Loe raamatut: «Kinder auf der Flucht»
Martin Arnold | Urs Fitze
Kinder auf der Flucht
Humanitäre Hilfe und Integration in der Schweiz vom Ersten Weltkrieg bis heute
Der Verlag bedankt sich bei folgenden Institutionen für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation:
ULRICO HOEPLI-STIFTUNG
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Der Auszug aus dem Gedicht von Serhij Zhadan ist dem Band Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Suhrkamp, Berlin 2016, entnommen.
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich
Umschlagbild: Moria, Lesbos, Griechenland: In Moria sind laut UNHCR-Bericht vom März 2020 von mehr als 21’670 Flüchtlingen 34 Prozent Kinder unter 12 Jahren. Sie leben in diesem überfüllten Lager unter katastrophalen unmenschlichen Bedingungen, haben eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten und sanitären Einrichtungen. Foto: Murat Tueremis, Keystone.
eISBN: 978-3-85869-890-2
1. Auflage 2020
Nimm die wichtigsten Dinge, die Briefe zum Beispiel
Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel
Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck
Nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.
Nimm ein bisschen Gemüse und vom Brot am Stück
Wir kommen nie wieder hierher zurück
Wir werden die Städte nicht wiedersehen
Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehen.
Wir müssen die Nachtkioske verlassen
Die Gesichter der Freunde werden verblassen
aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehen
wir zwei sind Flüchtlinge, nachts müssen wir fliehn.
Serhij Zhadan
Inhalt
Vorwort
Erstes Kapitel
Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs
Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot
Naara Appel »Ich habe mit meinem Großvater geweint«
Argyris Sfountouris »Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«
Shlomo Graber »Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«
Ivan Lefkovits »Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«
Monika Gyr »Ein Kreis hat sich geschlossen«
Zweites Kapitel
Von 1950 bis in die Gegenwart
Ein langer Weg zu den Kinderrechten
Lejla Šukaj »Eine gewisse Wurzellosigkeit bleibt vielleicht immer in mir«
Urim Deva »Es war Herbst, kalt, ich war von der Flucht erschöpft«
Drittes Kapitel
Auf dem Weg
LibanonEin Land am Anschlag
SizilienDas Geschäft mit den Kinderflüchtlingen
Como»So reich und so abweisend«
Vanja Crnojević »Jetzt kann ich mich engagieren«
Viertes Kapitel
Ankommen
Traumata und die schwierige Befragung
Shlomit Goldberger »Das Positive an den eigenen Wurzeln wiederentdecken«
Sara Michalik »Die Resignation greift um sich«
Eleonora Meier »Diese jungen Leute wollen etwas machen aus ihrem Leben«
Frédéric »Wir sind Brandlöscher«
Fünftes Kapitel
Integration
Die Zeit drängt
Katrin Rutishauser »Junge Geflüchtete sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft«
Mirjam Zimmermann »Es geht um eine möglichst große Teilhabe am normalen Leben«
Mahmoud Alshawi, 17, Syrer
April 2017
Juni 2017
Dezember 2017
Juli 2018
November 2019
Fathia Suleiman, 19, Somalierin
März 2017
Juni 2017
Jahreswende 2017/18
Juni 2019
Dezember 2019
Dekyi, 22, Tibeterin
Februar 2017
Juni 2017
Februar 2018
Sechstes Kapitel
Leben in der Unsichtbarkeit
Sans-Papiers in der Schweiz
Dolores Estrella Schwanger und bedroht
Rashid Nagvi Keine Komödie, sondern ein Drama
Siebtes Kapitel
Suche nach den Wurzeln
Kindern eine neue Heimat bieten
Aymara Nina »Bitte sagen Sie nicht Mutter«
Nina Thao Zanetti Etwas ist zurückgeblieben
Nachwort
Wir brauchen eine neue Asylpolitik
Anhang
Literaturverzeichnis
Dank
Autoren
Vorwort
Ein Krieg bringt Leid über viele Menschen. Das schwere Los, das insbesondere Kinder dabei ziehen, berührt und beschäftigt uns und ist Anlass für dieses Buch. Kinder sind wehrlos, und sie haben das Recht, in einer geschützten Umgebung aufzuwachsen. Die große Welle des »Flüchtlingsdramas« erlebten wir 2015, doch wenn man genau hinsieht (auch dann noch, wenn die Kameras schon weitergezogen sind), ist das Leiden fliehender Kinder nicht vorbei. Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und vor der stalinistischen Verfolgung. Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse. Sie werden missbraucht. Kindersoldaten sind keine Erfindung perfider Warlords. Auch Hitler schickte Kinder an die Front und ins Gas. Die Entscheidung zur Flucht fällen meist die Erwachsenen, und wenn sich Minderjährige aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, dann fliehen sie nicht immer vor Gewalt. Sie sind oft auch auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist als ein Kampf um die Deckung minimalster Grundbedürfnisse. Das war übrigens während Jahrhunderten auch in der Schweiz so. Im Tessin und in der Ostschweiz mussten Eltern überzählige Esser vom Tisch wegschicken: in die Kamine Mailands oder auf die Bauernhöfe im süddeutschen Raum. Heute würde man von sklavenähnlichen Verhältnissen sprechen, die die Kinder dort erdulden mussten.
Ein Drittel der 2019 nach Europa Geflüchteten waren unbegleitete Minderjährige. Flucht- und Migrationsbewegungen werden anhalten, und sie werden sich noch verstärken. Auch von Kindern. Dafür wird nicht zuletzt der Klimawandel sorgen. Welche Antworten findet unsere Gesellschaft darauf? Die einen fordern eine einfache Lösung durch Abschottung, durch Zurückweisung. Die anderen appellieren an eine moralische und ethische Pflicht zur Solidarität. Doch beide Positionen blenden das große Dilemma zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einfach aus. Die Gesinnungsethik spricht von Menschenrechten und einer universellen Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, solange wir damit nicht überfordert sind. Die Verantwortungsethik möchte die Zuwanderung begrenzen und hält es für zulässig, Menschen abzuschieben. Eine Gesellschaft kann nicht beide Positionen gleichzeitig erfüllen. Die Gesinnungsethik ist politisch, die Verantwortungsethik moralisch nicht umsetzbar, sagt etwa der deutsche Philosoph Konrad Ott. Deshalb gilt es als erstes, diesen Widerspruch zu akzeptieren. Denn wo soll die Grenze verlaufen, an der wir die Geflüchteten scheiden in die, die bleiben dürfen, und jene, die gehen müssen? Um diese Grenze setzen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung, zuallererst mit den Geflüchteten, mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Das geht unter die Haut.
Damit wir den Geflüchteten auf eine gerechte Art begegnen können, fragen wir in diesem Buch: Wie sieht eine Kindheit aus, die fern der Heimat gelebt wird? Wie gedeihen die Wurzeln in einem fremden Boden, mit anderen Nährstoffen als in der heimatlichen Erde? Wie entwickelt sich ein Leben ohne Vater, Mutter, Geschwister oder andere wichtige Bezugspersonen? Die Flucht beendet die Kindheit. Kinder auf der Flucht sind junge Erwachsene, sie müssen Entscheidungen für ihr eigenes Leben treffen. Und die Erlebnisse der Flucht lassen sich nicht einfach abschütteln.
Die Recherchen haben viele Abzweigungen genommen. Unser journalistischer Maßstab endet nicht bei der Darstellung anerkannter Fluchtschicksale. Wir wollen Lebenswege aufzeigen, die wegen äußerer Umstände eine Benachteiligung erfahren haben. Menschen können keine Weltgerechtigkeit erwarten, aber sie können dazu beitragen, Lebensverläufe ein wenig weniger ungerecht erscheinen zu lassen. Im Zentrum unserer Beobachtung standen von Anfang an unbegleitete Minderjährige. Im Verlauf der Recherchen entschlossen wir uns, den Blick auszuweiten. Auch begleitete Minderjährige, aus Krisenregionen Adoptierte, als Sans-Papiers illegal in der Schweiz Lebende oder bis fast in die heutige Zeit in sogenannten Kinderrepubliken aufgewachsene Jugendliche sind konfrontiert mit dem Thema Flucht und den damit verbundenen Gefahren, Traumata, mit Einsamkeit, der Herausforderung der Integration und den Bedürfnissen einer speziellen Kindheit. Wir blicken auf die Jugendlichen an den verschieden Stationen ihrer Flucht, sei es im Libanon, auf Sizilien oder vor der Schweizer Grenze in Como. Und wir blicken zurück auf das 20. Jahrhundert, das in zwei Weltkriegen, mit Faschismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus und Totalitarismus unermessliches Leid über Kinder gebracht hat.
Die Kinderflucht in die Schweiz hat eine Geschichte; sie bildet den Anfang dieses Buchs. Ein roter Faden zieht sich durch alle Regionen und Epochen: Menschen engagieren sich, helfen oft auch unter Inkaufnahme persönlicher Benachteiligung und sind manchmal sogar bereit, ein hohes Risiko einzugehen. Eine Konstante ist daneben leider auch die Tatsache, dass der Hilfsbereitschaft oft mit Verachtung begegnet wird. Gewiss: Eine glückliche Kindheit ist eine Erfindung der Moderne – aber sie ist nicht die schlechteste. Die Anerkennung von Kinderrechten bildet dafür eine Basis. Seit 1989 sind sie in der UN-Kinderrechtskonvention nicht nur formuliert, sondern von den unterzeichnenden Staaten auch akzeptiert. Dort heißt es beispielsweise: Kein Kind darf benachteiligt werden, sei es wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder Staatsbürgerschaft, seiner Sprache, Religion oder Hautfarbe, wegen einer Behinderung oder wegen seiner politischen Ansichten. Und weiter gibt es dort ein Recht auf Wahrung des Kindeswohls, ein Recht auf Leben und Entwicklung, das Recht, in die Schule gehen zu können und vor Miss-brauch und Ausbeutung geschützt zu werden. Die Kinderrechte gelten nicht nur für die Kinder der wohlhabenden Welt, sondern ohne Einschränkung für alle Kinder. Dies anerkennt auch die Schweiz – mit Vorbehalten, unter anderem gegen den Familiennachzug. Doch ohne Familie hier zu leben, erschwert die Integration.
Wir lassen in diesem Buch Geflüchtete, freiwillige und professionelle Helferinnen und Helfer zu Wort kommen. Wir porträtieren Kinder und Jugendliche, die kürzlich erst geflohen sind, solche, die mitten im Leben stehen, aber auch ältere Menschen, die heute auf ihre Kindheit und ihre Flucht zurückblicken. Einige von ihnen sprechen in direkter Rede zu den Leserinnen und Lesern. Das ist uns wichtig, denn diese Aussagen eröffnen den Blick eines Betroffenen auf das Thema, der oft nicht nur intimer, sondern auch präziser ist und so die Empathie erleichtert. Wenn es sich um Menschen handelt, die als Kinder in die Schweiz kamen und das restliche Leben hier verbracht haben, so sind deren Erinnerungen umso wertvoller, denn sie lassen Rückschlüsse auf die heutige Integrationsarbeit zu. Diese ist vielfältig, und wir gehen dabei auch der Frage nach, wie Integration überhaupt definiert werden kann. Gleichzeitig wollen wir die Erfahrungen der Integration der früheren und der jüngeren Zeit vergleichen. Hat die Politik, haben wir als Gesellschaft etwas aus vergangenen Epochen gelernt, oder herrscht auch heute die Ansicht vor, es genüge, wenn die Kinder zur Schule gehen können und ein Dach über dem Kopf haben? Geflüchtete Kinder haben alle einen mehr oder weniger langen Abschnitt der Kindheit hinter sich, der glücklicher hätte verlaufen können. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Aber wir können einen Beitrag dazu leisten, dass in der Gegenwart ihre Wunden heilen und die Chancen für ihre Zukunft intakt sind.
Erstes Kapitel
Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs
Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot
Der Erste Weltkrieg (1914–1918) schafft ein kollektives Leid, wie es die Welt bis dahin noch nie gesehen hat. In Europa bleibt die Schweiz vom Kriegsgeschehen verschont. Bundespräsident Giuseppe Motta spricht in einer Rede im Dezember 1914 von der Schweiz als »Heiligtum«, auf ihrem Boden werde der »Patriotismus menschlicher«; die »Kulturmission der Schweiz« scheine angesichts des Kriegs in Europa »größer« zu werden. Als »inter arma caritas«, Nächstenliebe zwischen den Waffen, beschreibt Pfarrer E. Nagel 1916 in seinem Buch Die Liebestätigkeit der Schweiz im Weltkrieg dieses Wirken. Ein Kapitel widmet er der Aufnahme von belgischen Geflüchteten und Waisenkindern. Die Waadtländerin Mary Widmer-Curtat (1860–1947) gründet im Herbst 1914 das Komitee »L’œuvre de secours aux réfugiés belges« und ruft dazu auf, Geld, Kleider, Decken und so weiter zu spenden. »Anmeldungen von solchen, die willens sind, belgische Kinder und Frauen bei sich aufzunehmen«, würden entgegengenommen. Das Echo ist überwältigend. Für 4000 Waisenkinder werden Plätze gemeldet. Doch die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Aus dem ersten Zug, der in Lausanne am 27. Oktober 1914 eintrifft, steigen Menschen aller Generationen aus: Mütter mit ihren Kindern und deren Großmüttern, Alte, Kranke, auch junge, dienstpflichtige Männer. Die Flüchtlinge werden trotzdem begeistert empfangen und, nach ein paar Tagen in einer provisorischen Unterkunft, auf die Familien verteilt. Bis ins Frühjahr 1915 werden 1350 belgische Geflüchtete aufgenommen, ab Sommer kommen auf Bitten der belgischen Königin bis zum Jahresende 444 Waisenkinder dazu. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs werden es über 9000 belgische Kinder, Geflohene und Internierte sein, die in der Schweiz Zuflucht finden. 1919 wird Widmer-Curtat als »Chevalier de l’ordre de Léopold« geehrt, im Volksmund wird sie zur »Großmutter Belgiens«.
Die Baslerin Mathilde Paravicini, die an vorderster Front bei der Organisation und Durchführung des Austauschs von Verwundeten der Kriegsparteien auf den Schweizer Grenzbahnhöfen Basel und Schaffhausen mitgewirkt hat, initiiert 1917 die ersten Kinderzüge, mit denen Auslandschweizerkinder aus den Kriegsgebieten zu mehrwöchigen Erholungsaufenthalten in die Schweiz gefahren werden. Danach wird das Programm generell auf Kinder aller Kriegsparteien ausgeweitet. Bis 1921 werden, getragen von knapp zwei Dutzend Organisationen, die sich im »Schweizerischen Komitee für notleidende Auslandkinder« zusammenschließen, 124’503 Kinder in der Schweiz mehrwöchige Erholungsaufenthalte verbringen. »Mit leerem Magen, in Lumpen und Fetzen gekleidet stehen meine Schüler vor dem Schulhause, ein Bild des Elendes«, schreibt ein Behördenmitglied im Dezember 1918 aus einer österreichischen Landgemeinde an seine Amtskollegen in der Stadt Zürich. »Mutter Sorge kauert in allen Winkeln, ist wie ein treuer Hausgenosse in allen Stuben. Nur so laut gesehen wird sie nicht in unserm stillen, herben Bergwinkel. Helft, wenn ihr könnt.« (Schweizerische Lehrerzeitung, 1919, Bd. 64, S. 382)
Die Bitte wird erhört. Die Zürcher Lehrerschaft sammelt Kleiderpakete, die am 10. Januar 1919 dem Zug mitgegeben werden, der Kinder aus ganz Österreich nach ihrem Erholungsaufenthalt in ihre Heimat zurückbringt. Mathilde Paravicini wird ihr ganzes Leben der Kinderhilfe widmen. Die Zeitläufte werden ihr in den kommenden drei Jahrzehnten alles abfordern.
Diese Hilfe stand in der Tradition eines Staats, der seine 1815 am Wiener Kongress erlangte Neutralität durch humanitäres Engagement rechtfertigte, wie der Historiker Georg Kreis schreibt. »Doch die vom Liberalismus geprägte Tradition, politische Geflüchtete aufzunehmen, stößt immer dann an Grenzen, wenn eine Großmacht Druck ausübt.« Die Aufnahme der Geflohenen bleibt bis 1925 Sache der Kantone, sodass es immer wieder Nischen gibt, in denen Verfolgte sicher sind. Das gilt auch für die erste Massenflucht, als ab 1881 aus einem zunehmend antisemitischer werdenden zaristischen Russland und anderen Staaten Osteuropas Hunderttausende Jüdinnen und Juden fliehen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreicht diese erste große Flüchtlingswelle der Moderne ihren Höhepunkt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden es rund drei Millionen sein. Die meisten streben, wie viele Millionen andere Auswanderer, in die Vereinigten Staaten und nach Argentinien. Einige Zehntausend bleiben in Westeuropa, einige Tausend in der Schweiz, die primär zum Transitland wird. Der Staat duldet sie, aber er leistet keine Unterstützung. Die Herausforderung für die kleinen jüdischen Gemeinden ist enorm. 12’162 Juden zählt das Land im Jahr 1900. Zehn Jahre später sind es 18’469 oder knapp 0,5 Prozent der Bevölkerung. Nur ein Drittel von ihnen hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Es gibt beträchtliche kulturelle Hürden, da und dort werden die »Ostjuden« selbst von ihren Glaubensgenossen als »Schnorrer« tituliert, die den jüdischen Gemeindekassen auf der Tasche lägen. Denn nur sie sind für deren Unterstützung verantwortlich. Die Juden in der Schweiz haben politisch kein Gewicht, sie verfügen selbst erst seit 1866 über die Niederlassungsfreiheit und seit 1874 über das Recht zur freien Religionsausübung. 1893, als eine Volksinitiative für ein Schächtverbot gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen wird, mit teils offen antisemitischer Propaganda, werden ihnen die politischen Grenzen bewusst. Die jüdischen Migranten aus Osteuropa, so unbedeutend ihre Zahl auch gewesen sein mag, werden schon bald ungewollte Kronzeugen für eine radikale Wende der liberalen Ausländerpolitik. Sie wird nur fünfzehn Jahre später für Juden, die vor den Nazis fliehen, katastrophale Folgen haben.
Die Schweiz war bis 1914 ein Land des Freihandels und der offenen Grenzen mit einem Ausländeranteil von 14,8 Prozent. Er wird erst in den 1960er Jahren wieder erreicht werden. Es gilt für die meisten Ausländer die Niederlassungsfreiheit. Das Land wird im Ersten Weltkrieg als »Sanitätsposten Europas« auch international respektiert. 1920 tritt die Schweiz, nach einem positiven Volksentscheid und unter Wahrung einer »differentiellen Neutralität«, der sie von der Verpflichtung befreit, sich an militärischen Sanktionen zu beteiligen, dem neu gegründeten Völkerbund bei.
Doch innenpolitisch dreht der Wind. Schon während des Kriegs hat sich die großzügige Haltung gegenüber Migranten gewandelt. Von »Heuschrecken, die das ruhige Schweizerland überfluten«, ist in der Presse die Rede. Gemeint sind, wie sich der jüdisch-ukrainische Schriftsteller Schemarya Gorelik erinnert, Juden aus Galizien, Polen, Ungarn und Russland, »überhaupt die Juden«. Gorelik wird selbst kurz nach Kriegsende ohne ersichtlichen Grund ausgewiesen. »Ostjuden« werden als »Kriegsspekulanten« auch dafür verantwortlich gemacht, dass es zu Versorgungskrisen kommt, die allerdings eine Folge eines mangelhaften Rationierungssystems sind. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Ostjuden werden nun pauschal als unerwünscht bezeichnet. 1917 nimmt der Bundesrat auf dem Verordnungsweg das Heft, das bislang von den Kantonen geführt wurde, selbst in die Hand. Es sind die führenden Beamten der neu geschaffenen Zentralstelle für die Fremdenpolizei, die einen schon seit der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit herumgeisternden Begriff zur Staatsräson machen: die »Überfremdung«. Deren Bekämpfung, namentlich der »Verjudung« der Schweiz, wird nun zur wichtigsten Aufgabe der Fremdenpolizei. Dabei schrumpft der Ausländeranteil kontinuierlich, auf 10,4 Prozent 1920, 8,7 Prozent 1930 und noch 5,2 Prozent 1941, während der Anteil jener Einwohner mit ausländischem Pass, die in der Schweiz geboren sind, steigt. Die Einbürgerungsbedingungen werden verschärft. Die Wartefrist für das Gesuch wird von zwei auf vier und später sechs Jahre erhöht. Heute sind es zehn. Damit verkehrt sich ein Credo der eidgenössischen Einwanderungspolitik nach und nach ins Gegenteil. War vor dem Ersten Weltkrieg noch die rasche Einbürgerung als eigentliches Ziel betrachtet und gar erwogen worden, Ausländer zwangseinzubürgern, so verschwindet diese nun von der politischen Landkarte, und in der Niederlassungspolitik herrschen Kriterien wie »politische und soziale Auslese« vor. Die Einwanderung soll nur dann möglich sein, wenn es wirtschaftliche Erfordernisse gibt. 1925 erhält der Bund per Volksentscheid definitiv die alleinige Kompetenz in der Regelung von Ausländerfragen. 1931 wird das »Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« verabschiedet. Es tritt 1934 in Kraft und fixiert den Kampf gegen die sogenannte Überfremdung mittels Koppelung von Niederlassung und wirtschaftlicher Notwendigkeit. Geregelt ist darin in zwei Sätzen auch die Asylpolitik. Danach entscheidet der Bundesrat über die Gewährung politischen Asyls. Die später erlassenen Ausführungsbestimmungen sind präziser: Die Schweiz versteht sich als reines Transitland für Geflohene. Bund und Kantone sind für die administrative Kontrolle zuständig, die Finanzierung des Aufenthalts müssen die Betroffenen selbst, Hilfswerke oder private Organisationen übernehmen. Juden, die aus rassischen Gründen verfolgt werden, haben kein Asylrecht. Auch Kommunisten sind ausgeschlossen. In der Folge sind es fast ausschließlich verfolgte politische Würdenträger und Intellektuelle, denen Asyl gewährt wird. Dieses politische Asyl erhalten in der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1945 644 Menschen. Kinder, seien es Waisen oder seien sie mit ihren Eltern auf der Flucht, spielen in diesen ersten gesetzgeberischen Schritten der Schweizer Geschichte zur Asylpolitik keine Rolle. Das wird sich bald ändern.
Als der Schweizer Rodolfo Olgiati, seit 1935 Sekretär des Internationalen Zivildiensts, auf einer Erkundungsmission am 23. Januar 1937 mit einem überfüllten Nachtzug aus Barcelona in Valencia eintrifft, zählt die Stadt über eine Million Einwohner. Zwei Drittel von ihnen sind aus Madrid und anderen Gebieten, wo seit einem halben Jahr der Spanische Bürgerkrieg tobt, evakuiert worden. Die meisten von ihnen sind Kinder. »Man erzählt Fälle von einfachen Arbeitern oder von Bauern, die selbst mehrere Kinder haben und dazu drei, vier, ja sechs Flüchtlingskinder aufnehmen. Viele von ihnen geben ihr letztes her«, erinnert sich Olgiati in seinem Buch Nicht in Spanien hat’s begonnen. Rasch stellt sich heraus, dass es an Transportmitteln mangelt für die weiteren Evakuationen. Es ist die Rede von 350’000 Menschen, die allein in Madrid auf einen Transport warten. So wird klar, dass die beabsichtigte Hilfe der im Februar 1937 gegründeten »Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder« vorerst darin bestehen muss, Unterstützung bei den Evakuationen zu leisten und Nahrungsmittelhilfe bereitzustellen. In den kommenden Wochen gelingt es, in der Schweiz genügend Mittel zu sammeln, um vier Lastwagen zu kaufen. Die offizielle Schweiz hält sich wenig vornehm zurück, die Sympathien des Bundesrats liegen mehrheitlich bei den Aufständischen unter Führung des Putschisten Francisco Franco, dem späteren Diktator des Landes. Die Aufständischen wollen von Anfang an von der privat organisierten Hilfe aus der Schweiz nichts wissen, obwohl die Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder ihre Neutralität betont und ausschließlich humanitäre Hilfe leisten will. Sie muss ihr Einsatzgebiet auf das Territorium der demokratisch gewählten Regierung beschränken. Am 4. Mai 1937 erreicht der kleine Schweizer Konvoi erstmals Madrid, beladen mit Kleidern und Lebensmitteln. In einem ehemaligen Kloster warten Hunderte auf den Weitertransport. In den folgenden Wochen etabliert Olgiati mit seinen Helferinnen und Helfern einen fast fahrplanmäßigen Betrieb zwischen Valencia und Madrid. Zwei Drittel der Evakuierten sind Kinder. Die Not ist groß, und die Notleidenden klopfen auch an die Türe der Schweizer Helferinnen und Helfer, die ihr Quartier in der Nähe von Valencia aufgeschlagen haben. »Wenn wir wegen der Beschränktheit der Mittel oft nicht um eine gewisse Härte und Unerbittlichkeit herumkommen, so müssen auch aus dem Neinsagen Sympathie und Gerechtigkeitswille herauszuspüren sein«, schreibt Olgiati. »Wir wissen, dass, wenn es auch, äußerlich gesehen, beim Geben darum geht, einem ganz bestimmten Menschen hier und jetzt zu helfen, tiefer betrachtet, dabei doch ebenso sehr der Geber selbst infrage steht.« Inzwischen betreiben die Schweizer Helfer der Ayuda Suiza mehrere Kantinen in Madrid, etwa in der größten Frauenklinik der Hauptstadt. Mit Fortdauer des Kriegs wächst auch die Not, und zunehmend werden die Versorgung mit Lebensmitteln und die Suppenküchen zum Hauptaufgabengebiet, das international koordiniert sein will. Die Hilfe kommt aus vielen Ländern. So sind im Sommer 1938 in Katalonien fünfzig Kantinen zur Versorgung von 12’000 Kindern in Betrieb. Parallel dazu gehen die Evakuierungsfahrten weiter, allein im Juni 1938 werden von zwei Lastwagen 1960 Menschen transportiert. Die Lage wird immer dramatischer. Im September 1938 wird die tägliche Ration an Lebensmitteln auf 850 Kalorien gesenkt. Im Januar 1939 hat der Krieg längst auch Barcelona erreicht. Olgiati gelingt es, 82 erschöpfte Kinder nach Frankreich zu bringen. Sie werden die kommenden Wochen in der Schweiz verbringen und kehren im Frühjahr 1939 nach Spanien zurück. Die Ayuda Suiza wird von den neuen Machthabern außer Landes geschickt, auch wenn die Not, wie Olgiati bei einem letzten Besuch in Madrid im Mai 1939, als der Krieg vorbei ist, feststellt, größer sei denn je. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen die letzten Schweizer Helfer Spanien. Die Arbeit geht in Südfrankreich weiter. Hunderttausend Menschen fliehen nach dem Ende des Bürgerkriegs in das Nachbarland. Unter ihnen sind viele Kinder, die in den Kantinen der Ayuda Suiza ein- und ausgegangen sind.
Frankreich ist schon wenige Wochen nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zum Exilland für viele politisch und rassisch Verfolgte aus Deutschland geworden. Die Not der Geflohenen in Paris ist groß, der französische Staat zunehmend überfordert. Vor allem die Kinder leiden. Schon im Herbst 1933 gründen zwanzig Frauen in Zürich das »Comité d’aide aux enfants«, eine Unterabteilung des »Comité international d’aide aux victimes du fascime hitlérien«. Sie möchten vor allem Geld sammeln, um das Schwesterkomitee in Paris zu unterstützen. Doch rasch wird klar, dass dieses damit heillos überfordert ist. So kommt es am 4. April 1934 zur Gründung des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder SHEK als Dachorganisation mehrerer lokaler Komitees. Das Ziel: »den heimatlosen Kindern des politisch aufgewühlten Europa ohne Unterschied von Konfession und Weltanschauung materiell und fürsorgerisch beistehen«, wie aus den Statuten der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder hervorgeht. Damit lebt auch die Idee der Kinderzüge wieder auf. Mathilde Paravicini übernimmt, aufbauend auf ihren Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, diese Aufgabe. Schon am 14. April reisen die ersten Kinder ein. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs werden rund 5000 jüdische Migrantenkinder aus Deutschland und Russland, die mit ihren Eltern unter prekärsten Umständen in Frankreich leben, zwei- bis dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz verbringen. Diesen Kindern wird die Einreise nur mit gültigen Papieren und einer Rückreisebestätigung gestattet.
Die Schweizer Bürokratie wirkt wie ein Knüppel, der zwischen die Beine geworfen wird. So heißt es in einem Brief einer kantonalen Fremdenpolizei: »Weisungsgemäß setzen wir Sie in Kenntnis, dass in nächster Zeit solche Bewilligungen nicht erteilt werden können. In der Schweiz selbst sind ohne Zweifel sehr viele erholungsbedürftige Kinder vorhanden, und es können der Familie A aus Städten und Gebirgsgegenden solche in großer Zahl zur Aufnahme offeriert werden«, wie sich Nettie Sutro in ihrem Buch Jugend auf der Flucht 1933–1948 erinnert. Sutro leitet das SHEK von der Gründung bis zu dessen Auflösung 1947. Das SHEK betreut in den Vorkriegsjahren auch Kinder, die in der Schweiz Aufnahme gefunden haben, in der Regel mit ihren Eltern, im Ausnahmefall auch allein.
Die Schweiz setzt in diesen Jahren auf dem Behördenweg um, was politisch in den Jahren 1931 bis 1934 aufgegleist worden war. Sie versteht sich als »Wartesaal«, als reines Transitland, das Geflüchteten, wenn überhaupt, nur befristet Aufnahme gewährt. Diese Toleranzbewilligungen sind an hohe Auflagen gebunden. Es herrscht striktes Arbeitsverbot, es braucht gültige Identitätspapiere (gerade für ausgebürgerte deutsche Juden ein Ding der Unmöglichkeit) und es müssen hohe Kautionen von bis zu 10’000 Franken geleistet werden, was inflationsbereinigt heute etwa 75’000 Franken entspricht. Sie müssen zudem für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen. Schon die »tatsächliche oder mit Sicherheit vorauszusehende Inanspruchnahme der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit« genügt als Abweisungsgrund. Das Bleiberecht hängt deshalb vom Engagement der Hilfswerke ab, was diese wiederum dazu zwingt, den Geflohenen eine möglichst rasche Weiterreise zu ermöglichen. Die Helferinnen (es sind in der Mehrheit Frauen) versuchen unter Federführung der 1936 als Dachverband gegründeten Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe bei den Behörden zu intervenieren. Ihr Forderungskatalog enthält unter anderem jeweils für ein Jahr gültige Flüchtlingsausweise, längere Ausreisefristen, Beiträge an die Hilfswerke und den Verzicht auf Kautionen, wenn die Hilfswerke für den Unterhalt aufkommen. Er bleibt unberücksichtigt. Heinrich Rothmund, seit 1919 Chef der Fremdenpolizei, spricht in einem internen Papier von den »Trägerinnen« der Hilfsaktionen, »die gern das Maß für das Mögliche verlieren«. Er sieht »eine Gelegenheit, ihnen den Weg zu weisen, auf dem sie Nützliches leisten können und sie aus der Utopie zurückholen [sic]«.