Loe raamatut: «Der Gottstehunsbei», lehekülg 2

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Der eine deutete auf seinen Mund und öffnete ihn kurz. Er hatte keine Zunge. »Oha, herausgeschnitten«, kommentierte eine der Bäuerinnen überflüssigerweise.

»Na ja«, sagte der andere Bewaffnete gedehnt. »Da war schon was, Herr. So ein großes Ding mit Hörnern oder eher mit einem Geweih.«

»Genau!«, rief der Dietz. »Mit Geweih. Mir schauderts jetzt noch!«

»Ein Hirsch wird es gewesen sein!«, rief Stoffel amüsiert. »Ein Hirsch im morgendlichen Dunst, ihr depperten Moosbummerl.«

»Ach ja«, gab der Dietz giftig zurück. »Und wo hast du schon mal einen Hirschen gesehen, der mit einem weiten schwarzen Umhang im Kreis tanzt und dessen Augen Feuer sprühen, depperter Gscheithaferl?«

»Aha«, sagte Tassilo nüchtern. »Da kommen neue Details heraus.« Er wandte sich an die Torwachen. »Sagt, Burschen, sind euch in letzter Zeit öfter Berichte über den Bilwis zu Ohren gekommen? Oder gar den Gottstehunsbei?«

»Oh ja«, nickte der Rothaarige eifrig. Die anderen Wachen schienen nicht sprechen zu wollen oder zu können. Sie drängten sich hinter dem Rücken des Rothaarigen zusammen. »Also nicht über den Leibhaftigen. Aber über den Bilwis. Vorige Woche waren es bestimmt drei oder vier … und erst gestern hat eine Bäuerin aus Ramersdorf Stein und Bein darauf geschworen, dass sie ihn mit einer Sense auf den Feldern tanzen gesehen hat. Das ist kein gutes Zeichen, nicht wahr Herr?« Allgemeines Bekreuzigen. Die tanzende Bäuerin, die kurz aufgehört hatte, sich zu drehen, begann sofort wieder mit ihren Pirouetten, während sie Stoßgebete gen Himmel schickte.

»Das habe ich auch gehört«, murmelte eine der wartenden Frauen und rempelte die Tanzende an. »Mei, Kati, jetzt hör aber mal auf.«

»Der Bilwis ist nie ein gutes Zeichen«, sagte der Fuhrmann namens Dietz und schlug gleich dreimal das Kreuz. Seine Hand zitterte wie ein Weberknecht in einer zugigen Zimmerecke. »Man hat uns in Rosenheim versichert, dass die Straßen bis München sicher sind, Herr. Und dann das!«

»Nun, seid ihr sicher nach München gekommen oder nicht, ihr schlotternden Waschweiber?«, rief Stoffel. »Na also!«

Ein mageres, kleinwüchsiges Männlein quetschte sich zwischen den Menschen hindurch und fluchte leise vor sich hin, dass offensichtlich niemand mehr heutzutage es für nötig hielt, anderen Reisenden Platz zu machen. Zeternd humpelte das Männlein weiter, bis ihm Tassilo »He da, bleib stehen!« zurief. Der Angesprochene drehte sich verwundert um.

»Mein Herr?« Er war so klein, dass er den Kopf ganz in den Nacken legen musste, um zu Tassilo aufschauen zu können.

»Was hast du da in der Hand?«, fragte Tassilo.

Der dürre Mann hob seine linke und öffnete sie. »Nichts. Wieso fragt Ihr, Herr?«

»Öffne die rechte!«

»Die ist schmutzig vom … vom Abort, Herr.« Er wischte sie sich am ohnehin dreckigen Gewand ab, dann hob er die knochige Rechte. Leer.

Tassilo seufzte. »Christoffel«, befahl er. »Rechte Seite.«

Der Diener sprang vom Maultier, nahm das überrumpelte Männlein so in den Schwitzkasten, dass dessen Genick knackte, und durchsuchte gleichzeitig mit geübten Griffen dessen Taschen und Beutel. Schnell lagen ein Holzlöffel, ein Kanten Brot und zwei Zwiebeln auf den Holzbohlen der Brücke. Außerdem noch ein scharfes Messer und fünf Silberpfennige.

»Die Fuhrknechte tun jetzt gut daran, vorsichtig ihre Geldsäcke zu untersuchen«, sagte Tassilo Stubenruß. »Ich sage vorsichtig, weil durch den Schlitz, den der Dieb mit seinem Messer hineingeschnitten hat, noch mehr Münzen entweichen können. Und es wäre doch schade, wenn das Geld in die Isar plumpsen würde, oder?«

»Woher wusstet Ihr …« Einer der Fuhrleute hielt seinen ledernen Säckel hoch. Ein sauberer Schnitt auf halber Höhe. Die Bäuerinnen kreischten auf und durchsuchten sofort ihre Beutel und Taschen.

»Bringt ihn ins Gefängnis, den Dieb«, befahl Tassilo. »Mal sehen, ob er morgen noch beide Hände haben wird.«

2 Die Leiche im Keller

Die Ratssitzung verlief genauso langweilig, wie Tassilo befürchtet hatte. Es war mitten im Sommer, auch wenn selbiger bisher äußerst herbstlich dahergekommen war. Es gab keine wichtigen Themen zu besprechen. Darum hatte man sie erst auf Mittag angesetzt, normalerweise begannen die Sitzungen bereits in aller Herrgottsfrühe. Elf der zwölf Ratsherren des Inneren Rats der Stadt München waren anwesend. Honlin Eßwurm, der Tuchhändler, fehlte, da er zu wichtigen Geschäften in Frankreich weilte. Tassilo Stubenruß war mit großem Abstand der Jüngste unter den Ratsherren. Die meisten hatten die vierzig schon hinter sich.

Neben dem Inneren gab es noch einen Äußeren Rat der Stadt, dem vierundzwanzig vornehme Bürger angehörten. Eine Art Kontroll- und Beratergremium für den Inneren Rat. Der Äußere Rat galt als Sprungbrett für den gesellschaftlichen Aufstieg, von hier aus führte der Weg für Kaufleute, Handwerker und Grundbesitzer niederer Abkunft in den Inneren Rat, also an die Spitze der Stadt. Innerer und Äußerer Rat stellten jeweils einen Bürgermeister. Die beiden Bürgermeister durften dann den Herzögen die Ratsbeschlüsse nahebringen. Das Amt wechselte monatlich den Träger. In diesem Juli war der Salzhändler Seitz Hundertpfundt dran, dessen Name passenderweise alles über seine Leibesfülle aussagte. Wie üblich nahm der Bürgermeister des Äußeren Rats an der Sitzung teil, Paul Wilprecht, schon rein optisch das genaue Gegenteil zu Hundertpfundt. Saßen sie nebeneinander, konnte es passieren, dass man Wilprecht überhaupt nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen konnte, weil er neben Hundertpfundt so unterging.

Übrigens gab es in der Stadtverwaltung noch ein drittes Gremium, das ein Mitspracherecht in allen Belangen hatte: Die Gemain, ein sechsunddreißig Mann starker Ausschuss, den die Gemeinschaft aller Münchner Haus- und Grundbesitzer stellte. Aber die Gemain hatte auf normalen Ratssitzungen nichts zu suchen. Ebenso wenig wie der Oberrichter. Der kam nur zu den Sitzungen, an denen der Stadtrat Todesurteile zu fällen hatte. Und aktuell stand kein derartiges Urteil an. Doch zu Tassilo Stubenruß’ Verwunderung saß am Tisch der Oberrichter Bartholomäus Fenggen, gemeinhin von allen Fenggenbartel genannt, was nur für Nichteingeweihte respektlos klang. Selbst die Fenggens nannten ihn untereinander so. Man musste die Fenggenbrüder im Gespräch irgendwie schnell unterscheiden können, also gabs den Fenggenbartel und den Fenggenmuck. Der Sohn vom Nepomuk war der Fenggenmathes. Der Bartel war deutlich jünger als der Nepomuk, fünfzehn Jahre trennten sie. Natürlich vermied Bartel jeglichen Blickkontakt mit seinem verhassten Bruder Nepomuk. Gelegentlich lugte er dem Schreiber, der das Protokoll führte, über die Schulter, ansonsten starrte er schweigend auf seine gefalteten Hände.

Ein weiteres Dauerthema, das regelmäßig für erhitzte Diskussionen sorgte, war, wie man gegen nächtliches Rumoren energischer vorgehen könnte. Die Stadt war voll von Feier- und Saufwütigen, die die Nächte zum Tag machten und die redlichen Anwohner um den Schlaf brachten. Prinzipiell waren alle dafür, dass die Straßen sicherer werden sollten. Die Ratsherren Casper Tömlinger und Michel Astaler wehrten sich gegen schärfere Kontrollen in den Wirtshäusern, aber die waren Weinschenke und daher auf trinkfreudiges Publikum angewiesen. »Bei mir in der Schenke hat es noch nie, noch NIE! eine Schlägerei gegeben«, brachte Astaler empört vor. »Freilich, IN deiner Schenke nicht«, rief Urban Katzmair zur allgemeinen Erheiterung, »weil sich die Saubande nämlich VOR deiner Schenke schlägert und rumbrüllt wie nicht gescheit.« Der Rat Ulrich Ligsalz warf nicht ganz zu Unrecht ein, dass man halt den Wein nicht zu sehr mit irremachenden Kräutern würzen solle – wie beispielsweise mit Stechapfel oder Bilsenkraut. Das, so Ligsalz, solle man endlich mal verbieten. Dann, so warf Astaler ein, würde ja niemand mehr Wein trinken! Er würde sowieso nur Bilsenkraut in minimalsten Mengen beimischen und weder Stechapfel noch Tollkirsche kämen ihm in den Wein. Der Alkohol, so antwortete der Ligsalz, wäre schon Rausch genug, das würde reichen.

Den Wenzel Pötzschner trieb eher die Frage um, wer denn die zusätzlichen Wachen bezahlen sollte, ganz ohne Abgabenerhöhung! Da tauchte der Bürgermeister Paul Wilprecht hinter den Massen des Bürgermeisters Hundertpfundt auf und rief, dass eine Abgabenerhöhung mit ihm als Bürgermeister und dem gesamten Äußeren Rat auf gar keinen Fall zu machen sei! Nie und nimmer! So wahr er hier stehe!

Tassilo gab unter allgemeinem Nicken zu bedenken, dass der Stadthaushalt aktuell überstrapaziert sei. Die Erneuerung und Erweiterung der Stadtmauer, dann die letztjährigen Katastrophen – Brückeneinsturz und Stadtbrand –, dazu die zu erwartenden Ernteausfälle. Wenn man gerade jetzt mit Abgabenerhöhungen ankäme, könnte das die Münchner zu Aufständen verleiten. Und wozu solche Aufstände führten, das sei ja wohl besonders den älteren Herren nur zu bekannt.

Immerhin einigte man sich auf den Unterpunkt, dass weiterhin jeder, der des Nachts auf den Straßen unterwegs war (aus welchen Gründen auch immer), ein Licht mit sich führen musste. Wer dagegen verstieß, durfte von jedermann in die städtische Schergenstube im Ratshauskeller geworfen werden.

Bei der Frage, ob die Stadt in baldiger Zukunft den unverheirateten Männern ein offizielles Bordell zur Verfügung stellen sollte, flammte kurz ein Streit zwischen Veit Sendlinger und Melchior Pütrich auf. Die Sendlinger und die Pütrichs zählten zu den ältesten, einflussreichsten und grundsätzlich gegensätzliche Meinungen vertretenden Münchner Familien. Es war in den vergangenen Monaten wiederholt zu Übergriffen auf junge Mägde und zu Vergewaltigungen gekommen. Der greise, verschrumpelte Veit Sendlinger hatte zeitlebens wie ein Asket gelebt, was ihn nicht vor der Gicht bewahrt hatte. Dicht eingemummelt in Pelze, deren Wärme seine Krankheit lindern halfen, sah er hinfälliger aus, als er tatsächlich war. Ein fanatischer Betbruder vor dem Herrn, der überall Unzucht und Sodomie witterte. In Sachen Betbruder konnte es nur noch der Fenggenmuck mit ihm aufnehmen, doch der war geradezu liberal, was die Ansichten über Zwischengeschlechtliches anging. Die gichtigen Hände des Sendlinger schienen eh immer ineinander zum Gebet verknotet. Er forderte lautstark, dass die unverheirateten Männer sich gefälligst in keuscher Enthaltsamkeit üben sollten, das sei ja wohl nicht zu viel verlangt – hier überging er geflissentlich das nicht sonderlich unterdrückte Gelächter der anderen Herren. Und wer nicht hören wolle, dem solle man zur Strafe sein »Ding da« abhacken. Melchior Pütrich verwies darauf, dass der Mensch nun einmal von Geburt an sündhaft sei – daran sei bekanntlich das Weib an sich schuld, also das Urweib, die Eva, damals mit dem Apfel –, und betonte, dass das Bordell, das der Scharfrichter momentan in der Nähe seines Hauses betrieb, ohnehin unter schärfster städtischer Kontrolle stehe. Daher sei es nur ein kleiner Schritt, dieses »Frauenhaus« offiziell zu machen und dem Henker, der ohnehin von der Stadt bezahlt wurde, die Aufsicht über das liederliche Weibsvolk zu übertragen. Man sollte, warf da der Rat Lorentz Tulbeck ein, zu diesem delikaten Thema auch die Kirche anhören, speziell den Fürstbischof von Freising. Der Sendlinger nickte beifällig, mehrere andere, darunter Tassilo Stubenruß, verdrehten genervt die Augen. Was der Fürstbischof zu dem Thema sagen würde, sofern man ihn mal von seiner Geliebten runterbekam, war eh klar. Also könnte man das auch gleich lassen. Die Abstimmung wurde vertagt.

Die Sache mit dem kleinwüchsigen Taschendieb, den Tassilo am östlichen Brückenkopf hatte festnehmen lassen, behandelte der Rat zuletzt. Diesmal mischte sich der Oberrichter Fenggen ein. Man ließ den Dieb aus dem Kerker holen. Er beteuerte seine Unschuld und bettelte um Vergebung. Tassilo berichtete, was er beobachtet hatte. Es dauerte keine fünf Minuten, da waren sich Stadtrat und Oberrichter einig, dass man den frechen Kerl am nächsten Morgen beim ersten Hahnenschrei vor das Sendlinger Tor führen sollte. Dort bestrafte man kleinere Vergehen durch Auspeitschen, Brandmarken oder Gliedmaßen abhacken. Kurz stand im Raum, dass man dem Verbrecher beide Hände abhacken sollte. Doch der Oberrichter legte aufgrund der recht geringen gestohlenen Summe fest, dass man sich mit der rechten begnügen würde. Danach würde man den Delinquenten durch richterliche Schergen mit Knüppeln aus dem Stadtgebiet rausprügeln lassen, das er im Übrigen für mindestens zwölf Monate nicht mehr betreten dürfe. Wie alle Städte endete München nicht an seinen Mauern. Es gehörte immer noch Umland zum Stadtgebiet, das man Burgfrieden nannte. Vom Sendlinger Tor aus hatte der Verurteilte gute Chancen, die Grenze zu Sendling nahe der Brudermühle zu erreichen, wenn er den Verlust seiner Hand sofort ausblendete und schnell genug vor den Bütteln mit ihren Prügeln davonrannte. Das Übliche eben. Alle waren zufrieden, lobten die Milde des Richters als gottgefällig, und selbst der Verurteile wimmerte »Danke, die Herrn, danke«, als man ihn zurück in die Zelle brachte.

Als sich der Rat auflöste, die Herren in ihre hochhackigen Holztrippen schlüpften und deren Lederriemen festzurrten, um sich draußen im Matsch nicht die feinen Schuhe zu versauen, und Tassilo seine Sachen zusammenpackte, traten die beiden Bürgermeister an ihn heran. »Mit Verlaub, Herr Tassilo«, sagte Seitz Hundertpfundt. »Wir hätten Euch gerne noch etwas gezeigt. Und etwas mit Euch besprochen.«

Tassilo Stubenruß zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Mehr als »So?« fiel ihm nicht ein. Er sah von Hundertpfundt zu Wilprecht und von Wilprecht zu Hundertpfundt. Dann noch zum Oberrichter Fenggenbartel, denn der war zu seiner größten Verwunderung ebenfalls geblieben. Ebenso dessen Bruder, der Fenggenmuck. Sollte es mit seiner Bewerbung für die Meistersinger zu tun haben? Waren den hochnäsigen Stadtratskollegen die Meistersinger zu vulgär, weil sie sich nur aus Handwerkern und Zunftmeistern zusammensetzten?

»Hört, meine Herren …«, begann Tassilo, kam aber nicht weiter.

»Folgt uns bitte, mein Herr«, sagte Fenggenbartel. Es ging im Fackelschein hinab in den Kerker unter dem Rathaus, vorbei an den Zellen, vor denen sich drei städtische Wachmänner langweilten und in denen nur zwei Landstreicher, zwei Huren und ein Dieb hockten. Bis auf den Dieb würden morgen alle anderen zum Frondienst an der Stadtmauer geführt werden. Man ließ sich von einem Büttel die schwere, eisenbeschlagene Tür zu dem Raum aufschließen, in dem normalerweise nur die »peinlichen Verhöre« stattfanden, also mehr oder weniger raffinierte Verfahren der Schmerzbereitung zur Wahrheitsfindung eingesetzt wurden. In einer Ecke kauerte eine junge Magd, die in ihre Schürze heulte. In der Mitte des Raums stand ein niedriger Tisch, darauf lag etwas Großes, Massiges unter einem groben Leinentuch. Erbärmlicher Verwesungsgestank füllte das Kellerloch und grub sich in die Mägen der Anwesenden.

»Ihr Herren, werte Meister«, wimmerte die Magd und stand auf. »Habt Mitleid. Lasst mich endlich gehen. Ich bin doch unschuldig.«

Richter Fenggenbartel wedelte in ihre Richtung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Er trat zum Tisch und zog schwungvoll das Leinen weg. Eine Armada an fetten schwarzen Schmeißfliegen erhob sich und verbarg für einen Moment den Blick auf das, woran sich die Fliegen gelabt hatten. Alle Anwesenden taumelten und hielten sich die Hände vor die Gesichter. Sicher, man hatte genug Hinrichtungen mit dem Schwert beigewohnt, war oft beim Rädern und Hängen gewesen und hatte den Metzgern beim Schlachten und Ausnehmen von Viechern zugeschaut. Und wenn man nach Pasing oder weiter nach Augsburg reiste, kam man stets am Galgenberg vorbei. Dort blieben die Gehenkten so lange hängen, bis sie von selbst abfielen. Erst dann beerdigte man sie. Also waren die Herren einiges gewöhnt. Doch dieser Anblick traf selbst Hartgesottene ins Mark. Brechreiz wogte durch Tassilos Körper und ließ sogar seine Haarwurzeln bizzeln. Nur mit äußerster Beherrschung gelang es ihm, sich nicht sofort zu übergeben.

»Du hättest uns vorwarnen können!«, rief der Fenggenmuck seinem Bruder angewidert zu. »Das ist ja entsetzlich! Heiligemuttergottesstehunsbei!«

»Was …«, stammelte Tassilo, saure Galle hinunterschluckend. »Warum … warum zeigt Ihr mir das?«

»Das ist der Koberbauer aus Taufkirchen. Beziehungsweise was von ihm übrig ist«, sagte der Oberrichter. Der Fliegenschwarm ließ sich langsam wieder auf der Leiche nieder. Vorher war alles schwarz-rot, nun schwarz-schillernd.

»Ich verstehe«, sagte Tassilo langsam, seine Mundhöhle fühlte sich öde und trocken an. Er riss sich zusammen. Mensch oder Sau, aufgeschlitzt gab es keinen so großen Unterschied. Was ihm tatsächlich zu schaffen machte, war weniger der Anblick als der Gestank. Und die nervtötenden Fliegen. »Also gut. Das da ist sein Kopf, oder? Und, nun ja, die Gliedmaßen sitzen noch einigermaßen an den Stellen …« Er würgte. »… wo es sich geziemt. Aber was hat man mit seinen Innereien gemacht? Das ist ja …«

»Nicht wahr?«, mischte sich nun Bürgermeister Hundertpfundt ein. »Welche Bestie ist zu so etwas fähig? War das sein Darm?« Schmeißfliegen stoben auseinander. »Warum hat man ihn … also, das ist doch obszön, den Darm eines Mannes so … Also wirklich. «

»Es muss ein Bär gewesen sein«, sagte Bürgermeister Wilprecht. »Oder ein riesiger Wolf.«

»Meint Ihr?« Tassilo schürzte die Lippen. »Dann aber nur ein monströser Wolf mit einem Schwert oder einer Lanze. Seht Ihr nicht, meine Herren? Die Schnittkanten sind überall gerade. Ein Bär oder eine andere Bestie würde keine sauberen Schnitte hinterlassen. Dann wäre alles zerfetzt. Also, ich meine, noch stärker zerfetzt.«

»Verblüffend, Ihr habt recht, Herr Tassilo!« Bürgermeister Hundertpfundt beugte sich neugierig über den offenen Torso. Fliegen umtanzten ihn. »Und hier, ich bin kein Medicus, aber das sieht aus wie eine Niere. Sollte da nicht noch eine sein?

»Da ist noch eine«, sagte eine dunkle Stimme. Tassilo zuckte zusammen. Ein großer Mann, den Tassilo bisher nicht bemerkt hatte, löste sich aus dem Schatten der Ecke links neben der Tür. »Hier.« Der Mann hob mit einer Reitgerte das heraushängende Gedärm ein wenig an.

»Ratsherr Tassilo Stubenruß«, stellte Oberrichter Fenggen vor, »das ist Ludwig Gröbner, der für Taufkirchen zuständige Richter vom Landgericht Wolfratshausen.«

»Angesichts der Umstände hier«, sagte Tassilo, »kann ich leider nicht sagen, dass es mich freut, werter Herr Ludwig.«

»Nur zu verständlich, werter Herr Tassilo«, antwortete Richter Gröbner und strich sich mit der linken Hand über den schwarz glänzenden Bart. »Man hat den Koberbauern so gefunden. Komplett aufgeschlitzt, alle seine inneren Organe sind entnommen, aber wieder in den Körper hineingelegt worden. Es fehlt nichts. Wir haben den Leichnam untersuchen lassen. Sowohl der Bader als auch der Henker haben uns versichert, dass alle Organe vorhanden sind.«

»Habt Ihr keinen Medicus, der etwas kompetenter Auskunft geben könnte?«, fragte Tassilo.

»Einen Medicus? Ihr Städter redet euch leicht«, sagte Richter Gröbner spitz. »Wozu braucht es hier außerdem einen Medicus, wenn jeder Dorfdepp sehen kann, woran der Koberbauer gestorben ist.«

»Nun, woran ist er denn gestorben, der Koberbauer?«, fragte Tassilo ebenso spitz. »An der Entnahme der Organe? Oder daran, dass man ihm alle seine Knochen und das Genick gebrochen hat? Oder dass man ihn wie eine Sau aufgeschlitzt hat? Oder …«

»Ich würde sagen, an einer Kombination aus allem«, antwortete der Landrichter trocken.

»Ist er in dieser Position gefunden worden?«, fragte Tassilo.

»Wie? In dieser Position?« Die anderen Männer sahen ihn fragend an und die Magd hörte zu schluchzen auf. »Meint Ihr hier auf dem Tisch liegend?«, sagte Bürgermeister Wilprecht und zog amüsiert die Augenbrauen hoch. Was für ein Hornochse, dachte sich Tassilo.

»Nein, natürlich nicht«, sagte der Landrichter. »Es spielt ja keine Rolle, wie man ihn gefunden hat, oder?«

»Tut es nicht? Findet Ihr nicht, dass die Lage des Toten und die Umgebung eine Rolle bei der Aufklärung eines Verbrechens spielen?«

»Nein, gewiss nicht.« Landrichter Gröbner lachte, und auch der Oberrichter schüttelte amüsiert den Kopf. Noch ein Hornochse, dachte sich Tassilo und wünschte sich, dass die anderen endlich aufhörten, durch ihr Gefuchtel ständig die fetten Fliegen aufzuscheuchen. Lasst sie sich setzen und beruhigen, dachte er. Das Gesurre nervte enorm.

»Nun gut.« Tassilo deutete auf die Magd, die mit großen Augen und rotzender Nase die Herren beobachtete. »Und dieses Weib hat den Koberbauern umgebracht, oder? Verzeiht, Herren, wenn ich lache, aber dieses schwache Mädchen kann unmöglich den Kerl hier aufgeschlitzt und so zugerichtet haben.«

»Das denke ich auch«, pflichtete der Fenggenmuck bei.

»Ich war es nicht, meine edlen Herren!«, fing die junge Frau wieder zu greinen an. »Habt Mitleid mit einer armen Magd.«

»Nein, sie war es nicht. Wir haben bereits die nötigen Beweise dazu nach modernsten Erkenntnissen in Wolfratshausen erbracht. Wir können diese Beweisführung aber für die Herren, vor allem unseren Herrn Tassilo, gerne wiederholen. Komm her, Anni. Keine Angst. Na los, du dummes Ding.« Landrichter Gröbner packte die Magd am Handgelenk und zog sie zur Leiche. Das Mädchen wimmerte und drehte den Kopf weg. »Seht Ihr, meine Herren! Nichts«, sagte der Landrichter triumphierend. Er nahm die Hand der Magd und legte sie dem Toten auf den Kopf. »Und auch hier: Nichts!« Er ließ die Hand los. Das Mädchen stürzte zurück in ihre Ecke, wo sie jammernd zusammensackte und ihre Hand schüttelte, als sei sie verbrannt.

Der Fenggenmuck schnaubte empört, ging zu der Magd und reichte ihr ein frisches Tuch. Seine Weichherzigkeit gegenüber dem einfachen Volk war nur zu bekannt.

»Meine Herren, Ihr habt es selbst gesehen.« Ludwig Gröbner hob dozierend den rechten Zeigefinger. »Ihr wart Zeugen des Beweises, dass diese Magd unmöglich die Mörderin des Koberbauern gewesen sein kann.«

»Wie das?«, fragte Tassilo verwundert. »Was haben wir denn gesehen?«

»Nichts. Und genau das ist es.« Gröbner deutete auf die Leiche. »Es ist hinlänglich bekannt, dass der menschliche Körper durch das Gleichgewicht der vier Säfte, als da sind Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle, gesteuert wird. Da könnt ihr jeden Medicus fragen.«

Oberrichter Fenggenbartel nickte wohlgefällig.

»Besonderes Augenmerk«, so fuhr Gröbner fort, »gilt natürlich dem Blut. Schon der große antike Medicus Galenus von Pergamon hat festgestellt, dass im Herzen ein Feuer brennt, das den Blutfluss befeuert.«

»Verzeiht, wenn ich Euch korrigiere«, unterbrach der Oberrichter, »das ist nicht ganz korrekt. Laut Galenus brennt in der linken Herzkammer ein Feuer, das das Blut reinigt.«

»Wie dem auch sei«, der Landrichter kniff verärgert die Augen zusammen. »Wesentlich ist dennoch das Blut. Bekanntlich beginnt das Blut eines Mordopfers vor Empörung wieder zu fließen, wenn man den Täter nahe an die Leiche heranbringt. Seid Ihr zumindest da bei mir, werter Kollege?«

Der Fenggenbartel nickte.

»Gut, der Koberbauer ist nun schon einige Tage tot und nicht mehr im besten Zustand, aber darum habe ich die Hand der Magd auf die Leiche gelegt. Ihr habt es gesehen, nichts passierte. Sie ist unschuldig.«

»Ein Ordal?«, fragte Tassilo erstaunt. »Ein Gottesurteil? Hat sich nicht der Heilige Stuhl dagegen ausgesprochen?«

»Richtig.« Fenggenbartel nickte zustimmend. »Aber das hier ist kein Ordal. Das, mein lieber Herr Tassilo, mag Euch befremdlich vorkommen, aber das sind die anerkannten und modernsten Methoden zur Klärung von Verbrechen. Wobei ich schon anmerken muss, dass diese Probe nur gelingen kann, wenn die Leiche noch frisch ist. Der Zersetzungszustand des Opfers lässt einen eindeutigen Beweis nun nicht mehr zu.«

»Deshalb sagte ich ja, dass wir den Beweis bereits in Wolfratshausen erbracht haben, als die Leiche noch frisch war«, entgegnete Gröbner zickig.

»Nun gut«, sagte Tassilo. »Ihr seid diejenigen, die Erfahrung im Umgang mit Mördern und der Beweisführung bei Kapitalverbrechen habt. Dann verstehe ich aber nicht, warum diese Magd hier ist.«

»Die Anni hat den Koberbauern gefunden, und sie hat den Täter gesehen.«

»Na, dann ist doch alles bestens«, sagte Tassilo betont fröhlich und drehte sich Richtung Tür. Bloß schnell weg hier von dem grausigen Verwesungsgestank und dem Anblick des zerfledderten Leichnams. »Das Landgericht Wolfratshausen ersucht also um Unterstützung durch die Stadt München bei der Festnahme des Täters. Ich denke, das hätten wir eben in der Ratssitzung besprechen können.«

»Nicht ganz«, meldete sich Bürgermeister Hundertpfundt zu Wort. »Hört Euch erst an, wer der Täter ist, den diese Magd hier gesehen hat. Na los, Anni, sags dem Herrn.«

Die Magd machte zwei Schritte zurück und zerknüllte dabei mit ihren Händen die Schürze.

»Na, komm Dirndl«, sagte der Fenggenmuck aufmunternd. »Du bist hier sicher.«

Sie presste die Schürze kurz vors Gesicht, dann warf sie die Hände dramatisch von sich und schrie: »Der Gottstehunsbei. Der Gottstehunsbei wars! Ich schwöre es bei allen Heiligen und der Jungfrau Maria.« Sie brach schluchzend zusammen. Bedeutungsschwere Blicke zuckten durch den Raum. Hände fuhren nervös über Stirne und Lippen. Der Fenggenmuck und Bürgermeister Hundertpfundt bekreuzigten sich gleichzeitig. Bürgermeister Wilprecht küsste das große goldene Kruzifix, das er an einer Kette um den Hals trug.

»Der Gottstehunsbei«, echote Tassilo und zog eine Augenbraue hoch. »Schon wieder. Wie sah er denn aus, der Gottstehunsbei?«

»Furchtbar sah er aus.« Die Magd Anni zitterte am ganzen Leib. »Riesig! Mit so Hörnern oder einem Geweih oben und einen langen schwarzen Umhang hatte er und einen Stock und einen langen Schwanz hinten … und Feuer hat er gespuckt. Ganz furchtbar eben. Und Hände wie Krallen …«

»Und was hast du gemacht, Anni? Hast du geschrien oder was? Wenn du so nah dran warst, warum hat der Leibhaftige dich dann gehen lassen?«

»So nah war ich nicht dran, Herr. Was denkt Ihr denn. Ich hab mich hinter ein Gebüsch geworfen, als ich ihn im Nebel gesehen habe, und zur heiligen Jungfrau Maria und allen Nothelfern gebetet.«

»Sehr vernünftig«, nickte der Fenggenmuck.

»Und dann?«, fragte Tassilo weiter. »Hat er sich in Luft aufgelöst? Oder ist er zur Hölle gefahren oder was?«

»Ich weiß es nicht. Es hat geraucht und gedampft! Als ich wieder nachgeschaut habe, war er eben weg. Und dann bin ich zu der Stelle hingelaufen und da lag er, der Koberbauer. Aufgeschlitzt wie eine Sau.« Anni flennte wieder.

»Kommen wir nun zur entscheidenden Frage, meine Herren.« Tassilo Stubenruß drückte das Kreuz durch und machte die Schultern breit. »Was hat das alles mit mir zu tun? Warum mutet Ihr mir diese Widerwärtigkeit zu? So interessant ich die Methoden zur Aufklärung von Gewaltverbrechen auch finde – Ihr wisst zu gut, dass ich ein Mann der Künste bin. Ein Dichter. Ich bin solch blutigen Angelegenheiten abhold.«

»Ach was.« Bürgermeister Paul Wilprecht gab ein Prusten von sich.

»Verzeiht bitte!«, empörte sich Tassilo. »Was sollte das heißen, Herr Paul?«

»Nichts, nichts, werter Herr Tassilo«, mischte sich der Fenggenmuck ein. »Ihr seid ein kluger Mann, der aufmerksam sieht und hört und sehr gute Fragen stellt. Wie oft wünsche ich mir, mein Sohn hätte Eure Vorzüge. Vielleicht habt Ihr Euch schon gefragt, warum ich so ein Interesse an diesem Fall habe? Nun, der Koberbauer arbeitete für mich, er bewirtschaftete einen meiner Höfe! Einen der großen Höfe!«

»Verstehe«, sagte Tassilo.

»Doch eine wichtige Frage habt Ihr noch nicht gestellt. Nämlich die Frage …«

»Nach dem Warum«, unterbrach ihn Tassilo. Alle rissen erstaunt die Augen auf.

»Warum?«, wiederholte der Fenggenbartel. »Wie warum?«

»Na, warum musste der Koberbauer sterben? Wolltet Ihr ihn vom Hof nehmen, Herr Nepomuk? Oder war einer seiner Söhne scharf darauf, den Alten zu entsorgen und seine Stelle einzunehmen? Oder …«

Die Männer lachten ungläubig. »Das ist nicht Euer Ernst, Herr Tassilo.« Der Landrichter wischte sich eine Lachträne aus dem linken Augenwinkel. »Der Leibhaftige fragt doch nicht. Er handelt! Es gibt kein Warum. Vielleicht hat der Koberbauer ihm seine Seele verschrieben, das ist möglich. Aber sonst gibt es kein Warum! Oder sehe ich das falsch, meine Herren?« Die anderen brummten Zustimmendes.

»Meine Herren, bitte«, sagte der Fenggenmuck. »Die Fragen von Herrn Tassilo sind teilweise berechtigt, und ich möchte antworten, dass ich keine Absicht hatte, dem Kober den Hof wegzunehmen. Und er hat keine Familie. Sein Weib ist vor einigen Jahren gestorben, und die beiden Söhne sind bei einem Sturm im Wald von Bäumen erschlagen worden. Alles lange her. Ja, der Herrgott hat in seiner unergründlichen Weise den armen Koberbauern schwer geprüft. Er wird es wohl verdient haben. Denn der Herr straft nicht ohne Grund. Der Kober war ein verbitterter Mann, aber ein tüchtiger Bauer.«

»Danke, Herr Nepomuk. Wenn das Warum nicht beantwortet werden kann, bleibt die Frage nach dem Wo«, sagte Tassilo. »Doch diese Frage erübrigt sich meiner Ansicht nach, denn wenn der Koberbauer aus Taufkirchen war, gehe ich davon aus, dass es in Taufkirchen war.«

»Fast. Der Kober wurde nicht auf meinem Land getötet. Sagt Euch der Name Oberhaching etwas?«

»Sicher. Oberhaching. Dort besaß meine Familie einst ein bisschen Land. Ein kleiner Weiler bei … oh … bei Taufkirchen.«

»Nun hat diese unglückselige Weibsperson hier den toten Koberbauern just auf einem Acker gefunden, der Teil Eurer ehemaligen Ländereien war«, erklärte Landrichter Gröber.

»Wie Ihr sagt. Ehemalig. Den Grund hat mein Vater selig den Klarissen vom Angerkloster überschrieben«, antwortete Tassilo. »Es ist kein Stubenrußland mehr. Geht zur hochwürdigen Mutter Äbtissin …«

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