Loe raamatut: «"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"»
Meinhard Saremba
»… es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!«
Clara Schumann, Johannes Brahms
und das moderne Musikleben
Erste Auflage 2021
© Osburg Verlag Hamburg 2021
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Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-259-3
eISBN 978-3-95510-267-8
»Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen.«
William Faulkner (Requiem for a Nun)
»Warum glückt es dir nie, Musik mit Worten zu schildern? Weil sie, ein rein Element, Bild und Gedanken verschmäht. Selbst das Gefühl ist nur wie ein sanft durchscheinender Flußgrund, Drauf ihr klingender Strom schwellend und sinkend entrollt.«
Emanuel Geibel (Distichen, XXXVII; zitiert nach: Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 3. Auflage, Leipzig 1865, S. ix)
Inhalt
Ein Wort zuvor …
1 Freunde und Feinde fürs Leben (1850–1856)
Erste Annäherungsversuche·Gefangen in Zeit und Raum·In der Welt zu Hause·Ungarn an der Elbe·In der Fremde·Kultur an der Leine·Zwischen Effekt und Sinngebung·Positionsbestimmungen·In der Höhle der Löwen·Unschönes und Erbauliches·Geistige Anregungen·Eine politische Rheinwanderung·Meriten, Musik und Merkantiles·Liebe auf den ersten Ton·Die Bürde der Anerkennung·Der Kampf um die Thronfolge·Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut
2 Lange Schatten (1856–1859)
Ein Chaos von Gedanken·Mündliches nebst Schriftlichem·Schmerzen und Todessehnsucht·Ausweg mit Sinn·Selbstbesinnung und neue Ziele·Eine verschleierte Sinfonie·Kunst mit Etikette·Musikalische Erlustigung und Divertierung·Eine liebenswürdige Freundin
3 Kultur-Kriege (1859–1862)
Künstlerwürde und Disziplin·Schlachtfelder der Intellektuellen·Das Faustsche Dilemma·Wohin soll man sich wenden?·Konkurrierende Avantgarden·Im Auge des Hurrikans·Kunst und Ideologie·Die Affäre Grün und andere Kalamitäten·Wirklich beste Feinde – Gegenschlag mit Vorgeschichte·Paukenschläge und facettenreiche Zwischentöne·Die Ursünde der Moderne·Die Versöhnungs-Falle·Schönes und Gutes
4 Unheiliges, Leidenschaft, Trost (1862–1869)
Fluchtpunkt im Schwarzwald·Wenn es nicht gar so weit voneinander wäre·Der Unfehlbarkeits-Wahn·Treuer Künstlersinn·Zauber der Poesie·Zischen, Zorn und Enthusiasmus
5 Balsam und Gift (1869–1872)
Heirat in die Fremde·Der Kampf geht weiter·Provokationen und Konfrontationen·Die einen weinen, die anderen lachen·Wo wohnt Leben, Hoffnung und Glück?
6 Im Dienste des Dramas (1872–1878)
Zwischen Zukunftssicherung und Unabhängigkeit·Schmerzvolle Erfahrungen·Scharfe Frontlinien·Das neue Heiligtum·Getrennte Wege·Eine künstlerische Notwendigkeit·Klangethik und Zerschlagungsästhetik·Das neue liebliche Ungeheuer
7 Neue Bastionen, neue Konflikte (1878–1882)
Haarige Angelegenheiten·Widerstand gegen Pedal-Gerassel und unedle Kunst·Exorzismus und Weihe·Viel Lärm um Nationales·Sinfonische Konkurrenz·Neue Musik zum Lächeln·Fundamentalismus gegen Humanität
8 Eine intellektuelle Utopie (1882–1887)
Neue Bauten für die Kultur·Kulturpolitiker gegen Glaubenshelden·Die Anführer sterben, die Bewegung lebt weiter·Eine neue Moderne·Spaltung, Reformen und neue Tendenzen·Die sinfonische Tetralogie
9 Das Erbe der Poesie (1887–1891)
Versöhnungsmusik·Besorgniserregende Wende·Wenn’s richtig kracht, ist’s ordentlich·Verborgene Schönheiten entdecken·Ein kulturelles Vermächtnis·Letzte Beifallsstürme
10 Das teuer bezahlte schöne Glück (1891–1897)
Leidenschaft statt Mätzchen·Es wird immer leerer·Das letzte Duell·Finale Plaudereien·Der trauernde Genius·Eine interessante Krankheit
Literaturhinweise und Anmerkungen
Zeittafel
Bildnachweis
Danksagung
Personenregister
Ein Wort zuvor …
Menschen der heutigen Zeit würden sich in der Welt von Clara Schumann und Johannes Brahms nicht zurechtfinden. Die Organisation des Alltags, die Geschwindigkeit der Kommunikation und die Etikette der Epoche wären uns fremd. Und dennoch ist uns das 19. Jahrhundert näher, als viele glauben. Wenn ein Journalist noch im März 2019 die Geigerin Hilary Hahn in einer Schlagzeile als »Prophetin der Extreme«1 tituliert, verwendet er eine der Benennungen, die denen jener Presseschreiber vergleichbar sind, die Clara Schumann einst die (von Liszt eher spöttisch gemeinte) Bezeichnung der hohen »Priesterin« ihrer Kunst verpassten. Manche Biographen wähnen noch im 21. Jahrhundert Brahms’ erstes Klavierkonzert »von finsterer Dämonie erfüllt« oder den Komponisten »mit Dämonen ringend«. Obwohl sie in einer Zeit arbeiten, in der die Wissenschaft noch viel zügigere Fortschritte erzielt als im 19. Jahrhundert, wählen sie schablonenhafte Phrasen über »das Schicksal«, das man »gnädig« walten sehe, und »schicksalhafte« Themengestalten in der Musik.2 Formulierungen dieser Art kamen zweihundert Jahre zuvor auf, als Zeitschriften und Bücher über Musik und Musiker erstmals populär wurden. Der Epoche entsprechend verwendete natürlich auch Clara Schumann derartige Begriffe, wenn sie in ihren Briefen vom »Schicksal der Kinder«3 sprach oder Brahms von »jenen Tagen«, in denen »Großes, Erschütterndes – Erhebendes« geschah.4 Allerdings sollten diese augurenhaft-esoterischen Phrasen heutzutage kein Maßstab mehr für die Betrachtung der Welt sein. Clara Josephine Schumann (1819–1896) und Johannes Brahms (1833–1897) haben im Laufe ihrer über vierzig Jahre währenden Freundschaft sowohl erschütternde als auch erfreuliche Erfahrungen gemacht, die keineswegs von metaphysischen Kräften beeinflusst wurden. Durch persönliche Erlebnisse und ihren Freundeskreis waren sie mit den Grenzen sowie dem Erkenntnisgewinn der modernen Medizin vertraut und sie erlebten die Weiterentwicklungen der künstlichen Lichtquellen von Kerzenschimmer und Gasbeleuchtung über die Petroleumlampe bis zur Glühbirne. Zudem nutzten sie immer fortschrittlichere Fortbewegungsmittel, die dazu beitrugen, lange Distanzen zunehmend schneller zu überwinden. Nicht zuletzt bereicherten sie das sich im Aufbau befindliche Editionswesen. Eine Zeitreise zu ihnen würde man sich dennoch besser nicht wünschen, denn zu fremd wären uns ein Dasein mit eingeschränkten Verkehrsverbindungen oder auch der Möglichkeit, öffentliche Hinrichtungen zu besuchen, ein Leben ohne elektrischen Strom, Telefon und Supermärkte; zu unvertraut die unterschiedlichen Währungen und Zeitzonen in den deutschsprachigen Ländern, die Ausdrucksweisen, Bekleidungsetiketten, Verhaltensregeln und Hierarchien sowie die Art, auf den einzelnen gesellschaftlichen Ebenen zu kommunizieren.
Clara Schumann und Johannes Brahms bewegten sich virtuos durch diese Welt, inmitten eines Mahlstroms von Ereignissen, die sie nur peripher mitgestalten konnten, aber auf die sie zu reagieren wussten, um den ihnen eigenen Platz zu finden. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten bildeten sich heraus durch ihre Herkunft, Begegnungen mit prägenden Menschen und im Austausch mit ihren Freunden und Feinden. Im Zentrum ihres Wirkens stand für beide immer die Musik: ihre Kompositionen und das Repertoire, für das sie sich als ausübende Künstler engagierten.
Im Laufe ihres für die damalige Zeit überdurchschnittlich langen Lebens waren Clara Schumann und Johannes Brahms unmittelbar an der Entwicklung der Musikszene im 19. Jahrhundert beteiligt – einer Phase, in der sich die grundlegenden Mechanismen und Polarisierungen des modernen Kulturlebens herausbildeten. Beide repräsentieren in der Epoche der zunehmenden Spezialisierung die unterschiedlichen Pole des Konzertlebens: Sie als reproduzierende Künstlerin, er in erster Linie als produzierender Künstler. Die Pianistin Clara Schumann gab das Komponieren nach dem Tode ihres Mannes Robert auf; ohnehin war für sie das für professionelle Komponisten unabdingbare Lesen von Partituren »nicht leicht, dazu brauche ich Zeit«, wie sie an Brahms schrieb.5 Über ihn hieß es in der Presse seinerzeit: »Herr Brahms ist ein besserer Komponist als Virtuos.«6 Beide engagierten sich für von ihnen geachtete Künstler ihrer Zeit. Sie verstanden zudem, dass sie gemeinsam auf den Schultern von Riesen tanzten, deren musikalische Traditionen sie nicht vollends negieren konnten. Deswegen leisteten sie wesentliche Beiträge, um in ihren Konzerten und durch eine rege Herausgebertätigkeit den nächsten Generationen große Musik zu überliefern. Dadurch stellten sie sich bewusst gegen die Kreise der selbsternannten »Neudeutschen Schule« um Brendel, Liszt, Wagner und ihrem Alleinvertretungsanspruch sowie ihrer ideologisch aggressiven, antisemitischen und antiliberalen Ausgrenzungspolitik.
An ihren letzten Wohnorten erlebten Clara Schumann und Brahms noch mit, wie die Opern- und Konzertsäle der Zukunft Gestalt annahmen: Im Oktober 1880 wurde das – heute für Konzerte genutzte – Opernhaus in Frankfurt eröffnet und 1890 lagen in Wien bereits erste Pläne zu einem neuen Haus für Musikfeste vor, das als Mehrzweckbau breite Bevölkerungsschichten ansprechen sollte als Ergänzung zu dem nahe gelegenen traditionsreichen Wiener Musikverein: dem heute nicht minder geschichtsträchtigen Wiener Konzerthaus.
Durch ihre Freundschaft, die ab 1853 unterschiedliche Phasen der Intensität durchlief, standen Clara Schumann und Brahms in einem regen Austausch über private, politische und kulturelle Entwicklungen: Ihre Lebensspanne reicht von Beethoven und Robert Schumann bis zu den ersten Sinfonien von Gustav Mahler, von den Gemälden der Nazarener bis zu Böcklin und den frühen Werken von Klimt, von E. T. A. Hoffmann bis zu Theodor Fontane und Thomas Mann, der in Brahms’ Todesjahr seine erste Novelle publizierte. In dieser Phase veränderte sich auch die Landkarte Europas dramatisch.
Spannender als die Spekulationen darüber, wie weit die Beziehung von Clara Schumann und Johannes Brahms ging, erscheint es mir, ihre Karrieren vor dem Hintergrund der familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zu betrachten. Sie spiegeln die Grundlagen, aus denen sich der heutige ›Kulturbetrieb‹ entwickelt hat. Zu dieser Entwicklung gehören unter anderem die Aufspaltung in ›ernste‹ Musik und Unterhaltungsmusik (zu der Brahms auch Beiträge lieferte), der konfliktreiche Wandel vom Adel zum Bürgertum als Kulturförderer (Clara und Johannes pflegten entsprechende Kontakte und wirkten in beiden Sphären) sowie die Verbesserung der Infrastruktur (die den Zugang zu Kulturveranstaltungen vereinfachte, aber auch bessere Reisemöglichkeiten bot und den beiden heimatlos gewordenen Protagonisten viele Ortswechsel ermöglichte). Hinzu kommen die Herausbildung eines ›Kanons‹ durch vermehrte Rückbezüge auf Künstler früherer Generationen (z. B. Bach-Renaissance, Werkeditionen, Musikbücher unterschiedlichster Art) und die spannungsreichen, teilweise erbitterten Auseinandersetzungen über ästhetische Grundsätze (›Liszt- gegen Schumann-Schule‹, ›Neudeutsche‹ gegen ›Klassizisten‹ usw.). Nicht zuletzt gewinnt damals die Musikpublizistik zunehmend an Bedeutung (was bei der Cliquen- und Meinungsbildung wichtig wird), die Entwicklung von der Selbstorganisation hin zum professionellen Musikmanagement und die Etablierung neuer Orchester, Ensembles und Säle (was auch Folgen für die Gestaltung von Kompositionen hatte).
Für eine differenzierte Betrachtung darf nicht nur allein von Musik die Rede sein. In der Musikwissenschaft und -journalistik ist es leider zur Gewohnheit geworden, bis heute diffamierende Klischees der Kreise um Brendel, Liszt, Wagner & Co. zu übernehmen, das Wirken ihrer Zirkel als das allein seligmachende zu betrachten und andere Strömungen lächerlich zu machen. Erst die zusätzliche Berücksichtigung von parallelen kulturellen und gesellschaftspolitischen Geschehnissen ermöglicht es, Vorkommnisse besser einzuordnen. Es liegt am Leser einzuschätzen, inwiefern die Polarisierungen, denen Clara Schumann und Johannes Brahms ausgesetzt waren, die jeweilige Persönlichkeit prägten, und inwiefern sie Gestalter und nicht Getriebene der kulturellen Entwicklungen wurden. So komplex viele Tendenzen in der Musik, Kultur und Politik des 19. Jahrhunderts waren, ist es dennoch unumgänglich, maßgebliche Entwicklungsstränge zur Verdeutlichung pointiert darzustellen. Der Wink mit dem Zaunpfahl ist nicht nötig, um Parallelen zu den folgenden Jahrhunderten zu verdeutlichen, denn viele Assoziationen drängen sich einfach von selbst auf.
Eine markante Orientierung zur Darstellung der Ereignisse bietet eine Äußerung von Brahms in einem Brief an den Dirigenten Hermann Levi: »Wo man lebt, lebt man alle Verhältnisse mit, und es ist eine Einbildung, wenn man glaubt, sich aussuchen zu können was einem gefällt.«7 Das intensive künstlerische und kulturpolitische Engagement von Clara Schumann und Johannes Brahms führte zu Konflikten: Bedeutsam ist die Diskrepanz zwischen dem Privatleben und dem Mitgestalten des Kulturlebens. Gerade das Familienleben und die enge Freundschaft mit Brahms – »den ich auf Reisen gar zu schwer vermisse« – waren für Clara Schumann »die beste Erholung und Stärkung zu neuen Kämpfen, denn solche sind es vor jedem Concert, wo ich vor das Publikum muß – es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!«.8 Clara Schumanns Aussage trifft durchaus auch auf ihren Freund Johannes Brahms zu, der keineswegs mit der Attitüde des genialischen Künstlers das Rampenlicht suchte, sondern vielfach lieber im Stillen wirkte.
Auch auf die Gefahr hin, einer unbotmäßigen Kumpanei bezichtigt zu werden, ist es zuweilen leserfreundlicher, im Text einfach nur die Vornamen der beiden Protagonisten zu verwenden. Bezüglich des weiblichen Vornamens erscheint es sinnvoll, anstelle der von Robert Schumann bevorzugten deutschen Schreibweise »Klara« durchgehend das von ihr selbst genutzte »Clara« mit »C« zu setzen (es sei denn, in den Quellen steht es anders: in einem Brief aus der Anfangszeit der Freundschaft, als Brahms noch unter dem Einfluss beider stand, schrieb selbst er an Joseph Joachim zunächst von »Frau Clara«, um dann wenige Zeiten später den Namen als »Frau Klara« zu notieren9).
Alle Zitate sind entsprechend der Schreibweise in der Quelle übernommen. Die Patina von Formen wie »demüthig« oder »werth« erinnert stets daran, dass Clara und Johannes keine Menschen von heute sind, sondern ein ferner Spiegel. Im Laufe der Jahre sind umfangreiche Brief- und Quelleneditionen erschienen. Zudem gibt es die Erinnerungen von Zeitgenossen sowie Publikationen von Autoren und Herausgebern wie Joseph Victor Widmann (1842–1911), Max Kalbeck (1850–1921), Richard Heuberger (1850–1914), Berthold Litzmann (1857–1926), Florence May (1845–1923) und Andreas Moser (1859–1925), die Clara, Johannes und ihren Freundeskreis noch persönlich gekannt haben. Selbst wenn ihnen mitunter vorgeworfen wurde, sie hätten manches »beschönigt«, »bearbeitet« oder aus der »bloßen Erinnerung an Gespräche ohne Zeugen« wiedergegeben – beispielsweise traf Litzmann für seine Bücher eine von den Töchtern abgesegnete Auswahl aus Claras Tagebüchern, bevor diese dann von ihnen vernichtet wurden –, so würde der bibelfeste, aber ungläubige Brahms sicherlich sagen: Alles, was in diesen Quellen zitiert wird, ist authentischer als das Alte und das Neue Testament. Und über Kalbeck äußerte Clara gegenüber Johannes, er sei jemand, dem man »vollkommen vertrauen könne«.10 Um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen, bleibt uns immer eine Verbindung von biografischer Wahrscheinlichkeit, Zeugenaussagen und historischen Quellen. Mit ihrer Hilfe kann man einen Blick in den fernen Spiegel werfen.
1Freunde und Feinde fürs Leben (1850—1856)
Erste Annäherungsversuche · Gefangen in Zeit und Raum · In der Welt zu Hause · Ungarn an der Elbe · In der Fremde · Kultur an der Leine · Zwischen Effekt und Sinngebung · Positionsbestimmungen · In der Höhle der Löwen · Unschönes und Erbauliches · Geistige Anregungen · Eine politische Rheinwanderung · Meriten, Musik und Merkantiles · Liebe auf den ersten Ton · Die Bürde der Anerkennung · Der Kampf um die Thronfolge · Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut
Ich kann es mir wohl denken, daß Leute, die mich nicht kennen, mich für exaltiert halten können.11
Clara Schumann
Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann.12
Johannes Brahms
Erste Annäherungsversuche
Es ist nicht zuverlässig überliefert, ob der 16-jährige Johannes Brahms die Konzerte der 30-jährigen Clara Schumann besuchte, als sie im März 1850 in seiner Heimatstadt Hamburg gastierte. Für ihn war es nicht die erste Gelegenheit, die berühmteste Pianistin Europas – damals gleichbedeutend mit der ganzen Welt – zu erleben. Als sie 1835 und 1837 in der alten Hansestadt auftrat, war er noch zu jung; aber 1840 und 1842 hätte sich bei einer ihrer Tourneen in Norddeutschland durchaus die Gelegenheit geboten. Johannes war den Umgang mit Musikern von Jugend an gewohnt: Er selbst hatte bereits von seinem Vater den ersten Geigenunterricht erhalten, bevor er ab seinem siebten Lebensjahr Klavier spielte. Einer der Größten ihrer Zunft unmittelbar zu begegnen, war für viele angehende Künstler eine gewaltige Inspiration. Johannes stammte wie Clara aus einer Musikerfamilie, allerdings keiner wohlhabenden. Sein Vater war zwar mittlerweile vom Unterhaltungsmusiker an der Alster zum Kontrabassisten im Orchester aufgestiegen, dennoch wären Eintrittskarten wahrscheinlich zu kostspielig gewesen. Schon als Jugendlicher war Johannes zu stolz, seine Verbindungen in Musikerkreisen zu nutzen, um Freikarten zu ergattern – ein Grundsatz, dem er sein Leben lang treu blieb. Den Kompositionen Robert Schumanns, die Clara immer wieder in ihre Programme einschmuggelte, stand er damals äußerst skeptisch gegenüber. Seine sieben Jahre ältere Jugendfreundin Louise Japha, die er beim Klavierüben in der Pianofortefabrik Schröder in der Katharinenstraße kennengelernt hatte, schwärmte ihm von den fantasievollen, poetischen Klavierstücken des in Zwickau geborenen Sachsen vor. Doch der von dem Hamburger Komponisten und Pädagogen Eduard Marxsen geschulte Johannes fand keinen Zugang zu den in Klavierkapriolen flirrenden Papillons und Carnaval. »Bach und Beethoven waren seine obersten Götter«, erinnerte sich Louise Japha, »meine Schumann-Schwärmerei konnte er nicht teilen. Als ich ihm eines Tages entzückt Paradies und Peri und den schönen Anfang des ersten Peri-Gesanges ›Wie glücklich sie wandeln, die seligen Geister‹ zeigte, wies er das kurz ab mit der Bemerkung, es sei unrichtig, mit dem Septimenakkord anzufangen.«13
Als Lehrmeister war Eduard Marxsen für Johannes ebenso bedeutsam wie Friedrich Wieck für seine Tochter Clara. Marxsen bewunderte nicht nur die Klassiker, sondern schätzte zudem die Musik von Franz Schubert außerordentlich. Er besaß einen weiten Horizont und beschäftigte sich auch mit sinfonischen Arbeiten.14 Als Johannes fünf Jahre nach Louise Japha dann 1843 erstmals selbst vor Publikum auftrat, bestand sein Repertoire aus dem Klavierpart in Beethovens Bläserquintett op. 16 und einem der beiden Mozartschen Klavierquartette; hinzu kam als einziges Stück eines zeitgenössischen Künstlers eine Etüde von Henry Herz, einem komponierenden Klaviervirtuosen, dessen Werke auch Clara bis in die 1840er-Jahre in ihrem Repertoire behielt. Für Robert Schumanns Geschmack war Musik dieser Art zu seicht, Clara hingegen sah als Interpretin auch in der leichteren Muse eine Herausforderung, zumal sie selbst gelegentlich Präludien und Fugen, Tänze, Variationen, Piècen und Romanzen komponierte.
Als angehende Pianistin wollte sich zumindest Louise Japha im Frühjahr 1850 das Hamburger Gastspiel Clara Schumanns nicht entgehen lassen. Möglicherweise nutzte sie eine der Soireen im Rahmen des Besuchs, um die namhafte Künstlerin persönlich darauf anzusprechen, ihrer Ausbildung den letzten Schliff zu verleihen. An dem Abend im Hause des Spiritus Rector des Hamburger Musiklebens, Theodor Avé-Lallemant, mag Johannes die Schumanns persönlich erlebt haben. Allerdings blieb in den spärlichen Berichten unerwähnt, ob er mit seinem Vater oder Marxsen dort war. »Er hatte damals keinen großen Kreis musikalischer Freunde«, versicherte Louise Japha, »war meist auf seinen Lehrer angewiesen und wollte mir nicht glauben, wenn ich ihm versicherte, er gehe einer großen Zukunft entgegen.«15 An Brahms gibt es eine späte Erinnerung der damals siebenjährigen Tochter des Hausherrn, Charlotte Nölting, geborene Avé-Lallemant, die einen flüchtigen Moment schildert: »Er stand verlegen an unserem Flügel, jung wie ein Primaner aussehend, mit langem Haar. Mein Vater hatte ihn Schumann vorgestellt.«16 Da die Beteiligten später nie mehr Bezug auf dieses Ereignis nahmen, muss die Begegnung zu flüchtig gewesen sein, um Eindruck zu hinterlassen. Was hätten die Schumanns auch mit einem fast 17-jährigen Eleven inmitten des gesellschaftlichen Trubels anfangen sollen? Zudem sah Johannes jünger aus und war von seinem Status her kaum mehr als ein höfliches Zunicken wert.
Am Samstag, dem 16. März 1850, fand der erste Auftritt der Gäste beim 78. Konzert der Hamburger Philharmonischen Gesellschaft im Apollo-Saal an der Großen Drehbahn statt. Dies war die regelmäßige Auftrittsstätte, bis 1853 der Conventgarten in der Fuhlentwiete gebaut wurde. Clara Schumann galt als Liebling der Hamburger: Sie hatte sich ihren Ruhm in einer mittlerweile 20-jährigen Pianistinnenlaufbahn erworben und auf den Plakaten seit zehn Jahren den Zusatz »geborene Wieck« einfügen lassen, damit jeder wusste, dass man einen gern gesehenen Gast erlebte. Auf den Namen Schumann war sie indes sehr stolz: »Clara Schumann – oh, welch ein Name wundersüß!«, hatte sie einst ihrem Robert geschrieben.17 In dem wie seinerzeit üblich langen, gemischten Programm spielte sie Mendelssohns Variations sérieuses op. 54 und unterstützte ihren Mann als Interpretin seines Klavierkonzerts. Robert Schumann leitete das Orchester und stellte auch die Ouvertüre zu seiner Oper Genoveva vor, die drei Monate später in Claras Geburtsstadt Leipzig uraufgeführt werden sollte. Seine Musik wurde mehr mit Respekt als Zuneigung aufgenommen. Falls Johannes nicht selbst dabei war, wird ihm Louise von dem Abend vorgeschwärmt haben. Sie und seine Familie ermunterten ihn auch, den Schumanns eigene Kompositionen vorzulegen. Im Hotel der namhaften Gäste am Jungfernstieg gab er ein Bündel mit seinen Manuskripten ab, in der Hoffnung, einen Kommentar, eine Rückmeldung, zumindest eine Empfangsbestätigung zu erhalten. Immerhin weilten die Schumanns längere Zeit in Hamburg. Zwei Tage nach dem großen Konzert gab Clara eine Soiree zusammen mit dem Hafner-Quartett, bei der sie das Klavierquintett ihres Mannes sowie seine Variationen für zwei Klaviere vortrug. Ihr Partner war Otto Goldschmidt, der Gatte ihrer Freundin, der Sopranistin Jenny Lind. Der Opernstar erschloss sich erst ganz allmählich den Liedgesang, aber da die gefeierte Sängerin zumeist mehr Konzertbesucher anlockte als Soloauftritte von Clara – vor allem, wenn sie Roberts Werke ansetzte – traten die beiden Künstlerinnen am 21. und 23. März noch gemeinsam auf.
Von den anregenden Erlebnissen war Louise Japha so begeistert, dass für sie endgültig feststand: Sie musste bei Clara Schumann in Düsseldorf ihre pianistische Ausbildung vervollkommnen. Johannes hingegen war entmutigt: Das berühmte Künstlerpaar ließ das Päckchen mit den Jugendwerken eines Unbekannten ungelesen an den Absender zurückgehen.