Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei

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Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei
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Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei

Martin Kirchhoff

Erster Kriminalhauptkommissar

Norbert Wolf

Leitender Kriminaldirektor

Dozenten an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Print ISBN 978-3-415-07012-7

E-ISBN 978‐3‐415‐07014‐1

© 2021 Richard Boorberg Verlag

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelfoto: © freshidea – stock.adobe.com

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www.boorberg.de

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Allgemeine Angaben zur Kriminalprognose

2.1 Wozu benötigen wir Kriminalprognosen?

2.2 Prognoseerstellung in der Praxis

2.3 Arten der Prognosestellung

2.4 Gütekriterien

2.5 Methoden der Kriminalprognosen

2.5.1 Intuitive Kriminalprognose

2.5.2 Statistische Kriminalprognose

2.6 Allgemeine Problemfelder bei der Prognoseerstellung

2.7 Auffälligkeiten der Prognoseerstellung

3. Ausgewählte Instrumente der Kriminalprognose und deren Relevanz für die praktische Kriminalistik

3.1 OGRS – Offender Group Reconviction Scale

3.1.1 Verfahren

3.1.2 Empirie und Gütekriterien

3.1.3 Anwendungsmöglichkeit für die polizeiliche Praxis

3.2 VRAG – Violence Risk Appraisal Guide

3.2.1 Verfahren

3.2.2 Empirie und Gütekriterien

3.2.3 Anwendungsmöglichkeit für die polizeiliche Praxis

3.3 SORAG – Sex Offender Risk Appraisal Guide

3.3.1 Verfahren

3.3.2 Empirie und Gütekriterien

3.3.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.4 RRS – Rückfallrisiko bei Sexualstraftätern

3.4.1 Verfahren

3.4.2 Empirie und Gütekriterien

3.4.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.5 Static-99 zur Erfassung des statistischen Risikos bei Sexualstraftätern

3.5.1 Verfahren

3.5.2 Empirie und Gütekriterien

3.5.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.6 Stable 2007 zur Erfassung des stabil-dynamischen Risikos bei Sexualstraftätern

3.6.1 Verfahren

3.6.2 Empirie und Gütekriterien

3.6.2 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.7 Acute-2007 zur Erfassung des akut-dynamischen Risikos bei Sexualstraftätern

3.7.1 Verfahren

3.7.2 Empirie und Gütekriterien

3.7.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.8 EFP-63 – Empirisch fundierte Prognosestellung im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB

3.8.1 Verfahren

3.8.2 Empirie und Gütekriterien

3.8.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.9 ODARA – Ontario Domestic Assault Risk Assessment

3.9.1 Verfahren

3.9.2 Empirie und Gütekriterien

3.9.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

3.10 MIVEA (Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelanalyse)

3.10.1 Verfahren

3.10.2 Empirie und Gütekriterien

3.10.3 Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis

4. Prognosen im Polizeialltag

4.1 Merkblatt und Kriminalakte

4.2 Kriminologische Prognoseerstellung bei erkennungsdienstlichen Behandlungen nach § 81b 2. Alternative StPO

4.3. Kriminologische Prognoseerstellung bei der molekulargenetischen Untersuchung

4.4 Kriminologische Prognose bei der Begründung von Untersuchungshaftbefehlen

4.5 Gefahrenprognose bei Häuslicher Gewalt

4.5.1 Dimensionen und Erscheinungsformen

4.5.2 Ätiologie und Risikofaktoren

4.5.3 Handlungsmöglichkeiten und -pflichten der Polizei

4.6 Gefahrenprognose bei Bedrohungslagen im Rahmen der Häuslichen Gewalt

4.7 Rückfallprognose im Rahmen des KURS NRW (Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern)

4.7.1 Täterklassen

4.8 Prognoseerstellung bei JIT (Jugendlichen Intensivtätern)

4.8.1 Prognoseerstellung bei jugendlichen Intensivtätern

4.9 Prognose von Täterverhalten im laufenden Ermittlungsverfahren

5. Beispielhafte Handreichung für Prognosen für die polizeiliche Praxis

5.1 Formulierungshilfen zur Prognoseerstellung bei der schriftlichen Anordnung einer ED-Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO

5.1.1 Gewaltdelikte

5.1.2 Vermögensdelikte

5.1.3 Eigentumsdelikte

5.2 Formulierungshilfen zur Prognoseerstellung bei der Fertigung eines Merkblattes

 

5.2.1 Eigentumsdelikte

5.2.2 Vermögensdelikte

5.2.3 Sexualdelikt

5.3 Handreichung Kriminalprognosen bei Häuslicher Gewalt und Bedrohungslagen

5.3.1 Begründung der Kriminalprognose

5.4 KURS NRW

6. Predictive Policing (vorausschauende Polizeiarbeit)

6.1 Definition

6.2 Entstehungsgeschichte

6.3 Kriminologische Theorien als Ausgangsvoraussetzung

6.4 Unterschiedliche Systeme

6.5 Ergebnisreflexion

7. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis


Abs.Absatz
Alt.Alternative
Art.Artikel
BGBlBundesgesetzblatt
BKABundeskriminalamt
bspw.beispielsweise
bzw.beziehungsweise
DADDNA-Analysedatei
d. h.das heißt
DNADesoxyribonucleic Acid
Dr.Doktor
DSPDepartmental Security Plan
ED-Behandlungerkennungsdienstliche Behandlung
EFP-63Empirisch fundierte Prognosestellung im Maßregelvollzug
etc.et cetera
ff.fortfolgende
GGGrundgesetz
HCRHistorical Clinical Risk
HGHäusliche Gewalt
H-ProbandenHäftlinge
i. d. R.in der Regel
IGVPIntegriertes Vorgangsverarbeitungssystem
i. S. d.im Sinne des
ITInformationstechnik
i. V. m.in Verbindung mit
JGGJugendgerichtsgesetz
JITJugendliche Intensivtäter
KURSKonzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern
LSI-Rallgemeine Einschätzung des Rückfallrisikos von Straftätern
MIVEAMethode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse
ODARAOntario Domestic Assault Risk Assessment
OGRSOffender Group Reconviction Scale
PCL-RPsychopathy Checklist Revised
PolG NRWPolizeigesetz Nordrhein-Westfalen
RRSRückfallrisiko bei Sexualstraftätern
S.Seite
SORAGSex Offender Risk Appraisal Guide
StGBStrafgesetzbuch
StPOStrafprozessordnung
StVollzGStrafvollzugsgesetz
u. a.unter anderem
VGVerwaltungsgericht
vgl.vergleiche
ViVAintegriertes Vorgangsbearbeitungs- und Auskunftssystem
V-ProbandenVergleichspersonen
VRAGViolence Risk Appraisal Guide
z. B.zum Beispiel

Vorwort

Die Idee, das Thema „Kriminalprognosen“ im Rahmen eines Buches über Kriminalistik/Kriminologie zu behandeln, entstand durch die allgemeine kriminalpolitische Bedeutung der Thematik. Diese liegt in der Praxisrelevanz kriminalprognostischer Aussagen zur Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen, zu einzelnen Delikten, zu neuen Deliktsformen sowie im Besonderen zur personenbezogenen Delinquenz von Einzeltätern. Ein weiterer sicherheitstaktischer Aspekt liegt in der allgemeinen und speziellen Gefahrenprophylaxe im Rahmen der öffentlichen Sicherheit. Diese Überlegungen führten auch dazu, diese spezielle Fachmaterie in die polizeiliche Aus- und Fortbildung bundesweit aufzunehmen.

Kriminalprognosen sind aus Sicht der Autoren ein wichtiger Bestandteil der Kriminalwissenschaften. Sie sollen die Entstehung von Kriminalität vorhersagen und bei der Aufklärung von Straftaten helfen. Dadurch richten sich die Inhalte an die gesamte Polizei und auch an die Sicherheitsbehörden, die mit der Entstehung und Aufklärung verschiedenster Straftaten befasst sind. Hierunter fallen sowohl Kriminologen als auch Kriminalisten.

Eine Prognose richtet sich grundsätzlich in die Zukunft und dient der Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens. Dies beschreibt bereits die Einsatzmöglichkeiten von Kriminalprognosen. Die Aktualität dieses Themas wird auch dadurch unterstrichen, dass Prognoseinstrumente immer mehr Einzug in die polizeiliche Praxis erhalten. Hierunter ist z. B. die Einführung von Predictive Policing in vielen Bundesländern zu verstehen. Darüber hinaus werden sich in Zukunft aufgrund der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung in unserer Gesellschaft, wie z. B. Smarthome oder Smart-Car, Prognosemöglichkeiten ergeben, deren Ausmaß wir zurzeit nicht überblicken können. Diese Art der Kriminalprognose zielt insbesondere auf die Verhinderung von Straftaten und das Erkennen neuer Deliktsformen.

Ein weiteres Beispiel ist die aktuelle politische und gesellschaftliche Diskussion, wie mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern in Zukunft umgegangen werden soll.

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem am 9. November 2001 in Kraft getretenen Anti-Terror-Gesetz ist der Fokus auf die Verhinderung weiterer terroristischer Anschläge gerichtet. Dies umfasst auch die Einbeziehung möglicher Terrorgruppen oder Einzeltäter. Aus Reihen der Sicherheitsbehörden ist immer wieder zu vernehmen, dass die Frage nicht ist, ob ein Terroranschlag stattfinden wird, sondern wo. Auch hier werden Kriminalprognosen herangezogen, die dieses Dunkel aufhellen sollen.

Im Buch werden verschiedene Kriminalprognosen vorgestellt und mit Beispielsfällen hinterlegt. Gleichzeitig werden die Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis herausgearbeitet. Aufgrund der Wichtigkeit der Nutzung von Kriminalprognosen haben wir das Kapitel „Prognosen im Polizeialltag“ eingefügt. Der polizeiliche Praxisbezug wird auch durch weitere Abschnitte im Buch, über Handreichungen und Formulierungshilfen deutlich.

Die Darstellung der Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Kriminalprognosen geht aber über den Bereich der Polizei hinaus und bezieht insbesondere den juristischen und den forensischen Bereich mit ein.

Dies ermöglicht eine umfassendere Beurteilung der dargestellten Prognosen und schärft den Blick über den Tellerrand hinaus. Eine solche Betrachtungsweise hilft den mit Kriminalprognosen beschäftigten Polizeibeamten dabei, Abläufe z. B. der Justiz besser zu verstehen und ihre eigene Vorgehensweise auf diese Abläufe einzustellen. Dadurch soll es den Polizeibeamten gelingen, ihre eigenen Aktenbestandteile rechtssicherer zu verfassen und möglichen Einwänden von Rechtsanwälten, Staatsanwälten oder Richtern entgegenzuwirken.

Bei der Auswahl der von uns dargestellten Kriminalprognosen haben wir uns davon leiten lassen, welche Prognosen in der polizeilichen Praxis eine Rolle spielen oder spielen könnten. Eine Auswahl war notwendig, weil die Vielzahl der Kriminalprognosen und deren Abwandlungen eine umfassende Darstellung nicht zuließ oder das Buch nicht mehr lesbar wäre.

Im Sinne der besseren Lesbarkeit haben wir bei Personenbezügen entweder die maskuline oder die feminine Form gewählt, gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.

Für Hinweise und Anregungen zu diesem Buch sind wir dankbar und freuen uns auf Ihre Rückmeldungen. Dafür bedanken wir uns im Voraus.


Gelsenkirchen, März 2021Die Autoren

1. Einleitung

Das Verlangen, in die Zukunft sehen und wissen zu können, welches Ereignis demnächst eintreten wird, liegt in der Natur des Menschen. Dieses Verlangen betrifft auch die Frage danach, ob eine kriminelle Person ihr ganzes Leben lang delinquent bleibt und Straftaten verüben wird oder ihre kriminelle Karriere beendet.

In Deutschland werden Beschuldigte einer Straftat nach dem Strafgesetzbuch und anderen mit Strafe bewährten Nebengesetzen sanktioniert. Wesentlicher Zweck einer Strafe ist hierbei, die Individual- und die Generalprävention, sowie die Resozialisierung. Nebst der sanktionierenden Wirkung von Freiheitsstrafen spielt jedoch auch der Schutz der Bevölkerung vor weiteren potenziellen Rechtsgutverletzungen durch den Straftäter eine entscheidende Rolle.1 Aus diesem Grund greift die Polizei und Justiz auf Kriminalprognosen zurück, um bei straffällig gewordenen Personen die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Rückfalls sowie die allgemeine Gefährlichkeit des Täters zu beurteilen. Unter Kriminalprognosen sind Annahmen und Einschätzungen im Hinblick auf ein zukünftiges strafrechtliches Verhalten von Personen, sogenannten Delinquenten, zu verstehen, welche im Regelfall bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sind.2 In diesem Zusammenhang wird die Kriminalprognose auch als Rückfallprognose bezeichnet.3 Diese Prognosen haben im Strafverfahren Einfluss darauf, welche strafrechtlichen Konsequenzen der Delinquent zu erwarten hat und welche Sanktionen festgesetzt werden. Hat dieser eine Freiheitsstrafe zu erwarten, kommt insbesondere die Beurteilung der Frage zum Tragen, ob die Voraussetzungen für eine Anordnung von freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung vorliegen.

Werden im Zuge von Haft und Unterbringung eines Straftäters Lockerungen und therapeutische Vollzugsmaßnahmen in Erwägung gezogen, ist vorerst eine Risikoanalyse und Gefährlichkeitseinschätzung der betroffenen Person vorzunehmen. Zielt eine Prognose darauf ab, Veränderungen an der Art des Vollzugs des Betroffenen zu bewirken, z. B. offener oder geschlossener Vollzug sowie Beurlaubungen, so ist die Rede von Lockerungsprognosen.

Die Anwendung von Kriminalprognosen verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele, durch welche schlussendlich auch der Vollzug von Freiheitsstrafen gerechtfertigt wird: Ein zukünftig straftatfreies Verhalten des Betroffenen sowie der Schutz der Gesellschaft.4 Es ist zu berücksichtigen, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen Prognoseeinschätzungen Grenzen setzt oder diese gar unmöglich macht. Es besteht ein hohes Restrisiko eines Irrtums bei einer Kriminalprognose.5 Ein Restrisiko negativer Prognosebeurteilungen bleibt also nicht aus.6 Tatsächlich soll die Quote von unzutreffenden Kriminalprognosen wegen Gefährlichkeit in Gewahrsam gehaltenen Personen zwischen 60 und 70 % liegen. Obwohl diese nach einer Entlassung vermutlich nicht rückfällig werden würden, bleiben sie aufgrund beschränkter Einschätzungen jedoch weiterhin in Verwahrung.7

 

In der polizeilichen Praxis werden durch Polizeibeamte Kriminalprognosen hauptsächlich bei der Anregung von Anträgen zum Erlass von Untersuchungshaftmaßnahmen, bei der Bearbeitung von Delikten der Häuslichen Gewalt, bei der Durchführung und Anordnung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen, bei der Erstellung von Merkblättern sowie bei Bedrohungslagen gestellt. Bei der Durchführung von Maßnahmen im Rahmen des KURS-Programmes gilt das Gleiche. Darüber hinaus sind bei der polizeilichen Prognoseerstellung auch allgemeine Prognosen zur Kriminalitätsentwicklung oder Phänomenentwicklung sowie operative/strategische Prognosefelder zu berücksichtigen.

2. Allgemeine Angaben zur Kriminalprognose

Eine Prognose ist eine Vorhersage in die Zukunft. Laut Duden umfasst dies die Voraussage einer künftigen Entwicklung.8 Sie hat eine kriminaltaktische und kriminalstrategische Zielsetzung, insbesondere auf prognostische Aussagen zur Entwicklung der Kriminalität einzelner Delikte sowie krimineller Brennpunkte in Verknüpfung zur Kriminalgeografie. Insbesondere zur kriminologischen Regionalanalyse, d. h., es werden prognostische Aussagen zur Kriminalitätsentwicklung unter Beachtung wirtschaftlicher und struktureller Bedingungen getroffen. Kriminalprognosen beziehen sich somit auf die Vorhersage von zukünftigem kriminellen Verhalten und von Kriminalitätsentwicklungen. „Als eine Art Legalprognose kann man die Kriminalprognose ansehen, wobei die Frage ist, ob ein Mensch oder eine bestimmte Gruppe von Menschen zukünftig kriminell werden, also gegen das Strafgesetz verstoßen, unabhängig davon, ob sie bislang kriminell waren.“9 Viel schwieriger ist es, Prognosen für Straftaten zu erstellen, wenn die Person noch nie strafrechtlich aufgefallen ist und somit auch kein Verdacht auf eine Wiederholungstat prognostiziert werden kann, mit Ausnahme von Sexualstraftaten. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit liegt in der Begutachtung von Personen, die ihre Strafe verbüßt haben, um ihr potenzielles Rückfallrisiko zu beurteilen. Gerade bei Straftätern mit hoher krimineller Energie, wie u. a. Sexualdelinquenten, kann sie für weitere Entscheidungen herangezogen werden.

Die zu beurteilende Person darf nicht aufgrund ihrer Angliederung zu einer bestimmten, und ggf. zu einem gewissen Grad kriminellen, Gruppe benachteiligt werden.10 Die Zugehörigkeit zu einer delinquenten Gruppe kann aber sehr wohl ein negatives Kriterium sein. Die Menschenwürde soll geschützt werden, indem der Mensch nicht zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung herabgewürdigt wird. Die Individualität eines jeden Menschen soll im Vordergrund stehen.11 Deshalb ist die Individualität einer Prognose unabdingbar.

Eine Kriminalprognose muss zudem aktuell sein. Da Prognosen in die Zukunft ausgerichtet sind, sollen weitere Straffälligkeiten verhindert und folglich keine weiteren Personen oder Sachen geschädigt werden. Somit dienen sie der Gefahrenabwehr. Deswegen wird in der Regel eine gegenwärtige Gefahr vorausgesetzt. Die Entwicklung der zu beurteilenden Person, insbesondere nach bereits erfolgten Sanktionen, muss dabei berücksichtigt werden, um einschätzen zu können, ob immer noch eine gegenwärtige Gefahr von dieser Person ausgeht. Die Beurteilungsparameter einer Kriminalprognose müssen zeitlich angepasst werden.12

Des Weiteren sollte versucht werden, den konkreten Sachverhalt vollumfänglich zu ermitteln. Der Prognoseersteller hat möglichst viele Faktoren und Umstände der zu beurteilenden Person zu ermitteln und in die Analyse einzubeziehen. Bei einem Rückfall ist, vor Erstellung einer erneuten Prognose, noch nicht klar, ob diese Wiederholungstat nicht die letzte Tat der jeweiligen kriminellen Karriere darstellt. Deswegen müssen vor allem auch Umstände aus dem sozialen Bereich miteinbezogen werden.13

2.1 Wozu benötigen wir Kriminalprognosen?

Eine Kriminalprognose ist eine Vorhersage über die Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung einer Straftat.14

Bei einem Ersttäter, der z. B. aufgrund einer Anzeige wegen Erschleichens von Leistungen, einer Beleidigung oder eines Diebstahls vor Gericht steht, werden grundsätzlich keinerlei Überlegungen angestellt, einen psychologischen Gutachter zu beauftragen, eine Prognose über dessen Gefährlichkeit zu stellen. Jedoch ist auch bei Ersttätern der Massen- und Kleinkriminalität ein Einstieg in den Beginn einer kriminellen Karriere möglich.

Verurteilungen bei Ersttätern in diesen Deliktsbereichen sind eher unwahrscheinlich, da die Staatsanwaltschaft die Verfahren in der Regel nach § 153 ff. StPO einstellt. Diese Erkenntnis sollte bei den ermittelnden Polizeibeamten in solchen Fällen trotzdem zu einer kriminologischen Prognose zugunsten der Erstellung eines Merkblattes führen.

In Fällen der Häuslichen Gewalt sind Kriminalprognosen grundsätzlich vorzunehmen und aktenkundig zu machen, um polizeiliche Folgemaßnahmen zu begründen.