound-Plus-Modell besteht in erster Linie darin, dass Reflexion zum Selbstzweck verkommt, methodisch einseitig eingesetzt wird, situativ nicht passt oder den Interessen der Leitung stärker Rechnung trägt als den tatsächlich präsenten Eindrücken der Teilnehmer. Sofern mein Verständnis erlebnispädagogischer Arbeit jedoch von Prozessorientierung geprägt ist, lässt sich diesen Gefahren begegnen.

Möglichkeiten, hierauf zu reagieren sind …

 Das Einnehmen der Grundhaltung, dass es nicht darum geht, zwangsläufig eine bestimmte Form von Reflexionsphase zu initiieren, sondern dass es einen Raum zu einer wie auch immer gearteten Form der Verarbeitung geben muss. Dies beinhaltet die Offenheit für Reflexionsräume jenseits verbaler Reflexion.

 Situative Prüfung, ob ich eine explizite Reflexionsphase wirklich für sinnvoll halte (Frage nach dem Prozessziel: Sollen die Teilnehmer einen bestimmten beobachtbaren Aspekt bewusst betrachten und sich darüber austauschen?). Prüfung, ob ein anderes Wirkmodell vielleicht geeigneter sein könnte. Hierzu beziehe ich Atmosphäre, den von mir wahrgenommenen „Output“ der Aktion und die Bereitschaft zur Reflexion auf Seiten der Teilnehmer in meine Überlegungen mit ein. (Prüfung des Rahmens.)

 Prüfen des geplanten Medieneinsatzes bzw. der Raumgestaltung hinsichtlich der Kompatibilität mit der Atmosphäre, dem Bedürfnis nach Sprechen oder Schweigen, Gemeinschaft oder Einsamkeit, Freiheit oder Struktur. Hierzu kann unser Reflexions-Parameter-Modell helfen, dass ich später noch vorstellen werde.


Eine Reflexion über Reflexion – Nachdenken über einen Begriff

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen – wie ich erkannt bin.“ 26

Jede Erkenntnis eines Gegenstandes braucht zweierlei: Die Nähe und die Distanz zum Gegenstand. Ich kann den Stuhl, auf dem ich sitze, nur vollkommen beschreiben, wenn ich ihn erspüre, betaste, mit dem Körper erforsche – und dennoch anschließend aufstehe und ihn von außen betrachte. Letzteres ist, was Supervision tut: Einen Blick von außen auf ein System werfen. Mache ich mich selbst zum Gegenstand meiner Betrachtung, brauche ich neben dem Erspüren meiner inneren Bewegung in einem weiteren Schritt innere Distanz zu mir. Erst beide Betrachtungsweisen ermöglichen mir ein umfassendes Bild meiner selbst. Je mehr ich mich im Spiegel als Ganzes betrachten möchte, desto mehr muss ich zurückweichen. Zuviel Abstand zum Spiegel allerdings (Schon einmal aus 20 Metern Entfernung in einen Spiegel geschaut?) befähigt mich nur noch zu einer allgemeinen Beschreibung meiner selbst als Mensch – der spezifische Bezug bleibt nur erhalten, solange meine individuellen Merkmale auch für mich erkennbar bleiben. Der Blick in den Spiegel aus der Distanz heraus dient der Überprüfung des Selbstbildes: Entspricht meine Erscheinung dem, was ich als inneres Bild von mir habe? Hierbei genügt die reine Betrachtung nicht.

Es bedarf auch der Deutung und der Bewertung um eine innere Bewegung zu gewährleisten. Der Blick in den Spiegel wirft mir zurück, was auch andere sehen. Die Anderen und ich können es unterschiedlich interpretieren – der Spiegel zeigt nur das, was beobachtbar ist. Wie das Beobachtbare zu deuten ist, ist noch nicht diskutiert.

Auf die Erlebnispädagogik bezogen bedeutet das folgendes: Wir betrachten in der Reflexion rückwirkend Dinge, die beobachtbar sind oder waren. Anschließend prüfen wir gemeinsam, wie das, was wir beobachtet haben, gedeutet werden kann. Ich stelle meine Wirklichkeit vor, Du Deine. Ich finde meine chaotischen Haare toll, Du findest, das sieht furchtbar aus. Mich nervt Dein Rumgenörgel an dem, was ich tue, Du empfindest es als konstruktiven Beitrag um eine Sache noch besser zu machen. Hier sind wir unterschiedlicher Meinung, haben vielleicht sogar einen Konflikt. Erst im Austausch darüber, was die jeweiligen Vor- und Nachteile einer Sache sind, können wir uns verstehen oder sogar einigen.

Der erste Schritt vieler (zumindest verbaler) Reflexionen ist daher die Frage: „Was war beobachtbar? Was habt Ihr gesehen?“ Schon hier müssen wir uns manchmal einigen, was tatsächlich gesehen wurde. Hier darf noch nicht interpretiert werden – das ist schwer. Wenn ich sage: „Du hast genörgelt“ ist das bereits mein Konstrukt. Sage ich: „Du hast in der Situation dies und jenes gesagt“ dann ist das der Rückbezug auf etwas „Beobachtbares“.

Dann folgt der Austausch darüber, wie ich die Sache deute und wie Du sie deutest. Für mich war es Genörgel, für Dich Unterstützung.

Jetzt kennen wir unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen und daraus entspringenden subjektiven Wirklichkeiten. Ich weiß nun: Wenn Du wieder nörgelst, ist das vielleicht als Unterstützung gemeint. Du weißt nun: Hoppla, meine Unterstützungsversuche können als Genörgel ankommen. Der dritte Schritt ist die Prüfung, was damit zu tun ist. Es kann genügen, dass wir beide voneinander wissen, wie wir etwas wahrnehmen.

Oder aber wir können uns einigen, indem wir eine Lösung suchen, wie Du mich unterstützen kannst, ohne dass ich darin gleich ein Nörgeln sehe, oder wie Du es schaffen kannst, mich nicht zu unterstützen. Wir können auf dem Weg dahin noch tiefer gehen: Ich kann darüber nachdenken, warum ich Deine Unterstützung als Genörgel empfinde. Hat das etwas mit mir zu tun? Meiner Geschichte? Mit Menschen, die ich kenne? Woher kommt meine Interpretation Deines wohlgemeinten Verhaltens?

In Betrachtung dieser tieferen Schicht wird es möglich, dass ich mir selbst auf die Spur komme und (hier sind wir wieder beim Spiegel) blinde Flecken entdecke. Ein blinder Fleck ist die Senfsoße auf meiner Seidenkrawatte: Er ist da, aber ich kann ihn nicht sehen – bzw. ich blende ihn (bewusst oder unterbewusst) aus.

Eines ist wichtig: Als Erlebnispädagoge geht es mir manchmal darum, dass eine gemeinsame Wirklichkeit meiner Teilnehmenden geschaffen wird.

Dann müssen Beobachtungen, Meinungen und Wahrnehmungen ausgetauscht, diskutiert, gedeutet und bewertet werden. Wir sind auf der Suche nach einer für uns alle sinnvollen Lösung und Deutung.

Aber oftmals genügt es (auch auf Gruppenebene), wenn Dinge „nur“ geklärt werden. Ich kenne Deine Meinung, Du kennst meine – wir haben beide auf unsere Weise Recht und wir werden uns nicht einigen. Verständigen wir uns doch darauf, mit dieser Diskrepanz zwischen uns zu leben, und überlegen wir gemeinsam einen Weg, wie wir uns nicht ins Gehege kommen. Hier wird nicht nach einer gemeinsamen Wirklichkeit gesucht, sondern nur nach einem Weg Verschiedenheit anzuerkennen und mit ihr umzugehen.

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Žanrid ja sildid
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