Loe raamatut: «Schweizerspiegel», lehekülg 14

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«Das heißt, es trifft mit Recht die maßgebenden Leute und das Publikum», erwiderte Paul. «Das genügt. Und was deine Schützen angeht … ich denke, es waren hier doch zum größten Teil Schützen, die Papa zugejubelt haben?»

«Ach, das tun sie so aus Gewohnheit. Es ist ihnen nicht halb so ernst. Überhaupt, die einfacheren Leute, auch deine sogenannten Bürger, sind gar nicht so problematisch, wie du meinst …»

«An und für sich nicht, das mag sein, im Gegensatz zu ihren Wortführern. Sie sind im Alltagsverkehr scheinbar ganz annehmbare Menschen. Aber sie sind von sehr relativen und zum Teil abgelebten Ideen besessen, und diese Besessenheit macht sie eben fragwürdig. Dazu sind viele von ihnen so borniert, daß sie dich Schuft oder Lümmel nennen, wenn du die Richtigkeit ihrer Überzeugung zu bezweifeln wagst, oder eine Haltung einnimmst, die sie nicht begreifen können. Interessant ist auch, daß der Bürger einen Menschen verabscheut, der seine politischen Anschauungen ändert. Nichts ist engherziger und zugleich komischer als die naive Entrüstung, mit der er den Überläufer ‹Gesinnungslump› nennt. Er hat keine Ahnung von der Relativität menschlicher Meinungen, darum ist er unduldsam …»

«Es gibt auch unter den Bürgern einsichtigere Leute!»

«Natürlich, aber die sind zu zählen und haben wenig Einfluß. Was willst du, wenn sogar ein Nationalrat und Oberstbrigadier so verstockt ist? Warum will Papa nicht verstehen, daß ich über dieses Fest unmöglich einen Bericht in seinem Sinne schreiben kann? Warum ist er nicht imstande, mich ruhig anzuhören und auch mein Wesen, meine Meinung gelten zu lassen? Es wird jetzt zum offenen Bruch kommen, ich werde zur Redaktion hinausfliegen … ach, das ist alles so langweilig, so dumm und hoffnungslos!»

Beide schwiegen eine Weile, dann blieb Paul plötzlich stehen und blickte den Bruder mit einem fragenden Lächeln an. «Du hörst mir so zu und widersprichst ein wenig, aber im Grunde genommen weiß ich nicht, wie du über Papa denkst», sagte er leise.

«Ach, vor Papa liege ich auch nicht auf den Knien, aber … hol’s der Teufel, er ist mein Vater! Im übrigen … ich frage mich, wer recht hat, derjenige, der naiv am Leben teilnimmt, oder der andere, der es kritisiert und ihm ausweicht … Aber das heutige Leben ist im großen und ganzen ja natürlich saublöd. Es ist nichts los, man trottelt so dahin und fährt ab. Die einen haben Ehrgeiz, die andern Weiber. Und wozu das alles? Ha, man soll nur fragen! Und es wird so weitergehen, es wird sich auch in Zukunft nichts ereignen, das wert wäre, erlebt zu werden. Zum Kriege wird es ja nicht kommen, das wäre viel zu ungewöhnlich und würde nur die Geschäfte stören. Wir sind endgültig am Versumpfen und verbitten uns alle Aufregungen.»

«Aber wir müssen zu erkennen suchen, woran es liegt», erwiderte Paul. «Wenn wir die Zustände durchschauen, ihre Ursachen feststellen und die notwendigen Änderungen angeben könnten …»

«Was wäre damit erreicht? Die Unzufriedenen versuchen das doch alles, und das Heer der Zufriedenen winkt hohnlächelnd ab. Nichts zu machen! Ja, wenn die Wahrheit mit Ohrenmarken gezeichnet wäre! Aber welche von den tausend Wahrheiten, die heute verkündet werden, ist die Wahrheit? Du bist ja auch einseitig! Du schiebst jetzt alles auf das Bürgertum, aber es ist noch lange nicht erwiesen, daß die Sozialdemokraten oder gar ein paar Intellektuelle es besser machen würden. Es muß irgendwie an der Zeit liegen, am gegenwärtigen Stand der allgemeinen Entwicklung – wenn es nicht an uns selber liegt. Papa, Stockmeier, Onkel Robert, Hartmann, Christian und Ungezählte ihresgleichen sind mit dieser Zeit ja zufrieden …»

Sie gerieten in die Nähe der Festhütte, in der eine Gruppe wohlgelaunter Schützen auffällig lärmte, und stießen auf einen beduselten jungen Mann, der vor ihnen stehenblieb und, mit beiden Armen dirigierend, das Rütlilied gröhlte. Da kehrten sie wieder um und suchten eine stillere Gegend auf. Sie setzten das Gespräch fort, aber sie kamen zu keinem Schluß und sahen kein Ende ab. Fred besaß weder Pauls kritischen Intellekt, noch Christians dumpfe Zuversicht, er stand zweifelnd in einer ungewissen Mitte. Paul konnte ihm nicht helfen, er hatte selber keinen Boden unter den Füßen. So waren denn beide recht übel dran, aber es ging zu dieser Zeit freilich noch Tausenden so. Die meisten wachen und vorurteilslosen jungen Leute ihrer Generation befanden sich in einer ähnlichen Lage, sie waren beunruhigt, sie spürten, daß etwas nicht mehr stimmte, aber sie versuchten umsonst, dieses schwer entwirrbare Geflecht des Lebens zu durchschauen. –

Indessen hatte sich der Nationalrat in der Festhütte eine dicke Zigarre angebrannt und mit drei Tischgenossen zu jassen begonnen. Auch unter andern Ehrengästen waren friedliche Kartenspiele im Gang. Nach etlichen «Schiebern» aber standen Ammann und der Regierungsvertreter auf, um sich nun den Schießbetrieb anzusehen, wie man es von ihnen erwartete. Sie wandelten, von zwei Komiteepräsidenten begleitet, wohlwollend durch den Stand, verweilten da und dort ein wenig und kehrten schließlich in die Hütte zurück, wo sie einig wurden, nach dem Ehrenwein nun auch den einheimischen Festwein zu versuchen. Onkel Robert, Meister Eckert und verschiedene andere Gäste gesellten sich zu ihnen. Sie kamen auf die Weltlage zu sprechen.

Da erschien der Festwirt am Tisch und bat mit ehrerbietiger Miene den Herrn Nationalrat ans Telefon. Ammann stutzte einen Augenblick, dann stand er gelassen auf und ging in die Telefonkabine.

Severin meldete sich. «Guten Tag, Papa!» sagte er. «Die englische Flotte wird mobilisiert …»

«Was!?» rief Ammann ungläubig.

«Jawohl! Angeblich aus Gründen der Vorsicht. Ferner wird amtlich die Mobilisation russischer Streitkräfte mitgeteilt …» Severin wartete drei Sekunden, dann, als Ammann nichts dazu bemerkte, fuhr er fort: «Außerdem sind indirekte Meldungen über die Anordnung der Mobilisation in Deutschland und Frankreich erschienen …»

«Unsinn!» rief Ammann.

«Kann sein», erwiderte Severin ruhig. «Paris hat dementiert und von Berlin liegt eine amtliche Bestätigung nicht vor … Hallo, hallo, Fräulein, ich spreche ja, was läuten Sie denn? Warten Sie doch, bis ich … Schweinerei …! Bist du da, Papa? Schön, das ist alles! Entschuldige, bitte, die Leute hier werden nervös.»

Ammann versetzte mit diesen Nachrichten den Kreis seiner Tischgenossen in die lebhafteste Erregung, obwohl er sich selber dabei so ruhig wie möglich benahm. Im Verlaufe des nun folgenden Gespräches aber, das von diesen friedsamen und vernünftigen Männern mit mehr oder weniger bestürzter Miene geführt wurde und ansteckend durch die ganze Hütte wirkte, empfand er ein wachsendes Mißbehagen. Er saß hier untätig in der abgelegenen Festhütte, während man jetzt in Zürich, wo jeden Augenblick neue Nachrichten eintreffen konnten, den Pulsschlag der Ereignisse und die allgemeine Stimmung ganz anders zu spüren bekam. Es war dasselbe Gefühl, das in der nächsten Zeit auch den Einsamsten aus der Zelle lockte, den Fleißigsten störte und das Volk in aller Welt auf die Straße trieb. Ein sofortiger Aufbruch schien ihm aber schlecht angebracht und war mit seiner gespielten Zuversicht auch gar nicht zu vereinen.

Da gab ein neuer Vorfall den Ausschlag. Stockmeier kam aus der Telefonkabine gelaufen und suchte, während er mit der Rechten in der hinteren Hosentasche nach dem Geldbeutel grübelte, hastig die Kellnerin auf. Er bezahlte, fand nach einigem Hin und Her seinen Hut, den richtigen Regenschirm, und dachte offenbar an nichts anderes mehr als so rasch wie möglich den Bahnhof zu erreichen.

«He, Herr Stockmeier, was ist los?» rief Ammann.

«Ah, Herr Oberst … eh, bitte entschuldigen Sie», antwortete er aufgeregt und kam eilig herbei, «ich muß sofort heim, man hat mir telefoniert … also das sei ja … die Leute haben ja keine Vernunft …» In abgerissenen Sätzen erzählte er rasch, in seinem Lebensmittelgeschäft habe ein außerordentlicher Andrang eingesetzt, jedermann kaufe soviel man ihm nur gebe, die Vorräte an Reis, Zucker und Teigwaren seien bald erschöpft, das Ladenpersonal wisse nicht, wie es sich verhalten solle, und Leo, sein Sohn, sei in der Unteroffiziersschule, kurz, er müsse schleunigst nach Hause.

Ammann und der Regierungsvertreter entschlossen sich daraufhin, den nächsten Zug nach Zürich zu benützen. Vom Krämer begleitet, der sich immer wieder in Ausrufen, Fragen und Prophezeiungen Luft machte, fuhren sie wortkarg mit verschlossener Miene zum Bahnhof.

11

Die Schweiz, die bis zu diesem Augenblick von allen Nachbarländern als Durchgangsstraße oder Treffpunkt benützt worden war, mit der gesamten Umwelt in naher geistiger und wirtschaftlicher Verbindung gestanden und den Pulsschlag des europäischen Zusammenlebens in den eigenen Adern gespürt hatte, dieses von vier mächtigen Staaten umgebene Land besaß für die anbrechende allgemeine Erschütterung eine Empfindsamkeit ohnegleichen und erlebte sie mit jedem Nerv seines Daseins. Zur Angst um das eigene Land trat hier die Angst um das Ganze. Die deutsch, französisch, italienisch und rätoromanisch sprechende kleine Staatenfamilie, die ihre getrennten verwandtschaftlichen Neigungen zu den benachbarten Sprachgenossen besaß, mußte zusehen, wie diese Nachbarn sich anschickten, miteinander auf Tod und Leben zu ringen; sie erkannte, daß damit ein Grundgedanke der Eidgenossenschaft, der zur europäischen Idee berufen schien, brutal verneint wurde.

Bei den gerüsteten Völkern schlug diese Angst um das Ganze, wo sie etwa entstehen mochte, rasch in einen elementaren nationalen Willen um. Die Schweiz konnte nicht angreifen, sie konnte nur angegriffen werden, und es mußte sich erst zeigen, ob auch hier ein geschlossener Wille der allgemeinen Gefahr tatkräftig genug begegnen würde. Noch während sie erschrocken nach allen Himmelsrichtungen über die Grenzen blickte, wurde sie schon von Versuchungen angefallen, die ihre eigene Grundlage bedrohten und jenen eidgenössischen Gedanken der schwersten Prüfung aussetzten.

Die Entwicklung der Dinge jagte das Volk im Verlauf dieser Tage durch alle Grade der Spannung, der Angst, der Hoffnung und des Abwehrwillens, wobei jeder einzelne auf seine besondere Art antwortete, und von der engherzigen Selbstsucht bis zur Opferbereitschaft, von der Verzweiflung am Menschen bis zum Weltvertrauen keine mögliche Haltung fehlte. Das sichtbarste öffentliche Zeichen des erschütterten Gleichgewichts war zunächst der Andrang zu den Banken und Lebensmittelgeschäften, der in den Städten am Donnerstag begonnen hatte und am Freitag früh wieder einsetzte. Über die Tragweite dieser Erscheinung machte sich das Publikum vorläufig keine Gedanken, obwohl die Folgen rasch zutage traten.

Stockmeier ärgerte sich schon vor dem Frühstück am Telefon über die Lieferanten, die seine Bestellungen nur mehr unter Vorbehalten entgegennahmen. Er sah den regelmäßigen Gang seines Geschäftes gefährdet und ersuchte seinen Sohn Leo telegrafisch, sofort Urlaub zu verlangen und in einer dringenden Angelegenheit heimzukommen. Leo sollte zu den Lieferanten reisen, um die Abschlüsse persönlich zu sichern. Bevor er das Geschäft öffnete, erhöhte er die Preise aller Lebensmittel. Seinen Fuhrknecht und Magaziner, einen braven, starken Mann vom Lande, stellte er als Ordner und Überwacher an den Ladentisch. Gegen neun Uhr vertauschte er seinen Leinenkittel hastig mit dem guten Rock, stülpte den Hut über die Glatze und fuhr im nächsten Tram zur Kantonalbank. Er achtete nicht auf das Gespräch, das rings um ihn geführt wurde, sein Gesicht zeigte einen entschlossenen, feindseligen Ausdruck, seine dünnen Lippen bildeten nur noch eine schmale Linie.

Aus der Vorhalle des Bankgebäudes zog sich eine Menschenkolonne dicht gedrängt bis vor die Schalter, aber Stockmeier zögerte keinen Augenblick, sondern lief behend in das Ende der Kolonne hinein und begann sich geschäftig Bahn zu machen. Die Leute blickten ihn erstaunt an und versuchten fragend oder murrend ihren Platz zu behaupten, aber seine Entschlossenheit übte eine gewisse einschüchternde Wirkung aus; man sagte sich, dieser eilige Mann könne wohl nur ein Beamter sein, der unbedingt durchkommen müsse. Auf halbem Wege fand er jedoch zunehmenden Widerstand. Neben ihm begann ein großer, gebrechlich aussehender Mann entrüstet vor sich hin zu reden. «Es gibt doch immer wieder Leute, die keine Vernunft annehmen wollen», sagte der Alte, wobei er geflissentlich vermied, den Störenfried anzusehen. «Was sind denn das für Manieren! Wir haben alle die gleichen Rechte …» Stockmeier blickte ihn verächtlich an und suchte sich weiterzuwinden, wurde nun aber von allen Seiten zurechtgewiesen: «He, nicht drängen! Seien Sie doch vernünftig! Wir müssen auch warten …» Plötzlich öffnete Stockmeier aufgeregt den Mund zur Verteidigung: «Aber ich kann nicht warten, nicht wahr, das ist ein ganz anderer Fall, bitte, machen Sie Platz!»

«Laßt ihn durch, er will Geld anlegen!» rief ein Spaßvogel, worauf dem Krämer der Weg endgültig versperrt wurde. In unruhiger Haltung und mit aufgeregter Miene blieb Stockmeier stecken, wütend über diese unvernünftige Zusammenrottung, die einen aufrechten Bürger daran hinderte, rechtzeitig sein ehrlich verdientes Geld abzuheben.

Indessen hielt der Zudrang zu seinem Geschäfte unvermindert an. Denjenigen Kunden, die sich vom Gespenst einer Hungersnot nicht ängstigen ließen und ihre üblichen Einkäufe besorgen wollten, blieb nichts anderes übrig, als sich geduldig der wartenden Menge anzuschließen. Frau Barbara, die von ihrem Fenster aus zusehen konnte, wie immer neue Menschen mit Körben und Netzen daherkamen, entschloß sich, über die Mittagszeit persönlich beim Krämer das Nötige zu bestellen. Gegen zehn Uhr wurde sie von ihrer Schwiegertochter Anna, der Frau Severins, telefonisch gebeten, ihr doch bei Stockmeier ein paar Pfund Mehl zu kaufen; sie werde es sofort abholen lassen.

«Ja, du hast gut reden, das ist nicht so einfach», erwiderte sie. «Vor Mittag kommt man überhaupt nicht dazu. Aber wenn du es notwendig brauchst … ein Pfund kann ich dir geben.»

«Nein nein, Mama, danke!» antwortete Anna und erklärte dann zögernd: «Ich dachte nur … weil ihr doch die Handlung im Hause habt … du könntest vielleicht … es ist doch überall ein so furchtbarer Andrang …»

Frau Barbara kam ihr nicht zu Hilfe, sie wartete schweigend mit unwilliger Miene.

«Es kauft alles ein», fuhr Anna etwas unsicher fort, «man weiß ja gar nicht, was man tun soll … mein Gott, Mama, du wirst doch auch vorsorgen?»

«Fällt mir gar nicht ein!» entgegnete sie und fragte ohne weitere Erklärung nach den Kindern.

Anna gab eilig Auskunft, entschuldigte sich und brach die Verbindung ab. Sie war am gestrigen Abend ahnungslos in eine Lebensmittelhandlung getreten und von der aufgeregten Stimmung der vielen wartenden Frauen in wenigen Minuten dermaßen angesteckt worden, daß sich seither ihr ganzes und ausschließliches Bestreben auf die Versorgung ihrer Familie gerichtet hatte. Sie ließ sich von der Schwiegermama in diesem Bestreben nicht irre machen und kaufte weiter, soviel sie nur schleppen konnte.

Um Mittag kam ihr Mann von der Redaktion nach Hause. Er betrat wie gewöhnlich mit einem Gefühl der Entspannung die saubere, peinlich aufgeräumte Wohnstube, die sich den ganzen Morgen in greulicher Unordnung befunden hatte, und nahm seufzend am oberen Ende des gedeckten Tisches Platz. Die Kinder hatten sich versammelt. Die Mädchen Urseli, Bethli, Hedi, im Alter von sieben, sechs und vier Jahren, warteten aufmerksam und etwas ängstlich darauf, daß Papa sie ansprechen würde. Sie waren von ihm dazu erzogen worden, in der Gegenwart erwachsener Leute nicht vorlaut zu sein, nur zu reden, wenn sie angesprochen wurden, und ordentliche Antworten zu geben.

«So, Bethli», begann Papa mild, «was habt ihr am Morgen getrieben?» Bethli kam rasch ein paar Schritte näher und ließ die Antwort, die in ihrem Köpfchen für alle Fälle bereitgelegen hatte, frisch und deutlich los. Papa schien sich für diesmal damit zu begnügen, und da nun die Suppe aufgetragen wurde, befahl er die ganze Gesellschaft zu Tisch. Der dreijährige Ueli aber hatte sich inzwischen unbemerkt ins Nebenzimmer zu seinem einjährigen Brüderchen geschlichen und ihm den Gummifrosch weggenommen, mit dem er nun johlend zurückgelaufen kam. Sofort stürzte sich seine älteste Schwester Urseli auf ihn und wies ihn heftig zurecht, wobei sie im Bewußtsein ihres lobenswerten Eifers immer wieder zu Papa hinblickte.

Im Verlaufe des Mittagessens begann sich Anna ungewohnterweise nach der Lage zu erkundigen und führte ein paar der umlaufenden Gerüchte an. Severin, der bei seiner Frau nie ein Interesse an öffentlichen Dingen wahrgenommen hatte und seine eigene Tätigkeit, für die er ihr das nötige Verständnis nicht zutraute, nur selten erwähnte, bedachte sich eine Weile und gab dann im Bestreben, dieser erwachenden Anteilnahme entgegenzukommen, bereitwillig eine so ausführliche und klare Antwort, daß Anna sich wunderte.

«So glaubst du, daß es Krieg geben wird?» fragte sie ängstlich.

«Ja, also wie gesagt, jetzt sind überall diplomatische Besprechungen im Gang, und die Lage scheint sich eher etwas zu bessern. Scheint, verstehst du. In Wirklichkeit hat Deutschland heute morgen etwas sehr Entscheidendes getan, nämlich die Ausfuhr von Getreide, Mehl, Fleisch und andern lebensnotwendigen Artikeln gesperrt, das heißt …»

Das längliche stille Gesicht der Frau nahm während dieser Belehrung einen zunehmenden Ausdruck erschrockener Spannung an.

Die kleine Hedi begann plötzlich laut zu weinen.

«Was ist mit dir los?» fragte Severin.

Hedi konnte nicht antworten, sie weinte laut und fassungslos vor sich hin. Die übrigen zwei Mädchen rückten ein wenig von ihr weg und blickten erschrocken auf Papa.

«So so so!» rief Severin streng, schaute die Kleine eine Weile schweigend an und setzte dann seine Erklärungen fort, worauf Hedi sich schluchzend beherrschte.

Nach dem Essen zog sich Severin wie gewöhnlich für eine halbe Stunde zurück, und während dieser Frist herrschte in der Wohnung eine vollkommene Ruhe. Als er wieder erschien, bat ihn seine Frau in die Küche und zeigte ihm die Vorräte, die sie angelegt hatte, Teigwaren, Mehl, Zucker, Konserven, eingemachte Früchte, Reis, Dauerwürste. Er betrachtete das Lager mit verschlossener Miene, sagte kein Wort dazu und nahm mit einem Blick auf die Taschenuhr eilig Abschied. Von der Redaktion aus jedoch verbot er ihr dann unerwartet jede weitere Anhäufung von Lebensmitteln. «Ich will es nicht haben!» sagte er einfach.

Als aber Anna kurz darauf unruhig die Straße betrat und inmitten der allgemeinen Erregung den fortlaufenden Andrang geängstigter Frauen zu den Lebensmittelgeschäften gewahrte, verlor Severins Verbot in ihren Augen jedes Gewicht. Sie liefin die Wohnung zurück und eröffnete sogleich einen neuen Beutezug, indem sie Urseli und das Kindermädchen nach verschiedenen Geschäften abschickte. Sie beschloß, die aufgestapelten Waren in der Dachkammer zu verbergen und trug selber den ersten Handkorb voll hinauf. Nach ihrer Rückkehr schlichtete sie eilig einen Streit zwischen Hedi und Bethli, die sich in den Haaren lagen, dann füllte sie den Korb wieder mit Büchsen, Säcken, Schachteln und machte sich zum zweitenmal auf den Weg, leise und heimlich, um von den übrigen Hausbewohnern nicht bemerkt zu werden, gerötet vor Eifer, mit ängstlich besorgter Miene und mit der instinktiven Geschäftigkeit eines Muttertieres, das kein Mittel verschmäht, um die Seinen durch Not und Elend hindurch zu retten.

Die erste Nachricht, die Severin auf der Redaktion von Schmid übernahm, betraf die Pikettstellung der schweizerischen Armee, das Aufgebot von Landsturmtruppen und die Ausfuhrsperre von Pferden, Motorfahrzeugen, Benzin, militärischen Apparaten, Getreide, Mehl und Hafer. Er schrieb sofort einen Kommentar dazu, in dem er ausführte, daß diese Maßnahme noch keine Mobilisation bedeute, sondern lediglich die Bereitschaft dazu herbeiführe.

Schmid durchflog mit begierigen Blicken einen Stoß ausländischer Blätter und schnitt von Zeit zu Zeit eine Meldung heraus oder warf Notizen auf ein Blatt Papier, bald mit schiefem Kopf, um vom Rauch der Zigarette nicht belästigt zu werden, bald mit der Zigarette zwischen zwei gelben Fingerspitzen. Als der Ausläufer mit neuen Nachrichten kam, schob er die Zeitungen beiseite und las hastig die Agenturstreifen. «Hallo, Herr Doktor, allgemeine russische Mobilisation!» rief er laut und fröhlich.

«Schon wieder?» fragte Severin und kam aus seinem Büro herüber.

«Allgemeine! Amtlich! Das haben wir noch nicht gehabt», entgegnete Schmid. «Und hier bitte … oho, jetzt gilt’s, in Frankreich bereitet man sich auf die Mobilisation vor …»

«Woher kommt das? Zeigen Sie!»

«Das scheint zuverlässig. Und sonst … Donnerwetter, jetzt passen Sie auf, meine Herren!» Langsam erhob er sich, den Blick auf einer neuen Meldung, die er nun freudig gespannt vorlas: «Von Berlin. ‹Der Kaiser hat das Deutsche Reich in Kriegszustand erklärt.› Das ist ausgezeichnet! Hören Sie, wir machen ein Bulletin. Wir können damit noch vor den Abendblättern herauskommen. Ein Bulletin mit diesen drei Nachrichten, für zehn Rappen. In einer halben Stunde ist die ganze Auflage abgesetzt. Morgen ist das schon alles veraltet, und Neuigkeiten sind noch genug zu erwarten …»

Severin bedachte sich einen Augenblick, während Schmid angeregt weitersprach, dann blickte er auf die Uhr, stellte eine flüchtige Berechnung an und entschied sich plötzlich. «Gut! Ordnen Sie das sofort an!» Schmid verschwand, Severin ging eilig in sein Büro zurück.

Nach einer Weile kam Schmid wieder angestürmt und warf die Türe krachend zu. «Jetzt bekommt die Geschichte Zug!» sagte er im Vorbeigehen und blickte dabei den Volontär Paul so unternehmungslustig an, als ob sich die erfreulichsten Dinge vorbereiteten. «Das Bulletin wird einen reißenden Absatz haben. Und die nächste Nummer bringen wir in großer Aufmachung. Mit der Morgenpost erhalten wir Stoff, daß die Leute das Blatt fressen werden, passen Sie auf!» Bei diesen letzten Worten saß er bereits an der Schreibmaschine und begann mit seinen magern Fingern auf die Tasten zu schlagen.

Paul, der Nachrichten aus dem «Temps» übersetzte, zog mit einem bestürzten Lächeln die Brauen in die Höhe. Obwohl er Schmid genau kannte, wunderte er sich nun doch über ihn. Dieser Erzjournalist schien von den bevorstehenden Ereignissen persönlich durchaus nicht berührt zu werden, sondern sie nur als großartigen Zeitungsstoff zu betrachten; die Möglichkeit, dem Publikum als erster eine wichtige Nachricht vorzuwerfen oder damit die Wirkung des Blattes zu erhöhen, war ihm offenbar wichtiger als die Nachricht selbst. Paul begriff diese menschlich unbeteiligte Gewandtheit dem Alltag gegenüber, gestand ihr sogar eine erheiternde Verwandtschaft mit einem gewissen künstlerischen Schaffen zu und ließ sie auf hinterhältige Art sehr gern als journalistische Tugend gelten, aber jetzt fand er sie höchst merkwürdig. Er selber war von der Erregung, die der erwachende Sturm in ganz Europa hervorrief, dermaßen gepackt, daß ihn die journalistische Beschäftigung damit vielmehr anzuwidern begann. Von der ersten Bürostunde an hatte er dagesessen und darauf gewartet, daß ihn Severin hinausschmeißen würde, weil er ihm den Bericht vom Kantonalschützenfest abermals schuldig geblieben war. Jetzt fragte ihn schon kein Mensch mehr nach diesem Bericht, man warfihm dafür fremdsprachige Zeitungsausschnitte hin, die den Beginn des Erdbebens verkündeten, und über denen er die Zeit vertrödelte. Ihm stand das Kommende vor der Seele als eine furchtbare und zugleich erlösende Wende, die er nicht für möglich gehalten hätte, als Zusammenbruch einer Epoche und Anfang einer neuen Welt, als ein Geschehen von hinreißender Größe, dessen Erlebnis dem menschlichen Dasein endlich wieder Bedeutung verlieh. Er schätzte sich glücklich, diese Weltstunde miterleben zu dürfen, und erhoffte alles von ihr, was ihm die ruhmlos untergehende Zeit versagt hatte.

12

Severin schrieb gegen Abend, in Erwartung deutscher Zeitungen, die mit der nächsten Post eintreffen mußten, den Anfang eines Artikels über Deutschland, in dem er den Kriegszustand zu rechtfertigen und die dadurch entstandene Lage zu kennzeichnen gedachte. Die Post kam, aber ohne die deutschen Blätter. Er telefonierte nach Basel und erfuhr, daß der Verkehr zwischen Deutschland und der Schweiz im Badischen Bahnhof eingestellt worden sei. Da entschloß er sich, einen gelegentlichen Korrespondenten in Stuttgart anzuläuten und verlangte die Verbindung; das Fernamt teilte ihm mit, daß Deutschland den telefonischen Verkehr auf allen Linien gesperrt habe. Dieser Abbruch von Verbindungen, die immer bestanden hatten, so lang er sich erinnern konnte, zu jeder Stunde und so selbstverständlich wie da draußen die Limmat floß, brachte ihm die tatsächliche Lage unmittelbarer zum Bewußtsein als der wichtigste Regierungsbeschluß. Die Maßnahmen blieben also nicht auf dem Papiere stehen, sondern griffen schon in den Alltag ein, die Nationen schlossen sich ab, die Fäden rissen.

Er begann erregt auf und ab zu gehen, erwog mit einiger Befürchtung die Lage des auf sich allein gestellten Schweizerlandes mit seiner kleinen Armee, deren Kriegstüchtigkeit er heimlich bezweifelte, und bat schließlich die Depeschenagentur, ihm alle weitern Nachrichten schon heut abend von acht Uhr an bereitzuhalten. Er wollte nach dem Abendessen auf die Redaktion zurückkehren.

Paul ging nicht sogleich nach Hause, sondern streifte herum und nahm mit seinem aufgerührten Innern begierig an der fortdauernden allgemeinen Erregung teil. In der Bahnhofstraße schoben sich zwei lockere Menschenströme durcheinander, die Tramwagen gaben unablässig Signale und kamen nur langsam vorwärts, überall sah man Leute, die im Gehen oder Stehen zu zweit und dritt eine Zeitung lasen. Die Nachrichten der Abendblätter wurden von der Masse mit jenem leidenschaftlichen Bedürfnis verschlungen, das keine Befriedigung mehr kennt und sich über das Verbürgte hinaus auf die unsinnigsten Gerüchte stürzt. Die Pikettstellung der schweizerischen Armee, eine unerhörte Tatsache nach so vielen Jahrzehnten des Friedens, steigerte die Erregung und rechtfertigte sie zugleich, aber schon begann sich die aufgestachelte Phantasie des Volkes mit den Gründen zu beschäftigen, die dazu geführt haben mußten. Paul hörte vom Verlangen einer Großmacht, ihren Armeen die Schweiz zu öffnen, vom Selbstmord hoher Offiziere, von Grenzverletzungen, Revolten und erstürmten Banken. Er sah Mienen, die eine panikartige Stimmung, eine stille Fassungslosigkeit oder eine merkwürdige Art von Begeisterung ausdrückten. Von Zeit zu Zeit erschien eine starke Polizeipatrouille, die von der Menge schweigend durchgelassen wurde. Dieser erhöhte Sicherheitsdienst war auf Demonstrationen und Zusammenstöße zwischen einrückenden Russen, Österreichern und radikalen Jungburschen zurückzuführen. Vor den polizeilich bewachten staatlichen Banken standen Gruppen schimpfender Leute, die den Kassenschalter nicht mehr erreicht hatten. Auf allen Straßen und Plätzen, in den Tramwagen, in den Wirtschaften, überall waren die Menschen von den Vorboten des Sturmes dermaßen aufgerührt und verwandelt, wie noch niemand es erlebt hatte.

Paul kam verspätet zum Abendessen, aber diese Verspätung, die ihm sonst einen Verweis eingetragen hätte, wurde jetzt einfach übersehen. Mama fragte ihn nur, mit einem spöttischen Unterton: «Weißt du etwas Neues?» Da er nichts zu berichten wußte, was nicht schon bekannt war, wandte sie sich scheinbar verächtlich von ihm ab und fuhr fort, auf ihren Mann einzureden, was sie offenbar schon eine Weile getan hatte: «Also das will mir nicht in den Kopf. Daß Österreich Serbien angreift, hat einen Grund, wenn auch keinen genügenden, und daß Rußland den Serben beistehen will, ist am Ende auch noch verständlich. Aber warum Frankreich, Deutschland, Italien, England sich auf einen Krieg gefaßt machen sollten, das geht über meinen schwachen Verstand. Was wollen sie denn? Warum reden sie nicht miteinander? Warum stellen sie keine Forderungen? Es sind doch zivilisierte Nationen und keine wilden Tierhorden, die sich nicht verständigen können. Man führt doch nicht Krieg, nur um Krieg zu führen, ein Krieg ist ja etwas Furchtbares, es kann gar nicht genug Gründe geben, um ihn einigermaßen zu rechtfertigen. Warum also, warum?»

Frau Barbara rührte damit an einen Hauptgrund der fast irrationalen Aufregung in diesem ganzen vernünftigen Europa, an das völlig ungewohnte und um so beängstigendere Schweigen, das jede alarmierende neue Meldung wie eine undurchdringliche Wolke umgab.

Ammann, der die Zeitungen, Briefe und Drucksachen auf dem Büffet zusammenraffte und den Weg zum Büro einschlug, machte, ohne zu antworten, mit vorgeschobener Unterlippe verhalten lächelnd, eine unbestimmte Kopfbewegung, womit er sich den Anschein gab, etwas mehr zu wissen als er jetzt zu sagen für gut fände.

«Wenn ein großes Schicksal bevorsteht, fragt man vielleicht umsonst nach den Gründen», bemerkte Paul leise.

Frau Barbara blickte ihn kurz an. «Paperlapap!» sagte sie wegwerfend und erhob sich. «Willst du noch Erdäpfel? Oder Fleisch? Da, nimm doch das noch! Und nachher wirst du wissen, was du zu tun hast!»

Paul schaute sie fragend an.

«Du bist ja ein heiterer Soldat … fällt ihm nicht einmal das ein! Wenn die Armee auf Pikett gestellt ist, wird man, denk’ ich, nachsehen müssen, ob die Ausrüstung in Ordnung ist. Die Uniform hab’ ich dir ins Zimmer gehängt. Den Tornister kannst du selber holen, es wird wohl nicht alles drin sein, was drin sein muß. Und deine Marschschuhe, finde ich, sind nicht mehr heutig, du kannst morgen ein Paar neue kaufen. Fred wird jetzt wohl auch heimkommen.»

Paul hatte noch gar nicht ernstlich daran gedacht, daß er vielleicht einrücken mußte. Dies schien ihm vorerst eine wenig erfreuliche Seite des großen Geschehens, und die in seinem Zimmer aufgehängte, nach Kampfer duftende Uniform erfüllte ihn mit trüben Vorahnungen. Aber es stand nun freilich kein Wiederholungskurs bevor, sondern … ja, wer konnte denn wissen, was den Schweizersoldaten bevorstand! Statt den Ereignissen gegenüber untätig zu verharren, würde man gezwungen werden, mitzuhandeln, mitzuerleben, und das war vielleicht das Opfer des stumpfen Gehorchens wert. Indessen kümmerte er sich nur flüchtig um die Vollständigkeit seiner Ausrüstung, er ging wieder hinaus auf die Straße und schlug den Weg zu Albin Pfister ein.

Tasuta katkend on lõppenud.

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