Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

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Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?
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Martin Naumann

DER WENDE-JOURNALISMUS

Verraten und verkauft?

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Abgesehen von den historisch bewiesenen Tatsachen ist dieser Roman frei erfunden. Einige Namen wurden zudem geändert.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Martin Naumann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

1

Verdammt noch mal, auch das noch, fluchte der Journalist Peter Meisel. Der Verkehrsfunk hatte einen Stau zwischen Hof und Frankenwald gemeldet. Es wurde schon dunkel und natürlich regnete es. Warum zum Teufel hatte er diesen Auftrag angenommen? Und wenn schon, er hätte doch auch morgen früh fahren können. Denn er war keiner besonderen Sache auf der Spur. Nein, es war die unendliche Geschichte vom Aufschwung Ost. War er ein Alchimist, der aus Schrott Gold machen sollte? Irgend so einen verlotterten Betrieb sollte er ausfindig machen, der nun mit Hilfe seiner neuen Westmutter wieder auf die Beine kam.

Merkwürdig dabei war, dass ihm noch etwas Zeit gegeben wurde, um sich bei dieser Gelegenheit in einigen Ostredaktionen umzusehen, denn dort wäre der größte Fortschritt zu verzeichnen. Doch was verstanden seine Auftraggeber unter Fortschritt. Die Stabilisierung der traumhaften Auflagen? Den Einsatz neuester Technik? Oder die jähe Wende in den Köpfen, bei der sich seine Ostkollegen eigentlich das Genick hätten brechen müssen?

Der Grund, weshalb er überlegte, war sein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte er nicht fahren dürfen, denn in der Nacht hatte seine Frau wieder einen ihrer schrecklichen Albträume gehabt. Er hatte fast nicht schlafen können. „Hol mich hier raus – Stacheldraht – alles voll Blut“, hatte sie gewimmert. Ein Dämon schien sie zu würgen, denn sie hielt sich den Hals und schien dem Ersticken nahe. Erst zog er sich das Kissen über die Ohren, weil er früh aufbrechen wollte, aber dann überkam ihn doch Mitleid, sie war hilfebedürftig wie ein kleines Kind, das Schutz suchte, den er nicht verwehren konnte. Er streichelte ihr Gesicht, bis sie sich beruhigt an ihn schmiegte und endlich einschlief. Er aber war wütend auf alles, auf die unvollkommene Welt, die daran Schuld trug und auf die unvollkommene Medizin, die ihr in all den Jahren nicht hatte helfen können. Das einzige, was ihr geholfen hatte, waren rosa Beruhigungspillen, irgendwelche Tranquilizer, nach denen sie aber nicht mehr sie selbst war. Dann schon lieber gelegentlich einen Albtraum; musste es aber gerade vor seiner Abreise sein? Vielleicht deswegen?

Früh hatten dann beide blass und müde am Kaffeetisch gesessen. Sie aß nichts und rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee herum, den er aufgesetzt hatte. „Ich kann nichts dafür“, sagte sie entschuldigend, aber sie sagte nicht: „Bleib hier.“

„Ich weiß, Doris“, entgegnete er, „soll ich dableiben?“

„Nein, es geht schon wieder.“

Was aber würde in der Nacht sein, falls es sich wiederholte und niemand da war, der sie beruhigen konnte? Meisel hatte den Hausarzt angerufen, der längst am Ende war mit seinem Latein, aber allein schon durch sein Erscheinen eine Besserung bewirkte. Er könne aber erst nach seiner Sprechstunde kommen.

Doris Meisel aber hatte noch einen Rettungsanker, Sylvia, ihre Freundin.

Meisel hatte mit gewissem Missvergnügen gehört, wie seine Frau die Freundin anrief; sie war auch gleich am Telefon. Freiberuflich müsste man sein, da konnte man bis in den hellen Tag hinein schlafen.

Und er war noch missvergnügter, als er merkte, in welche Richtung das Gespräch lief. Sylvia war wieder einmal solo und in solchen Zeiten brauchte Doris nur eine Einladung anzudeuten, schon war sie da und blieb wie eine Klette hängen. Die Frauen verstanden sich so gut, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Manchmal wurde er direkt eifersüchtig auf die Freundin. Aber das war nicht der Grund dafür, dass er Sylvia nicht besonders mochte, nein, sie war knapp an einer Emanze vorbeigeschrammt. Bei ihr hatte er immer das Gefühl, dass sie ihm überlegen sei. Als seine Frau damals schwankte, ob sie den Modeteil eines Magazins übernehmen solle und er schon gesagt hatte, das sei nichts für sie, nur Stress und Ärger, da hatte Sylvia sie bestärkt und recht behalten. Unangenehm, Frauen durften zwar klug sein, aber sonst schutz- und Zuflucht suchend, das stärkte die männliche Eitelkeit und brachte die Überlegenheit, die man im harten Berufskampf der Geschlechter nun einmal brauchte.

Als Sylvia eintraf, hatte sich Doris erholt und begrüßte sie so vergnügt, dass er sich überflüssig vorkam, so überflüssig, dass er im Hotel anrief, sie sollten ihm das Zimmer auf alle Fälle reservieren, es würde spät. Trotz seiner Müdigkeit fuhr er sofort los. Natürlich hätte er unter diesen Umständen die Reise auch verschieben können, aber ablehnen konnte er letztendlich nicht. Er stand ohnehin im Clinch mit seinem Chefredakteur und dem Herausgeber, die ihren Lesern jeden Tag mitteilten, dass sie eine unabhängige Zeitung seien, was sie aber nicht hinderte, die unabhängige Meinung ihrer Mitarbeiter nur begrenzt zu dulden. Und Meisel war manchmal anderer Meinung, aber selbst mit dem stolzen Titel eines Chefreporters konnte er diese nicht immer durchsetzen. Neulich hatte er einen schönen satten Fall an der Angel. Da sollte das Bundesverdienstkreuz an einen erfolgreichen Unternehmer vergeben werden, der ein Imperium aufgebaut hatte, dessen Umsatz sich der Milliardengrenze näherte. Das Fatale daran war, dass er seine Produkte in Fernost orderte, wofür deutsche Betriebe reihenweise Pleite gingen, weil die Arbeiter hierzulande nicht so miserabel bezahlt werden konnten. Und er hatte noch etwas anderes in diesem Zusammenhang verfolgt, den Dominoeffekt auch in der Wirtschaft. Die Textilbetriebe vor die Frage gestellt, Pleite oder billige Arbeitskräfte suchen, entschieden sich für das kleinere Übel und sie investierten in Polen und Ungarn, wo eine Näherin nur ein Fünftel des Lohnes ihrer deutschen Kollegin bekam, die dafür in die Arbeitslosigkeit marschierte.

 

„Das ist freie Marktwirtschaft, aber muss so etwas unbedingt mit dem Bundesverdienstkreuz belohnt werden?“, hatte er ketzerisch gefragt. Und das war auch noch gedruckt worden, denn der Chefredakteur hatte seinen freien Tag. Andernfalls hätte der Chef das Bundesverdienstkreuz gestrichen, in der Zeitung natürlich.

Der Chefredakteur hatte Meisel auseinandergesetzt, dass er, bei allen Verdiensten im Wirtschaftsjournalismus, hier nicht klar sehe. Wer hier aber nicht klar sah, war der Chefredakteur, denn das war nichts anderes als ruinöser Wettbewerb. Und der Geschäftsführer hatte Meisel gefragt, ob er etwa die Zeitung zugrunde richten wolle, weil eben jener Unternehmer einer ihrer besten Anzeigenkunden sei.

Und so war der Chefreporter Meisel vor einigen Tagen Gegenstand einer Beratung geworden, von der er nichts ahnte. „Ein fähiger Journalist“, wusste der Chefredakteur. „Aber oft eine Spur zu kritisch“, meinte der Verlagsdirektor. „Vielleicht hilft eine Luftveränderung“, sagte der neue Geschäftsführer, der völlig unbelastet von störenden Rücksichtnahmen das Unternehmen stärker in die schwarzen Zahlen dirigieren sollte. Und er hatte auch schon ein Konzept: „Wir müssten den Posten des Chefreporters mit einem jüngeren Kollegen besetzen, der lässt sich besser führen und ist nicht so störrisch wie einer, der glaubt, den Journalismus erfunden zu haben. Und wir sparen eine Menge Gehalt wegen der geringeren Dienstjahre. Dafür könnte Herr Meisel unsere Ostredaktion verstärken als stellvertretender Chefredakteur, bis wir auch dort einen jüngeren gefunden haben. Und dann hätte er sich ja seine Pension verdient“, fügte er wohlwollend hinzu, er war immer für soziale Lösungen.

Der Chefredakteur war diesem neuen Geschäftsführer gegenüber sehr höflich, er zählte innerlich bis zehn, damit ihm kein unbedachtes Wort herausrutschte; denn dieser neue Mann verstand nichts vom Journalismus, er hatte vorher Autos, Waschpulver, vielleicht sogar Käse gemanagt. Dort hatte er Erfolg gehabt und die aufgeschreckten Gesellschafter hatten ihn gerufen, weil ihnen für ein Jahr die Dividende gestrichen worden war. „Ja nun“, sagte der Chefredakteur nicht eben sehr inhaltsreich, „ich würde den Meisel ungern hergeben, aber sollten es die Interessen des Unternehmens erfordern, müsste es wohl sein.“

„Vorläufig ist das erst einmal eine Idee, die hier im Raum bleiben muss“, bemerkte der Geschäftsführer, „das muss ihm schmackhaft gemacht werden, aber den Journalisten möchte ich sehen, der nicht mit dem Teufel paktieren würde, nur um stellvertretender Chefredakteur zu werden und wenn es im Osten ist.“ Er lachte dröhnend. Dabei dachte er, dass er selbst mit dem Teufel paktieren würde, um diesen Geschäftsführer loszuwerden, der immer mehr redaktionellen Platz haben wollte und der sogar Redakteure für Anzeigenkunden einspannte und bei den Texten das ohnehin schon möglichst kleingedruckte Wort „Anzeige“ am liebsten weglassen möchte, wenn er nicht doch ein wenig Respekt vor dem Presserat haben würde. Laut aber sagte er: „Möglicherweise wird er nicht wollen, denn seine Frau macht doch hier dieses Modejournal.“

„Ach was, gerade drüben gibt es in der Mode einen großen Nachholbedarf“, sagte der Geschäftsführer und weil er weitab von einer Konfektionsfigur war, hätte er auch gern einmal in Mode gemacht.

„Wie sollte man jetzt praktisch vorgehen?“, fragte der Verlagsdirektor.

Der Chefredakteur wusste Rat: „Wir bereiten eine Serie über den Aufschwung Ost vor. Bei dieser Gelegenheit kann sich Meisel auch mal in den Ostredaktionen umsehen, vielleicht findet er Geschmack daran. So ein bisschen Pioniergeist hat er.“

„Ja, unbedingt soll er sich umsehen“, warf der Geschäftsführer eifrig ein. Denn immerhin hatte sein Verlag auch etwas von dem Ostkuchen abbekommen, traumhafte Auflage und 125 Millionen Werbeeinnahmen. Aber der Appetit kommt mit dem Essen und die Gesellschafter wollten mehr.

Also erhielt Meisel den Auftrag, sich neben seiner Wirtschaftsreportage auch in östlichen Redaktionsstuben umzusehen, falls die Konkurrenz das zuließ. Um das Anzeigengeschäft soll sich die Geschäftsleitung gefälligst selbst kümmern, dachte er. Dabei war er neugierig, wie die gewendeten Blätter den Spagat zwischen Werbung und redaktionellem Teil verkrafteten und ob sich die Redakteure auch für das Anzeigengeschäft einspannen ließen.

Jetzt also fuhr er dorthin, wo auf den Trümmern des real existierenden Sozialismus die reale freie Marktwirtschaft aufgebaut werden sollte.

Doch wie könnte er seinen Lesern den Stoff anbieten? Eine vertrackte Situation: Alle jammerten über das schöne Geld, das jetzt in dem bodenlosen Fass Ost versickerte. Womöglich wurden damit Arbeitsplätze gesichert, aber jeder gesicherte Arbeitsplatz im Osten gefährdete einen im Westen. Doch es schien, als wäre die Treuhand nicht so schlecht wie ihr Ruf, denn in den Ausschüssen zur Privatisierung hatte immer ein Vorstandsmitglied aus der entsprechenden Branche zu sein. Das waren die Fachleute und die sahen sich dabei einem Dilemma gegenüber: Übernahmen sie den Betrieb, gefährdeten sie ihre angestammten Arbeitsplätze. Das hätte sie zwar nicht übermäßig gestört, wenn im Osten mit Gewinn produziert werden könnte, aber bis dahin war es noch ein weiter, bitterer Weg. Überließen sie aber ausländischen Investoren das Feld, die vielleicht den Ostmarkt im Auge hatten, züchteten sie eine unliebsame Konkurrenz heran. Am besten war Liquidation, die Produktion konnten sie dann mit übernehmen. In dieser Situation wäre es einfacher gewesen, ein Szenarium über den Abschwung zu schreiben.

Doch dann hätte man auch schreiben müssen, warum die Treuhand nicht zuließ, dass die durch die Sowjets zwischen 1945 und 1949 enteigneten Betriebe von den Alteigentümern zurückgekauft werden konnten. Nein, man verkaufte sie lieber für eine symbolische Mark an ausländische Investoren, welche den Betrieb in kürzester Frist ruinierten. In den Treuhandausschüssen saßen nun mal die alten Kader und die hatten etwas gegen die Alteigentümer, die Kapitalisten, obwohl diese investieren wollten. Mit der wiederauflebenden Tradition wären es sichere Arbeitsplätze gewesen. Aber nein, wenn schon Untergang, dann gründlich. Meisel hatte da Informationen und keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändern könnte.

Und während er missmutig nun tatsächlich im Stau hing, dachte er, dass es interessanter wäre, wenn er sich bei seinen Ostkollegen umsehen würde. Außerdem traf hier der seltene Fall zu, dass er einen dienstlichen Auftrag mit privaten Recherchen verbinden konnte, obwohl seine Frau das nicht wünschte. „Erledige deinen Auftrag, aber lass die Vergangenheit ruhen“, bat sie ihn. Doch er hatte geantwortet: „Solange die Vergangenheit dich nicht zur Ruhe kommen lässt, verfolgt sie auch mich.“

Der Stau hatte sich aufgelöst und er kam an die ehemalige Grenze mit ihrem verzweigten Abfertigungssystem. Und obwohl die Fenster der flachen Gebäude dunkel in die Nacht gähnten, beschlich ihn wieder dieses merkwürdige, hilflose Gefühl aus DDR-Zeiten, wenn er, selten genug, diese Grenze hatte passieren müssen, sei es als Transitweg nach Berlin oder zur Leipziger Messe. Bei den aufreizend genauen Kontrollen war er äußerlich immer ruhig gewesen, das fehlte noch, vor denen Angst zu haben. Aber innerlich zitterte er, sie konnten ihn zurückschicken oder verbotene Literatur finden, ein Journalist war immer verdächtig. Peter Meisel hatte sich in der DDR stets beobachtet gefühlt und eines Tages auch voller Befriedigung bemerkt, dass sie, wer das auch immer gewesen sein mochte, sogar die elektrische Zahnbürste in seinem Hotelzimmer untersucht und in Unkenntnis moderner Technik nicht wieder ordentlich zusammengebracht hatten. Beim Telefonieren glaubte er immer einen Klick zu vernehmen, der da nicht hineingehörte, und so überlegte er sich jeden Satz, vor allem, wenn er mit seiner Frau sprach, die voller Sorge um ihn war und ständig befürchtete, er könne verhaftet und eingesperrt werden. Jetzt nun, wo auch sie hätte mitkommen können, ließ sie ihn trotzdem allein fahren. Nach Leipzig wollte sie nicht wieder, obwohl es ihre Geburtsstadt war. Meisel hütete sich, sie zu drängen, ja er bemühte sich sogar, die Stadt nicht unnötig zu erwähnen.

Endlich saß er in seinem Leipziger Hotelzimmer. Bei den Preisen haben sie bereits Westniveau, dachte er, nahm den Hörer ab, um ihr seine glückliche Ankunft zu melden. Natürlich war Sylvia am Apparat, ja, Doris gehe es gut und das klang so, als sei das ihr Verdienst; dann war Doris am anderen Ende. Er wollte ihr etwas Liebes sagen, aber Sylvia stand sicher wie eine Gouvernante dabei, da zügelte er sein Gefühl.

Gleich am nächsten Morgen suchte Meisel seine östlichen Kollegen auf, um nach einem Betrieb zu fragen, bei dem es aufwärts ging. Das hätte er auch bei der Treuhand erfahren können, aber so konnte er sich gleich bei den Journalistenkollegen umsehen, da war die Frage nach einem Vorzeigebetrieb ein unverfänglicher Anknüpfungspunkt. Dabei wollte er auch ergründen, wie sie den gewaltigen Umschwung geschafft hatten. Er hatte sich Ausschnitte von ostdeutschen Zeitungen kommen lassen, vor und nach der Wende. Die gleichen Namen, aber ein Unterschied wie Feuer und Wasser, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß. Dabei war ihm die naive Anwandlung überkommen, dass bei den Journalisten vielleicht ein kleines Schuldbewusstsein vorhanden wäre, dass sie flüchtig über einen Berufswechsel nachgedacht hätten, etwa, dass sie für den bösen Kapitalismus, den sie in ihren Texten angeprangert hatten, keine Zeile schreiben würden. Vielleicht würden sie sich wenigstens bekennen zu ihrer wenig leserfreundlichen, einseitigen Betrachtungsweise, zu der sie die Umstände gezwungen haben mögen. Doch nichts da, immer wenn er tiefer loten wollte stieß er ins Leere, es war so, als ob er ein Stück nasse Seife zu fassen versuchte. Wende? Mein Gott, das lag doch schon eine Epoche zurück, es galt, nach vorn zu sehen. Kein Wunder, sie hatten immer in Epochen gedacht auf dem Irrweg zur klassenlosen Gesellschaft.

Meisel suchte das Gespräch mit den Autoren, dabei hatte er abgelichtete Kommentare und Leitartikel aus vergangener Zeit mitgebracht, war aber stets abgeblitzt. Leider, die Tagesproduktion würde rufen und sie führten ihm die neue Computertechnik vor, voller Stolz, wie schnell sie sich eingearbeitet hätten, das wäre doch eine Leistung. Und das sah er tatsächlich fast mit Neid, da wurde perfekt gearbeitet. Solch eine moderne Technik hatten sie noch nicht einmal – alles vernetzte Computer. Jede Zeitungsseite konnte einschließlich der Fotos komplett auf dem Bildschirm montiert werden. Die Texte der Agenturen liefen direkt in die Spalten hinein, wurden redigiert und auf die erforderliche Länge gebracht. Das war Hochtechnologie, da war viel Geld von West nach Ost geflossen, natürlich nicht umsonst. Und Meisel hatte die Worte jenes Verlagsmanagers noch im Ohr, der anlässlich der Übernahme einer ostdeutschen Zeitung gesagt hatte: „Dieser Zuschlag durch die Treuhand ist wie eine Genehmigung, Geld zu drucken.“ Aber der Kreis, vor dem er solches sagte, war sehr klein und er dachte dabei nicht an den redaktionellen Teil und die seiner Meinung nach viel zu niedrigen Zeitungspreise, sondern er dachte an das Anzeigengeschäft. Und da noch nie zuvor in Ostdeutschland soviel angeboten und verkauft worden war, bedeutete das ein außerordentlich glänzendes Geschäft.

2

Während Meisel annahm, dass die neue Technik perfekt funktioniere, ärgerte sich ein paar Türen weiter der Bildchef Carl Conrad mit einem nicht unwichtigen Teil dieser Technik herum. Gleich früh hatte er mit tränenden Augen in der ozongeschwängerten Luft des Bildraumes zwei Stunden vor dem Computer gehockt und Bilder ausgewählt, die von den Agenturen aus aller Welt abgesendet worden waren: Krieg und Katastrophen, Skandale, Protokolle, aufreizende Mode und natürlich Sport, der vor allem aus Tennis und Fußball bestand; 400 Bilder, die Medien waren unersättlich. Doch vieles, was unter Lebensgefahr aufgenommen worden war, was von fernen Bildchefs ausgewählt und von der Technik auf die Reise um den ganzen Erdball geschickt wurde, landete dann im Papierkorb der Redaktion.

Das wäre kein Grund für Ärger gewesen, daran hatte sich Conrad gewöhnt. Aber dass der Computer gleich mit drei Fehlern gezeigt hatte, wer hier Herr im Hause war, das hatte ihn doch aus der Fassung gebracht. Erst war er abgestürzt. Ein angekommenes Foto, das er ins System schicken wollte, hatte sich dabei in merkwürdigem Zick-Zackmuster aufgelöst. Waren Viren im Spiel? Die Zeitungen peitschten den Virus Michelangelo hoch, worüber die Hersteller von Anti-Virenprogrammen nicht gerade böse waren. Doch Viren oder nicht, damit vergeudete man nur Zeit. Er war verärgert, zumal es die Systembetreuer scheinbar nicht eilig hatten. Als sie endlich kamen, ließen sie einige Unsicherheiten bei der Diagnose erkennen, bevor es ihnen gelang, das Gerät wieder ins Computerleben zurückzurufen. Kaum war das geschafft, stellte er fest, dass einige der angekündigten Fotos fehlten. Er rief den Funkraum der Agentur an, wo die Kollegen versicherten, alles richtig auf die Reise geschickt zu haben. Er flehte sie an, wenigstens das Foto vom Eisenbahnunglück noch mal zu senden, weil danach dringend gefragt wurde. Dann hatte er ein Porträtfoto vor sich, der SPD-Vize, unzweifelhaft mit dieser Haarpracht, Conrad hatte ihn selbst einmal fotografiert, er war es, aber er war es auch nicht. Die große Geheimratsecke glänzte auf der falschen Seite und der Anzug war auch verkehrt geknöpft. Er brauchte sich den Laserausdruck nicht erst durch die Rückseite anzusehen, das Bild war seitenverkehrt. Das konnten sie doch mit ihm nicht machen, wollten ihn denn heute alle ärgern? Also wieder den Funkraum angerufen, die Kollegen waren beleidigt, sie würden die Bilder nicht seitenverkehrt senden, was aber nichts an der Tatsache änderte. Inzwischen spuckte der Drucker Bild um Bild aus, der Bildchef beäugte sie misstrauisch, einem Model im futuristischem Aufputz sah man nicht an, ob es richtig oder gespiegelt war. Halt, da kam wieder ein Bild, eine Straßenszene, doch die Werbetexte glänzten in Spiegelschrift. Da verlangte er voller Ingrimm den Bildchef der Agentur, Conrad beschwerte sich nicht, sondern er wählte die feinere Art, die manchmal besser war und bat, dass alle Bilder in Zukunft einen Schriftzug tragen müssten, ein Transparent, einen Straßennamen oder ähnliches. Wie das? Ja, weil er sonst nicht erkennen könne, ob die Bilder gekontert ankommen. Da wurde ein Wirbel ausgelöst, die Experten standen zunächst vor einem Rätsel. Erst nach Tagen fanden sie den Fehler: bei einigen Empfangssystemen hatte der Computer links mit rechts verwechselt.

 

Natürlich musste sich alles erst einspielen, das war mit jeder neuen Technik so, aber Conrad war kein Techniker, sondern Journalist, der seine wertvolle Arbeitszeit mit dem Einfahren einer Technik verplemperte, für die er viel zu gut bezahlt wurde. Aber man war ja hier nicht in Südkorea, sondern in Deutschland, man hatte hier kein Plus – sondern ein Minuswachstum.

Endlich! Conrad wechselte zu seinem Schreibtisch. Jetzt musste er sich beeilen, um die Bilder für die Ressorts zusammenzustellen. Er konnte sich viel zu wenig um seine Fotoreporter kümmern, die all das zu bringen hatten, was von den Agenturen nicht zu erwarten war. Ein Betrieb, der, sensationell genug, schwarze Zahlen schrieb, war nicht so interessant wie Randale, in denen rivalisierende Gruppen aufeinander einschlugen, überall da hatte der Bildreporter zu sein, der an seinem Bauch ein Cityrufgerät trug, womit er, wie an einer elektronischen Schnur, an die Redaktion gefesselt war.

Und der Reporter wollte wissen: „Was passiert, wenn ich bei meiner Freundin bin und das Gerät fängt in der schönsten Minute an zu piepen und sie bekommt auch richtig einen Schreck fürs Leben? Oder wenn ich den Schreck bekomme, wer kommt dann für alles auf, für Schreck und Alimente?“ Ja, das war die Frage, wer kam auf? „Vielleicht eine Versicherung?“, schlug Conrad vor, die versicherten doch alles Mögliche.

„Und mein Ohr?“, wollte der Polizeireporter wissen, „wer kommt für meine Nervenschäden auf?“ Er schlief immer mit einem Hörer im Ohr, um ja keine Meldung im Polizeifunk zu verpassen, damit der Leser sich dann an dem verbogenen Blech erbauen konnte, froh darüber, dass es ihn diesmal noch nicht erwischt hatte.

Da klingelte das Telefon, Andreas, sein schnellster Mann rief vom Flughafen an, der große Schlag des Zolls gegen Drogenschmuggel wäre eine Ente, außer einigen tausend Zigaretten wäre nichts gewesen. „Na komm rein“, sagte Conrad und ärgerte sich, verflucht noch mal, das sollte das Titelbild sein. In diesem Augenblick betrat Peter Meisel in Begleitung des geschäftsführenden Redakteurs das Zimmer. Dieser stellte ihn kurz vor, der Kollege wolle sich hier mal ein bisschen umsehen.

Auch das noch. War er mit dieser Technik schon genug gestraft, so schickten sie ihm zum Überfluss noch diesen Wessi, diesen Herrn Meisel mit seiner Goldbrille auf den Hals. Das würde seinem Tagesprogramm den Rest geben. Und das Schlimmste, er musste die neue Technik auch noch loben, auf die er vorher so geflucht hatte: „Wir sind noch in der Einlaufphase“, sagte er und erklärte ihm kurz das System, die Funksignale, die ankommenden Bilder auf dem Bildschirm, die auf der Festplatte gespeichert würden. Die Platte könne aber nicht alle Bilder des Tages fassen, also müsse ständig ausgewählt werden, die guten auf den Drucker, die schlechten in den elektronischen Papierkorb. „Doch was ist gut und was schlecht? Glauben Sie, um das zu entscheiden, muss ich wissen, wer gerade Dienst hat“, ging Conrad in seiner Erklärung vielleicht schon einen Schritt zu weit. Aber der Wessi nickte, er kannte sich offenbar aus. Höflich interessiert sah er sich um und hörte zu. An der Wand hingen einige Wettersatellitenaufnahmen. Gerade wollte er danach fragen, als Conrad auf die Uhr sah: „Oh, schon zwölf, ich muss zur Mittagssitzung, vielleicht können Sie später noch einmal kommen, falls Sie die Technik interessiert.“ Den Mann war er los. Eilig schob er die bereitgelegten Fotos zusammen – kein Titelbild dabei. Er hetzte über den Gang und kam zu spät. Ganze drei Minuten. Das kommt doch hoffentlich nicht wieder vor? Die hohen Chefs warten zu lassen war beinahe eine Todsünde.

So hatte Conrad den Wessi bereits vergessen, als dieser sich wieder meldete. Jetzt war auch der Druck etwas geringer und er konnte sich seinem Gast besser widmen.

„Arbeiten Sie schon lange hier in der Redaktion?“

Was sollte diese Frage, er fühlte den Hintergedanken und antwortete unbestimmt: „Ja, schon lange.“

„Als Ressortleiter?“

„Erst nach der Wende, vorher Fotograf.“

Conrad gab sich einsilbig, außerdem meldete sich sein knurrender Magen und er sagte: „Irgendetwas muss ich jetzt essen, sonst fall ich um. Haben Sie schon gegessen? Mittagessen gibt es zwar nicht mehr, aber irgendeine Wurst werden sie schon noch haben.“ Da merkte auch Meisel, dass er das Essen völlig vergessen hatte und ging mit in die Kantine, der Saal war leer.

Als sie sich gegenüber saßen, blickte Conrad seinen Gast prüfend an. Dieser war nicht mehr der Jüngste, aber eine gepflegte Erscheinung, das spärliche Haar korrekt gekämmt. Conrad fuhr sich verstohlen über seine gewiss wieder wirre Haarpracht. Natürlich hatte sein Gast einen Maßanzug an, das sah man sofort, dazu ein zartblaues Oberhemd mit sicher passendem Schlips. Conrad dagegen trug ein offenes Hemd und wollte wenigstens den oberen Knopf schließen, da bemerkte er bei allem Gegensatz in der Kleiderordnung doch eine Gemeinsamkeit und er ließ den Knopf wieder los. Auch sein Gegenüber hatte graue Schläfen. Wer weiß, vielleicht waren sie sogar gleichaltrig. Doch darüber machte er sich keine Gedanken, ihn bewegte auf einmal etwas anderes, er musste diesem Kollegen Meisel schon einmal begegnet sein, aber wann und wo? Aus der Zeit vor der Wende sicher nicht, da war er mit westlichen Journalisten kaum zusammengekommen, wenn, dann zur Messe, aber da benahmen sich die beiden Lager äußerst reserviert, so, als hätte der andere eine ansteckende Krankheit. Außerdem, jeder Kontakt mit westlichen Journalisten konnte von der Stasi beobachtet werden, die dann unangenehme Nachforschungen anstellte. Plötzlich wurde dann eine geplante Reise gestrichen, ohne dass ersichtlich wurde warum. Aber auch die westdeutschen Journalisten hatten hinter jedem Kontaktversuch das Gespenst der Stasi gesehen. Wenn bei einem internationalen Fußballspiel auch westliche Bildreporter in das Stadion kamen, sah man etwas neidisch auf ihre bessere Technik, aber zu Gesprächen kam es kaum, sie waren zugeknöpft, vor allem, wenn man wissen wollte, was so ein Westkollege verdiene, das war ein absolutes Geheimnis.

Im Nachdenken dehnte sich das Schweigen in die Länge und Meisel suchte einen Anknüpfungspunkt. Die Redakteure waren nicht eben gesprächig gewesen, sie sortierten Agenturtexte, starrten auf die Bildschirme und erweckten mit einsilbigen Antworten den Eindruck von Stress. Er hoffte, der Bildchef sei mitteilsamer, und so sagte er in das Schweigen hinein: „Mein Kompliment, wie Sie die Umstellung vom Blei in die modernste Drucktechnik geschafft haben, das hätte bei uns viel länger gedauert. Technik kann man kaufen, sich umstellen, aber wie ist das hier oben in den Köpfen? Es muss doch schmerzlich sein, wenn Sie erst einer Diktatur das Wort geredet haben und sich nun in Demokratie üben.“

Nanu, das hatte noch kein Wessi wissen wollen, diese behandelten die Ossis, die für das Geschäft gebraucht wurden, wie rohe Eier. Davon hatte auch der Ministerpräsident bei seinem Besuch nichts wissen wollen. Wende in den Köpfen. Er las ja die Zeitung und wusste, dass er sich auf diese Journalisten verlassen konnte. Er hatte nur gefragt, ob viele Kollegen aus dem Westen in der Redaktion arbeiten würden und auf die Antwort, nur zwei, befriedigt genickt; der Osten wurde mit sich selbst fertig. Später allerdings, im kleinen Kreis, waren die Wessis unter sich. Neben dem Ministerpräsidenten und Chefredakteur stießen noch Geschäftsführer und Personalchef dazu. Der stellvertretende Chef aus dem Osten wurde ausgeladen, die zu besprechende Strategie war nicht für seine Ohren bestimmt.

Vielleicht waren die Deutschen Ost und West ein bisschen verklemmt im Umgang miteinander. Die Ausländer, die fasziniert auf das Schauspiel Deutsche Wiedervereinigung sahen, waren da kritischer. Conrad hatte verschiedentlich Germanisten aus den nordischen Ländern und Frankreich empfangen, die jedes Mal die gleiche Frage gestellt hatten, ob er sich noch wohl fühle bei dem Kurswechsel. Kunststück, sie wollten ja nicht ins Zeitungsgeschäft einsteigen.