Opak

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Matthias Falke

O P A K

© 2015 Begedia Verlag

© 2007-2010 Matthias Falke

Umschlagbild Alexander Preuss

ISBN: 978-3-95777-048-6

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Opak

»Okay, was ist es?«

»Wir wissen nicht sehr viel darüber.«

»Ich vermute, das ist der Grund, weshalb wir es uns ansehen sollen; also: Was ist es? Ein Asteroid?«

»Eigentlich wissen wir – überhaupt nichts …«

»Ihr geht doch davon aus, dass es existiert.«

»Es scheint da etwas zu sein.«

»Das bloße Dasein ist zweifelhaft?«

»Wir haben Daten, nach denen es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewegt …«

»Oha! Bewegen tut es sich auch noch.«

»… und Ihr Befehl lautet, aus unmittelbarer Nähe die Beobachtungen durchzuführen, die aufgrund der Beschaffenheit des Objektes von hier aus oder aus dem Erdorbit nicht möglich sind.«

»Da ist dann wohl nichts zu machen.«

»Herzlichen Dank für Ihre konstruktive Mitarbeit, Carlssen.«

»Wie heißt es?«

»Es hat eine Routinenummer, die Sie dem Marschbefehl, der auf Ihr Logbuch überspielt wird, entnehmen können; intern nennen wir es: ›Opak‹.«

Als wir unseren Marschbefehl erhielten, den Oberst Tyrone uns im Auftrag der Zentralen Überwachungsstation auf Luna III übermittelte, befand sich die Leibniz in einem stationären Uranusorbit innerhalb der Umlaufbahn von Miranda. Das Schiff war erst wenige Wochen zuvor von Sirius II, dem entferntesten bemannten Außenposten jener Zeit, zurückgekehrt und wurde nach der interstellaren Reise überholt. Eigentlich hatten wir uns ein paar Tage Erholung verdient und freuten uns darauf, den während der Expedition gesammelten Sonderurlaub abzufeiern. Jedenfalls hofften wir, die Sache in einigen Wochen hinter uns zu bringen. Silesio, wie immer bemüht, die Not zur Tugend umzudefinieren, versuchte, uns das Unternehmen dadurch schmackhaft zu machen, dass er uns einredete, es würde bestimmt noch ein paar Sonderprämien an Freizeit geben und dann vielleicht für einen Abstecher zu den Vergnügungskuppeln von Luna reichen.

Es war 6:30 Uhr Bordzeit, als die Dorset von der Leibniz – in deren Großem Drohnendeck sie auf Werft gelegen hatte – abkoppelte und sich einige hundert Kilometer auf den nächtlichen Planeten zurückfallen ließ. Von der Schwerkraft des blauschwarzen Gasriesen dem Sonnenaufgang entgegengeschleudert, der in arktischer Lautlosigkeit vor den Panoramafenstern gefror, gaben wir viereinhalb Minuten vollen Schub aus dem Photonentriebwerk und beschleunigten mit Richtung auf das innere Sonnensystem. In einem weiteren Swing-by an Oberon erhöhten wir unsere Reisegeschwindigkeit auf knapp 1 ‰ c. Uranus sank in violette Unsichtbarkeit zurück und der Funkverkehr mit der Leibniz wurde abgehackter und gleichgültiger.

»Ich würde euch gerne mehr erzählen. Ich kann euch jedoch versichern, dass keine interne Informationssperre vorliegt, aber unser Wissen ist gegenwärtig außerordentlich gering. Ich bekomme stündliche Updates, die die vorliegenden Daten zu bestätigen scheinen. Substanziell breiter wird unsere Informationsbasis allerdings nicht.«

»Vollführ kein Geschwätz, sondern sag uns, was Sache ist und warum wir hier rumhängen, während die anderen wochenlang blau machen und im Mutterschiff unter der Höhensonne liegen?«

»Das ist kein Geschwätz, Gus, sondern eine Einleitung.«

Theresa erntete einen beleidigten Blick Evchen Groenewolds, die ihre blauen Augen schmatzend von Gus ablöste. Die Erste Offizierin zog das rechte Knie an, stützte ihr schönes Kinn darauf und sah wieder nach vorne.

»Mach weiter, Darling!«

»Vielen Dank. Das Objekt, das unsere Freunde, die Witzbolde von der Planetarischen, ›Das Opak‹ getauft haben, damit wir uns alle etwas darunter vorstellen können, wurde vor einigen Wochen gesichtet. Es befand sich damals auf Höhe der Saturnbahn. ›Gesichtet‹ ist natürlich nicht ganz richtig, wie der Name auszudrücken bemüht ist.«

»Opak heißt: nicht leuchtend.« Silesio kam einer erneuten Heftigkeit Gus’ gelassen zuvor. »Es scheint sich um ein lichtschwaches Objekt zu handeln, das weder eigene Helligkeit emittiert noch externe Strahlung reflektiert.«

»Genau genommen ist es nicht nur lichtschwach, sondern tatsächlich unsichtbar. Es ist bislang nicht gelungen, eine Aufnahme im optischen oder einem anderen Spektrum herzustellen. Auch einer zufällig vorbeifliegenden Drohne war es nicht möglich, das Opak zu fotografieren oder sonstige Informationen über seine Beschaffenheit zu gewinnen. Das war der Anlass, uns – mitten aus dem wohlverdienten Urlaub heraus, Gus, du hast recht, aber ich bin sicher, dass dir jeder Tag doppelt vergütet wird – zu aktivieren.«

»Und woher wissen wir dann überhaupt, dass es da ist?«

Der Bordingenieur spürte Groenewolds himmelnde Augen auf sich.

»Es verdeckt manchmal das Licht einzelner Sterne, vor denen es vorbeizieht. Das ist auch der Grund, weshalb es so spät geortet wurde. Für gewöhnlich werden Kometen oder Asteroiden weit jenseits der Neptunbahn erfasst. Nur die extrem ungünstigen Eigenschaften dieses Objekts ermöglichtem ihm, so weit unerkannt in unser System einzudringen.«

»Warum manchmal?« Silesio hatte den Bart in die Faust gestützt und sah den Commander aus hängenden Augen an. »Warum verdeckt es die Sterne nur manchmal?«

»Nach den ersten Einzelbeobachtungen wurde versucht, die singulären Daten miteinander zu verknüpfen und in einer Theorie zu vereinigen, das heißt, ein Objekt zu definieren, das für sämtliche Durchgänge verantwortlich sein könnte. Dies ist nicht gelungen. Die Vorhersagen, sowohl was die Größe, also das Feld der Abdeckungen, als auch was die Geschwindigkeit, also die Bewegung der Abdeckungen betrifft, ließen sich nur partiell verifizieren. Man entwarf Hilfshypothesen und ging zeitweise von mehreren Objekten aus, doch führte auch das nicht zu befriedigenden Ergebnissen, die die Vorhersagen und Messungen miteinander in Einklang hätten bringen können. Erst als man die einzelnen Daten statistisch miteinander verrechnete und ein virtuelles Durchschnittsobjekt auf einer hypothetischen Durchschnittsbahn erstellte, stimmte es. Einigermaßen.«

»Das heißt?« Gus reagierte lustlos auf Evchens stachelnde Miene.

Silesio nahm einen Zug an seinem Zigarillo und versuchte es an Stelle Carlssens, der erschöpft zu seiner Ersten Offizierin hinüberblinzelte.

»Wir haben es mit einem Objekt zu tun, das nicht der klassischen Physik nach Newton zuzuschreiben ist, sondern nur in einem quantentheoretischen Rahmen beschrieben werden kann. Wie wir die Elektronenwolke eines beliebigen Atoms nicht stationär, sondern nur als statistische Verteilung erfassen können oder wie ein Photon, das einen paradoxen Doppelcharakter als Welle und Teilchen besitzt, so scheint auch das Opak keinen gegebenen Aufenthaltsort zu haben, sondern nur über eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu verfügen, wann es sich wo befinden wird.«

Er hatte sich direkt an Gus gewandt, dessen binärer Technikerverstand mit seinem grobklotzigen Entweder-oder ihn langweilte; jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Commander.

»Wurde die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um ein Artefakt handelt?«

Carlssen, der einen Schluck von Theresas Kaffee genommen hatte, erhob sich von der Tischkante.

»Das ist eine von mehreren Möglichkeiten, wenn auch eine eher unwahrscheinliche. Jedenfalls unterliegt unser Auftrag den strengsten Sicherheitsvorschriften und der höchsten Geheimhaltungsstufe.«

Ein tiefblaues Schweigen des Commanders unterstrich den letzten Satz.

»Wenn keine Fragen mehr sind, komme ich zum äußeren Ablauf der Expedition.«

Gus warf sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die bulligen Arme vor der Brust, blieb aber stumm. Groenewold wandte sich enttäuscht ab.

»Wir befinden uns mittlerweile einige Millionen Kilometer innerhalb der Uranusbahn und haben unsere vorläufige Reisegeschwindigkeit erreicht. In sechs Wochen werden wir Saturn passieren und durch den Swing-by noch leicht, auf dann 1,13 ‰ c beschleunigen. Falls das Opak seine bisherige Richtung beibehält, die etwa der eines mittleren Kometen entspricht, werden wir es in neun bis zehn Wochen in Höhe der Jupiterbahn einholen und zu vermessen und zu beobachten beginnen. Ich schlage daher vor, wir legen uns einige Wochen aufs Ohr. Natürlich bleibt es jedem überlassen, wach zu bleiben und sich die Zeit selbst zu vertreiben. Ich weise allerdings darauf hin, dass die Dorset ein kleines Schiff ist, das nicht für derartige Reisen konstruiert wurde. Der Alterungskoeffizient wird, wenn jemand die ganze Zeit wach bleiben sollte, 0,95 betragen; im Tiefschlaf beträgt er aufgrund der reduzierten Körpertätigkeit 0,88. Also? Gus geht freiwillig, da brauche ich nicht zu fragen. Groenewold? Schläft. Theresa? Dich bräuchte ich zumindest für den Saturn-Swing-by. Wir werden bis dicht über die äußeren Ringe eindringen, das überlasse ich ungern komplett der Automatik. Außerdem solltest du das mal gesehen haben. Überleg dir also, ob du dich zwischendrin wecken lässt oder ob du dich erst nach dem Manöver für die restlichen fünf Wochen hinlegst.«

Silesio bekundete, er wolle die Zeit für seine Abhandlung über die Kontingenzproblematik nutzen. Daraufhin löste Carlssen die informelle Sitzung auf und verschwand ins Cockpit.

»Ein bisschen wie das Nirwana.« Silesio schob seinen Springer vor und kassierte einen von Carlssens Bauern.

»Wenn du so weitermachst, spielst du mich ins Nirwana.« Der Commander versuchte eine Verzweiflungstat, indem er seinen Läufer quer über das Feld nach vorne schoss, wurde aber von einem versteckten Turm seines Chefprogrammierers abgefangen.

 

»Das Nirwana ist ein Zustand, der nicht positiv definiert werden kann, sondern nur negativ.« Silesio verfolgte amüsiert ein Verlegenheitsmanöver Carlssens und setzte dann seine im Abseits geparkte Dame um ein Feld vor: Schach! »Man kann nicht sagen, was es ist, nur, was es nicht ist.«

Der Commander legte interessiert seinen König auf den schwarzen Bauch.

»So ähnlich scheint auch das Opak beschaffen.«

Der Systemtheoretiker und promovierte Philosoph sammelte die Figuren ein und bot mit schwammigen Blicken eine Revanche an; Carlssen lehnte dankend ab.

»Wir können es nicht sehen, wir können es nicht berechnen; lediglich indem wir abgrenzen, wo es überall nicht ist, können wir Hypothesen über einzelne äußere Eigenschaften aufstellen.«

Carlssen inhalierte den ersten Zug der Qat-Zigarette, die er hinterher gerne rauchte. Er erhob sich unbehaglich und ging zu den Panoramascheiben der Messe. Ein lichtstarker, hellblauer Stern erfüllte den Ausschnitt mit smaragdenem Leuchten. Saturn, der sich in den nächsten Tagen von einem Punkt zu einer umgürteten Sichel verwandeln würde.

»Lass uns warten, bis wir da sind. Bei der letzten Extratour dieser Art, als wir den Kometen Golden Dust 75/3 observierten, waren die Schirme auch leer. Wir mussten bis auf zehn Kilometer rangehen, ehe wir was sahen. Ein rußiger, deformierter Schneeball von lächerlichen Ausmaßen. Fast hätten wir deswegen das Embarquement der Leibniz verpasst.«

Silesio hatte das Schachspiel zusammengesteckt und in seinem Spind verstaut. Er trat neben den Kommandanten, der das Sternenmeer jenseits der gewölbten Scheiben anschwieg. Schräg hinter Saturn glomm ein rostroter Fleck, der unschwer als Jupiter zu erkennen war. Die Planeten standen nicht in Konjunktion, aber dicht genug beieinander, dass der Swing-by-Effekt den Umweg wettmachte.

»Die letzten Updates waren so weit …«

»Im Rahmen dessen, was wir seit drei Wochen gewohnt sind.«

Carlssen sprach durch Tentakel schiefrigen Rauchs.

»Man hat die Toleranzwerte erhöhen müssen und die Statistik von einem 5- auf einen 10-Tages-Koeffizienten umgestellt. Es bewegt sich sehr sprunghaft und scheint bisweilen eine gewisse Wegstrecke zurückzuschnellen. Inzwischen gibt es Parameter über die Abweichungen, die über die errechneten Abweichungen hinaus zu erwarten sind. Sie gelten natürlich nur näherungsweise. Auch die Spurbreite, wenn du so willst, ist variabel. Manchmal taucht es um mehrere Bogengrad seitlich versetzt auf. Die Einzeldaten ergeben ein ziemlich wildes Hakenschlagen.«

»Man könnte es auch als Oszillieren bezeichnen.«

»Es hat keinen Sinn, sich um Begriffe zu streiten …«

»Solange wir noch nicht begriffen haben, was es ist. Wolltest du das sagen?«

»So ungefähr. Die statistische Kurve jedenfalls, die den jeweiligen Kohärenzpunkt deines Oszilloskops seit dessen Entdeckung verfolgt …«

»Verläuft erstaunlich eben; gewiss.«

»Ganz genau! Wenn es den gegenwärtigen Kurs beibehält, wird es auf der Höhe der Jupiterbahn die Ekliptik schneiden und unter dem Asteroidengürtel hindurchtauchen. Zwischen Mars- und Erdbahn wird es herumkommen und die Ekliptik wieder durchstoßen.«

»Interessierst du dich für Börsenkurse?«

»Nein, weshalb?«

»Der aktuelle Parketthandel zittert elektrisch hin und her; aber die Durchschnittsnotierung der letzten 200 Tage beschreibt eine elegante asymptotische Bewegung, die selbst den totalen Crash sanft abfängt und als unbedeutenden Ausrutscher in den weichen Armen ihres mütterlichen Verständnisses zerdrückt.«

»Du meinst …«

»Wir können die Phänomene nicht von unseren Zugangsmethoden trennen. Wenn wir etwas mit mathematischen Funktionen beschreiben, können wir nichts anderes herausbekommen als Zahlennebel und statistische Ziffernwolken.«

»Wenn das Phänomen nun aber ein Nichtphänomen ist?«

»Eben ein Opak.«

Silesio verzog die schütteren Tränensäcke zu einem vielsagenden Feixen. In diesem Augenblick betrat Theresa die Messe. Sie kniff die entzündeten Augen zusammen und ließ sich in einen der gravimetrischen Drehsessel fallen. Carlssen bestellte ihr den abendlichen Cognac aus der Automatik, während Silesio sie mit möglichstem Charme darauf hinwies, dass es eine Sünde sei, ein so hübsches Gesicht durch derartige Überanstrengung zu entstellen.

»Noch eine Woche.« Die Erste Offizierin lauschte dem Abgang des Entspannungsdrinks nach. »Dann kann ich auch Alpha- und Beta-Shuttles fliegen. Aber das sag ich euch: Zehn Stunden täglich an den Simulatoren sind ein echter odd job.« Sie fuhr die Lehne in die Waagerechte zurück und schloss die geröteten Lider. »Aber es ist die einzige vernünftige Möglichkeit, die Zeit zu nutzen. Ich verstehe die beiden nicht, die rumnölen, ihrem Urlaub nachtrauern und nicht kapieren, dass das hier genauso gut sinnvolle Zeit sein kann.«

»Sie wollen die Zeit eben nicht nutzen, sondern lieber vertrödeln, sprich: totschlagen. Kennt jemand Joseph Brodsky? Russischer Autor des 20. Jahrhunderts. In seinem Theaterstück ›Marmor‹ geben zwei lebenslänglich Inhaftierte aufgrund einer Wette die Freiheit, die sie hätten erlangen können, für ein Röhrchen Schlaftabletten wieder her.«

»Sehr philosophisch.« Allmählich wich die Anstrengung von Theresas Zügen; nur ab und zu lief noch ein Zucken über ihr Gesicht oder verebbte eine reflexhafte Kontraktion in ihren Unterarmen. »Apropos, wo wart ihr gerade?«

»Ach, wir hatten einen Kursus in buddhistischer Logik, Wissenschaftstheorie und phänomenologischer Skepsis.«

»Also nichts Besonderes. Darling, hast du dir für heute Abend schon etwas überlegt?«

»Du hast abgenommen.«

»Diese virtuellen Kurse sind ein ziemlicher Stress.« Theresa strich ihre kupferfarbene Mähne nach vorne über die Stirn und drehte ihren verspannten Nacken heraus. Unter dem Druck von Carlssens Händen begann sie, wohlig zu grinsen. »Das Gehirn ist der größte Energieverbraucher. Was du in zwei, drei Stunden derartiger Konzentration verbrennst, könntest du mit reinem Muskeltraining am ganzen Tag nicht einholen.«

»Trotzdem solltest du dich nicht so verausgaben. Es ist höchst löblich, dass du die Flugphase nutzt und nicht wie Gus und Groenewold zwei Monate pennen gehst.«

»Noch ein paar Tage. Wenn ich das gesamte virtuelle Programm durchhabe, brauche ich nur ein paar Flugstunden unter Echtbedingungen, sowie wir wieder auf der Leibniz sind, dann habe ich den Schein für sämtliche Shuttles und Drohnen. Hast du Angst, dass ich dir deinen Rang als Commander der Dorset streitig mache?«

»Gewiss nicht. Es gibt genug andere Explorer, die sie dir unterstellen können. Und ich wäre der Letzte, der ein eigenes Kommando für dich nicht unterstützte. Aber für den Saturn-Swing-by hätte ich gerne eine ausgeschlafene Erste Offizierin. Du solltest spätestens zwei Tage vorher dein Training beenden oder unterbrechen, damit wir die Kontaktphase vorbereiten und die Vorfeldkorrekturen vornehmen können.«

»Aye, aye, Sir!«

»Das ist ein Befehl.«

Carlssen hatte die linke Hand auf Theresas Rückgrat gestützt und zog nun heftig an ihrem linken Arm, den sie rückwärts herumkugelte. Mehrmaliges lautes Knacken war aus dem Schulterbereich der Pilotin zu vernehmen, begleitet von wollüstigem Winseln. Nach der Beendigung der Massage drehte sie sich zwischen seinen Schenkeln um und zog ihn zu sich herab. Während er eine Spur silbriger Küsse von ihrer Brust zu ihrem entspannten Schlüsselbein legte, grübelte Carlssen darüber nach, wie sie es fertiggebracht hatte, die Automatik so zu programmieren, dass sie im richtigen Augenblick das Licht herunterdimmte. Und tatsächlich: Hinterher ging es leise wieder an, nahm aber nur bis zu einem schwach summenden Blau zu, das sich kühl über ihre salzige Erschöpfung legte.

»Worüber habt ihr gesprochen?«

»Über das Opak. Silesio hält unsere wissenschaftlichen Methoden nicht für angemessen. Wie wir an das Objekt herangehen sollen, hat er aber auch nicht verraten.«

»Er ist und bleibt ein skeptischer Fantast.«

»Eine kritische Intelligenz, die sich einige Vorbehalte gegenüber der offiziellen Selbstherrlichkeit erlaubt, kann nicht schaden. Dabei weiß er das Schlimmste gar nicht.«

»Das topsecret ist und nur den Commander was angeht. Aus purem Mitteilungsbedürfnis wirst du es mir trotzdem sagen und dich dann vor dem Militärgericht darauf rausreden, ich hätte dich verführt.«

»Als meine Stellvertreterin und Erste Offizierin darf ich dich ins Vertrauen ziehen, wann immer ich das für richtig halte.«

»Dann zieh mal los.«

»Die Geheimhaltung wurde durchbrochen. Vermutlich haben ein paar Hobbyastronomen das Objekt entdeckt oder irgendwelche Hacker haben unseren Funkverkehr geknackt. Jedenfalls wurden ein paar Leute von der Presse hellhörig. Die Anfragen, die an die Zentrale Überwachungsstelle auf Luna III ergingen, wurden auf stümperhafte Weise so betont harmlos abgefertigt, dass die Leute erst recht Verdacht schöpften. Als dann herauskam, dass ein Explorer der Dorset-Klasse unterwegs ist, war das Geschrei groß. Die offiziellen Kommuniqués, die abwiegeln wollten und verlautbarten, man wisse noch nicht genau, um was es sich bei dem Objekt handle, lösten eine weltweite Panik aus. Ich möchte nur mal wissen, wer da in der Öffentlichkeitsabteilung sitzt. Das nachgeschobene Harmlostun nach dem Motto, es sei die routinemäßige Untersuchung eines neu entdeckten Kometenkerns, vermochte niemanden mehr zu überzeugen. Jedenfalls stehen wir unter einem gewissen Erwartungs- und Erfolgsdruck. Alles, was wir herausfinden, wird von der Public-Relations-Stelle auf Luna – nun, sagen wir – aufbereitet werden; darüber hinaus legt man Wert darauf, dass wir möglichst bald etwas Verwendbares herausbekommen.«

Sechs Wochen nach dem Abkoppeln von der Leibniz gerieten wir ins Schwerefeld des Saturn. Der silberblaue Ringplanet füllte die Panoramascheiben am Bug der Dorset aus und wir genossen stundenlang den Anblick, den die weit gereisten alten Hasen Silesio und Carlssen als den schönsten unseres Sonnensystems bezeichneten. Da die Position des Opak weiterhin nur näherungsweise zu bestimmen war und sich seine Bahn entsprechend nur äußerst vage vorausberechnen ließ, wurden einige Kurskorrekturen nötig, die die Erste Offizierin unter der Aufsicht des Kommandanten manuell, innerhalb der vorgegebenen Entscheidungsfenster der Automatik durchführte. Die neu entworfene Kurve führte in einer weiten Hyperbel durch das Saturnsystem und nutzte eine zufällige Konstellation der Monde Titan und Hyperion zu einer dreifachen gekrümmten Flugbahn, die den Swing-by-Effekt noch verstärkte. Nachdem wir mit über einer Million Kilometer pro Stunde die beiden erzgrauen Trabanten passiert und dabei auf über 1,1 ‰ c beschleunigt hatten, steuerte Theresa das Schiff auf eine tangentiale Bahn, die die Ringe des mächtigen Planeten in ihren äußersten fadendünnen Ausläufern berührte. Commander Carlssen hatte alle Schotten schließen lassen und das Vorwarnsystem der Automatik auf höchste Sensibilität geschaltet. Die Schlafkammer, in der Gus und Evchen seit vier Wochen in künstlicher Bewusstlosigkeit lagen, wurde auf maximale Abschirmung gebracht und hydraulisch gegen die Vibrationen abgefedert. Die drei wachen Besatzungsmitglieder saßen angeschnallt im Cockpit, die Pneumatik der Sessel glich 98 % der Erschütterungen aus. Dennoch musste die Besatzung der Dorset heftige Schläge hinnehmen, als der Explorer von den Gezeitenkräften des Planeten erfasst und deformiert wurde. Das Titanskelett des Explorers heulte und schrie, als Theresa das Schiff »hart am Wind« steuerte, es schräg zu den Gravitationslinien Saturns stellte, die sie auf einer messerscharfen Tangente durchkreuzte. Bei einer Geschwindigkeit von eins Komma zwei Millionen Kilometer pro Stunde stöhnten die Spanten der Dorset jedes Mal auf, wenn die Offizierin eine der Korrekturdüsen betätigte, um die Flugbahn um Bruchteile einer Bogensekunde herumzudrücken. Doch selbst im ungelenkten Geradeausflug wand sich das hundertsechzig Meter lange Schiff im Widerstreit der wirkenden Kräfte, die es erbarmungslos an seinem Schwerpunkt packten und mit der Wut eines Diskuswerfers in den leeren Raum hinausschleuderten.

Zum Zeitpunkt der größten Annäherung an das Ringsystem war es totenstill im Cockpit. Hatten sich die Piloten zuvor gegenseitig auf einige besonders fantastische Perspektiven innerhalb der gewaltigen Staubbahnen aufmerksam gemacht oder einander auf die Anzeigen der Automatik hingewiesen, so knirschte nun nur noch angespannteste Konzentration, während die Scanner des vorderen Gerätefeldes mehrere Millionen Staubpartikel und Felsbrocken pro Sekunde erfassten, ihre relative Bewegung errechneten und auf gefährliche Annäherungen abtasteten. Zweimal musste Theresa, die mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Schweißperlen auf der Stirn die Anzeigen überwachte, die Dichte des Vorbeifluges zurücknehmen und den Tangentialpunkt um mehrere tausend Kilometer nach außen verlegen. Einmal überlagerte die Automatik ihre Kommandos und in der aufblitzenden Gasfontäne einer vorderen Steuerdüse erkannten sie gerade noch einen faustgroßen Geröllbrocken, der als hingewischter Strich vorbeizuckte, ein versprengter Einzelgänger, der auf irregulärer Bahn durch die Peripherie der gleißenden Ringe zog. Eine Kollision hätte das Schiff zu Fetzen zermahlen. Doch auch der Automatik war es nicht möglich, allen Partikeln auszuweichen. Mehrmals schlugen winzige Staubteilchen von weniger als einem Milligramm Masse auf der äußeren Hülle der Dorset auf, wo sie verglühten und strontiumfarbene Kondensationsstreifen erzeugten. Jedes Mal hallte ein gischtendes Echo durch das dahinpeitschende Schiff.

 

Eine Stunde nach der Durchquerung des Tangentialpunktes sank das Risiko einer Kollision auf unter 1 %. Theresa ging auf Stand-by, übergab an die Automatik und sank mit fleischigen Blicken auf ihrem Sessel zusammen. Japetus drehte sich in großer Entfernung vorüber. Die Heckmonitore zeigten das Bild des davonschwindenden Saturns, ein fahles Lackblau irisierte auf den Ringen, die schon wieder wie kompakte Flächen aussahen.

Carlssen beugte sich über die Koje und küsste Theresa auf die bläulichen Lippen.

»Sehr gute Arbeit.« Er flüsterte zärtlich in das braunrote Nest ihres Haars.

»Ich werde dafür sorgen, dass du ein eigenes Kommando erhältst. Wie wäre es mit der Herschel?«

Theresa hob noch einmal den Arm aus der Koje, zog ihn zu sich herab und presste die Stirn an seine. Ihr Blick war schon ohne Bewusstsein.

»Gute Nacht.«

Carlssen schloss die Luke aus geädertem Fiberglas und wartete, bis die Erste Offizierin eingeschlafen war. Er prüfte die Instrumente. Der Puls wurde auf zwanzig Schläge, die Atmung auf fünf Züge pro Minute heruntergefahren. Die Körpertemperatur sank auf siebenundzwanzig Grad. Nach einer halben Stunde hatte sich die Muskulatur völlig entspannt, wurde aber elektronisch massiert, um Rückbildungen zu vermeiden. Die Gehirnströme verebbten zu traumlosem Tiefschlaf. Er vergewisserte sich, dass das richtige Weckdatum programmiert war, dann verließ er das Schlafdeck, das automatisch verriegelt wurde.

Auf der Brücke saß Silesio an seinem seitlichen Pult, das er für theoretische Arbeiten zu benutzen pflegte. Commander Carlssen trat hinter den Chefideologen und sah ihm über die Schulter zu, wie er ein Kapitel seines Textes über die Kontingenz redigierte, während er auf einem zweiten Monitor den Umbruch des Inhaltsverzeichnisses vornahm und auf einem dritten Zitate aus der Bordbibliothek nachschlug.

»Schon eine neue Arbeitshypothese?«

Er setzte sich auf Theresas Tastaturfeld, das von der Steuerung abgekoppelt war und auf Eingaben nicht reagierte. Die Dorset flog jetzt vollautomatisch. Die Scanner tasteten den Raum auf mögliche Objekte ab und im Fall einer drohenden Kollision würde der Autopilot die nötigen Ausweichmanöver veranlassen. Erst wenn diese zu irreversiblen Kursänderungen führen sollten, würde die Mannschaft aus dem Tiefschlaf geweckt. Das Logbuch wickelte den Funkverkehr mit der Leibniz, die inzwischen fast eine Lichtstunde entfernt war, und mit der Zentrale auf Luna ab, zu der die Signale mehr als zwei Stunden unterwegs waren.

»Ich habe noch eine Erklärung abgefasst; willst du sie durchsehen, bevor ich sie an die Propagandaabteilung überspiele?«

Silesio schloss seine Dateien. Zwei Monitore erloschen, auf dem dritten erschien die Pressemitteilung, die auf intelligente Art in schlichten Worten, die auf den durchschnittlichen Zeitungsleser berechnet waren, die bisherigen Beobachtungen unter optimistischen Prämissen zusammenfasste und die Mission der Dorset erläuterte. Das Opak wurde lediglich als extrem lichtschwaches Objekt angesprochen, die Kapriolen seiner oszillierenden Bahn wurden verschwiegen. Die Möglichkeit, dass es sich um ein Artefakt handeln könnte, wurde hingegen gar nicht erst angesprochen, um der schwelenden UFO-Panik jegliche Nahrung für hysterische Spekulationen zu entziehen. Carlssen sah das trockene Schriftstück durch und tippte dann sein Passwort unter die Sendegenehmigung. Eine Millisekunde später waren die paar Kilobyte verschlüsselt und übermittelt.

»Und du willst wirklich wach bleiben?«

Er hatte sich wieder erhoben und sah aus der Frontscheibe. Jupiter, dem sie sich jeden Tag um dreißig Millionen Kilometer näherten, war nach wie vor ein rostroter Punkt.

»Ich wüsste nicht, wo ich bessere Arbeitsbedingungen hätte. Vier Wochen lang völlig ungestört, zudem noch die gesamten elektronischen Kapazitäten der Dorset zu meiner alleinigen Verfügung. Außerdem sind die Übertragungswerte allmählich so, dass sich der Zugriff auf die terrestrischen Bibliotheken wieder zu lohnen anfängt.« Er ließ beiläufig ein Verzeichnis über den Schirm scrollen, das die philosophischen Enzyklopädien anzeigte, die gerade für ihn von den zentralen Speichern auf Luna III geladen wurden.

»Ich habe das einmal gemacht.« Carlssen wandte den Blick nicht von dem stoffleeren Panorama, dem sein Schiff lautlos entgegenstürzte. »Auf der Leibniz bin ich nach der Startphase noch wach geblieben. Ich habe gelesen und Musik gehört, Briefe nach Hause geschrieben, von denen ich wusste, dass sie erst nach Jahren beantwortet werden würden; ich bin durch die kilometerlangen menschenleeren Gänge gewandert und habe zugesehen, wie die automatischen Schirme die Wände mit den Reflexen ihrer selbstgenügsamen Protokolle bewarfen. Irgendwann war ich so ausgehöhlt von Einsamkeit und Verlassenheit, dass ich es nicht mehr aushielt. Da hab ich mich lieber in die Koje gepackt.«

»Die Einsamkeit ist eine große Macht.« Silesio bestätigte den Bootbefehl für ein begriffsgeschichtliches Kompendium, das daraufhin in einen seiner persönlichen Kataloge kopiert wurde. Dann schaltet er den Monitor ab. »Vor allem hier draußen, wo es wenig sinnliche Anhaltspunkte gibt. Der menschliche Geist erträgt das nicht lange. Dabei bewegen wir uns innerhalb eines exakten Koordinatennetzes. Wir wissen genau, wohin wir fliegen. Ich frage mich ja immer noch, wie Magellan die hunderttägige Pazifikdurchquerung, bei der er ins völlige Nichts hinaussegelte, überstanden hat, ohne wahnsinnig zu werden.«

»Der Christ hat immer noch seinen Gott, der hinter ihm steht.« Carlssen wischte ein gestisches »Oder so ähnlich« mit der Linken über die flüstergrünen Anzeigen.

»Nietzsche, gewiss.«

Carlssen fragte sich, warum Silesio sich die ganzen Bibliografien und Lexika herunterspulte, da er doch selbst ein wandelndes Nachschlagewerk war.

»Als junger Mann war ich viel in den Bergen unterwegs, und das vorzusgweise allein. Die Zentralalpen oder der Hohe Kaukasus waren dabei die pathetische Kulisse meiner Grübeleien und ich berauschte mich an meiner zarathustrischen Einsamkeit. In den Semesterferien und zu Beginn meiner Laufbahn als Systemprogrammierer in der Abteilung für Künstliche Intelligenz bei Corporated Challenges machte ich mich frei, sowie es irgend ging, und fuhr in die Berge, um mir die Gedanken von der Seele zu laufen und hunderte und tausende von Stunden meines elektronischen Diktafons zu besprechen. Ich habe bis heute, obwohl das nach Erdzeit über achtzig Jahre her ist, nicht alle Aufzeichnungen transkribiert, geschweige alle Ideen und Projekte ausgeführt. Als ich Abteilungsleiter für KI wurde, war es damit so ziemlich vorbei, und wenn mir mal ein halber Sonntagnachmittag zur Verfügung stand und ich einen Spaziergang rund um das Firmengelände machte, träumte ich davon, wie Cervantes eingesperrt zu werden und jahrelang nur meinen literarischen und philosophischen Visionen leben zu können. Jetzt bin ich nach relativer Lebenszeit fast siebzig und ich gedenke, jede Möglichkeit, die sich bietet, zu erfassen und in otium cum dignitate zu verbringen.«