Loe raamatut: «Schweizerspiegel», lehekülg 7

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Sie rückten mehr gegen die Mitte, Gertrud schloß den Flügel und nahm in einer Ecke Platz. Fred, der den Leuchterschein, in dem sie bis jetzt gespielt hatten, nicht angenehm fand, stellte trotz Severins Bemerkung, man möge doch keine Geschichten mehr machen, die Stehlampe zwischen die Pulte. Während die Spieler ihre Instrumente stimmten, ging er zum Schalter. Einen Augenblick stand noch alles im hellsten Lichte, weiße Möbel aus dem Zeitalter Louis XVI. mit geraden zierlichen Beinen, der kunstreiche, von einem Meister der Dynastie Pfau gebaute Ofen mit den Geßner-Idyllen in zartem Blau und Weiß, die gelbe Seide der Wände, auf der sich in ovalen Rähmchen Schattenrisse von Komponisten abhoben, die unaufdringlich schöne Stuckdecke, dieser ganze wohlgestaltete Raum, in dem ein verehrungswürdiger, von der Umwelt schon überwundener Geist bis heute lebendig geblieben war. Fred drehte das Licht ab, schlich mit scherzhaft übertriebener Vorsicht auf den Fußspitzen zu seinem Stuhl und ließ sich lautlos nieder.

Die Spieler rückten die Stühle zurecht, strichen das aufgeschlagene Notenheft glatt, räusperten sich und saßen nun schweigend da, ein paar gespannte, stille Sekunden lang, die Fred immer besonders genoß. Die hohe Stehlampe mit dem großen goldgelben Schirm strahlte inmitten des dämmernden Salons einen warmen Strom von Licht auf die Gruppe hinab, die Notenblätter leuchteten, die braunen Instrumente schimmerten, auf den andächtig gesammelten Gesichtern lag gedämpft derselbe lebendige Schein, und als die vier Streicher langsam den Bogen hoben, schien es unmöglich, daß nun etwas anderes ertönen könnte als reinste Musik.

Die Anfangsfigur erklang, ein leises, schmerzliches Aufatmen und ergebenes Hinsinken, ein paar Noten nur, die doch das ganze Adagio im Kern zu enthalten scheinen; die erste Geige erweiterte sie zum Thema und sang sie schon heimlich verklärt zum Grundton zurück.

In diesem Augenblick trat Frau Barbara ein. Sie kam aus einer lärmigen Unterhaltung über den schweizerischen Generalstab, die von den zwei Männern unter dem Einfluß des Weines in einem merkwürdigen Wechsel von unnachgiebiger Überzeugung und lauter Fröhlichkeit geführt wurde, während die verlassenen, müde plaudernden Frauen wiederholt mit unterdrücktem Gähnen nach der Uhr geblickt hatten. Sie war über das lange Ausbleiben der Musikanten entrüstet. Mit grollender Miene trat sie ein, entschlossen, dem eigenmächtigen Gebaren ein Ende zu machen.

Gertrud beugte sich erschrocken vor, hob wie zur Abwehr die verschlungenen Hände vor die Brust und schaute Mama flehend an. Fred runzelte mit einem bösen Ausdruck die Stirn.

Frau Barbara warf den ersten Blick auf Gertrud, den zweiten auf Fred, dann stutzte sie, sah nach den Spielern hin und stand, ihren Groll beherrschend, mit gekränkter Miene da. Die Anfangsfigur erklang jetzt wehmütig aufatmend in der Oktave, und gleich darauf begann das allen Schmerz verklärende Singen der ersten Geige.

Frau Barbara setzte sich auf den nächsten Stuhl. Eine Weile saß sie noch sehr aufrecht, aber ihre Miene entspannte sich, und als die Geige das Thema wieder aufnahm, neigte sie mit gesenktem Blick ein wenig den Kopf.

Beruhigt spielten die Streicher den Satz zu Ende, mit aller Hingabe an seine unbeschreibliche Innigkeit und im mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, daß die Seele des Meisters hier zum letztenmal in einem Raume sang, der ihr bei aller Unvollkommenheit der Musikanten doch eine bescheidene Heimat gewesen war.

II

1

Fred erwachte in der neuen Wohnung an der Dufourstraße zur gewohnten Zeit mit schwerem Kopf und einem faden Geschmack im Munde. Sogleich trat ihm das wüste Bild einer Studentenkneipe vor Augen, an der er teilgenommen hatte. «Es ist gewiß schon Mittag», dachte er, blinzelte argwöhnisch in die graue Helle des Zimmers und tastete nach der Taschenuhr. Der Zeiger stand auf sieben. Erschrocken hielt er die Uhr ans Ohr, denn entweder war sie stehengeblieben oder es mußte sieben Uhr abends sein. Die Uhr tickte regelmäßig. Er begann angestrengt darüber nachzudenken, ob es Morgen oder Abend sei, bis er die ihm schon wohlbekannten Geräusche des Milchwagens und den Pfiff des kursmäßig von der nahen Schifflände abgehenden Dampfers hörte. Es war sieben Uhr morgens. Er wunderte sich, daß er trotz seinem Bierdusel so früh erwacht war, aber plötzlich fiel ihm der Grund ein, und in diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Es war die Abschiedskneipe gewesen, an der er aus lauter Freude über den Schluß des Wintersemesters, eines unerquicklichen, sehr zweifelhaften Semesters, sich beinahe betrunken und dabei doch den Entschluß nicht aufgegeben hatte, am nächsten Morgen früh aufs Land zu fahren. Dieser Entschluß hatte ihn geweckt, und der Gedanke an die unmittelbar bevorstehenden Ferientage beim Onkel Robert im Rusgrund durchfuhr ihn jetzt aufheiternd wie ein unverhoffter Sonnenstrahl. Schmunzelnd sprang er aus dem Bett, und eine gute Stunde darauf, nachdem er gebadet und gefrühstückt hatte, stieg er am Stadelhofer Bahnhof schon völlig frisch und unternehmungslustig in den Zug.

Auf der ganzen Fahrt dachte er nur noch daran, ob ihn Christian wohl am Bahnhof erwarte und ob im Rusgrund alles beim alten geblieben sei. Er sah sich mit dem Vetter beim Haus vorfahren, die Laufhündin Fineli trabte wedelnd um das Gefährt, Martha und Lisi kamen herbeigelaufen, vor dem Haus hing Wäsche, der Knecht Bärädi sah neugierig vom Stall herüber, und die Sonne schien, wie sie in der Stadt nicht scheinen konnte. Gegen das Ende der Fahrt erkannte er eine alte Eiche wieder, die nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt war, und als das Stationsgebäude selber in Sicht kam, entdeckte er, den Kopf unter dem offenen Fenster, Christians Einspänner. Den Vetter sah er dort neben einem großgewachsenen Mann, den er erst in der Nähe als Christians älteren Bruder Karl erkannte. Er stieg aus und schüttelte beiden kräftig die Hand.

«So, wieder ein Semester erledigt?» fragte Karl, während Christian sich um Freds Koffer bekümmerte.

Karl erwartete einen in wenigen Minuten fälligen Zug, um in die Stadt zu fahren. Er war ein dreißigjähriger, großer, grobschlächtig gebauter Mann in soliden Schuhen, mit einem weißen Kragen über dem farbig gestreiften Hemd und einer peinlich geknüpften bunten Krawatte. Er hatte dem Bauerngewerbe den Rücken gekehrt, weil es «keine Aussichten» bot, und sich nach einem kaufmännischen Examen allmählich «in den Handel hineingearbeitet». Dabei war er eifrig bestrebt, seine allgemeine Bildung zu fördern, er besuchte Hochschulkurse, lernte Sprachen und verfolgte in den Zeitungen aufmerksam den Lauf der Welt. Er wollte vorwärtskommen. Seine Beziehungen, besonders die verwandtschaftlichen zum Nationalrat und Brigadekommandanten Ammann, nützte er anständig, aber entschlossen aus, er besaß einflußreiche Freunde unter den liberalen Parteigenossen und war Offizier, Hauptmann in einem Landbataillon, das er in zwei, drei Jahren zu befehligen hoffte.

Fred war sich nicht ganz klar, wie er ihn zu beurteilen hatte, er schätzte ihn als ehrlichen und anständigen Menschen, fand aber seinen Bildungseifer und seine Strebsamkeit unsympathisch. Im Verkehr mit ihm beschränkte er sich auf einen freundlich ironischen Ton, den Karl ebenfalls ironisch beantwortete, obwohl er vor dem gesellschaftlich gebildeten Stadtbürger, dem Akademiker, dem Sohne seines einflußreichen Onkels im Grunde eine naive Hochachtung hegte.

«Ja, unsereiner muß an die Arbeit, wenn andere Leute in die Ferien fahren», sagte Karl, wobei er über diese Tatsache nicht eben unglücklich aussah.

«Dafür bringst du es auch zu etwas!» erwiderte Fred mit geheuchelter Achtung.

«Jaja, schon recht, du wirst ja auch nicht im Rusgrund hängen bleiben.»

«Das wär’ mir noch lang nicht das Letzte. Ich habe genug von der Stadt.»

«In den Ferien! Wir werden uns aber am Ende doch häufiger in der Stadt treffen als auf dem Lande … Im Sommer rückst du in die Aspirantenschule ein, nicht?»

«Es scheint!»

«Das wird ein anderer Betrieb als in den Wiederholungskursen, du wirst schon sehen. Wenn Hartmann Schulkommandant ist …» In diesem Augenblick fuhr der Zug ein, aber Karl schien ihn gar nicht zu beachten, er sprach ruhig weiter, indessen ein paar Fahrgäste aus- und einstiegen, dann streckte er plötzlich seine breite Rechte aus, drückte Fred sehr bestimmt und kräftig die Hand, nickte Christian flüchtig zu und bestieg ohne Hast ein Abteil, dessen Tür der Zugführer bereits geschlossen hatte.

Fred und Christian gingen zum Einspänner und fuhren sogleich los, eben als sich der Zug nach der entgegengesetzten Richtung ebenfalls in Bewegung setzte. Karl stand am Fenster und winkte maßvoll mit der flach erhobenen Hand, Fred winkte auch, aber ausgelassen, indem er aufstand und den Arm schwenkte, dann verloren sie einander aus den Augen.

Die Straße zog sich außerhalb der Ortschaft zwischen Wiesen und jungbelaubten Obstbäumen gegen einen langgestreckten, oben bewaldeten Höhenzug hin, den sie in einer weit ausgreifenden Schleife gemächlich erklomm. Die zwei Vettern saßen bequem zurückgelehnt nebeneinander; den Koffer hatte Christian hinten aufgeschnallt, und über den Bock hinweg lenkte er «Sepp», einen braunen Wallach, der hier auf ebener Strecke einen stampfenden Trab angeschlagen hatte. Zu beiden Seiten der Straße waren Arbeiter damit beschäftigt, hohe Stangen aufzustellen. Fred erfuhr, daß die Straße auf ein Schützenfest hin mit Wimpeln versehen werde, und als sie den Fuß der Höhe erreichten, bemerkte er, daß auch am nahen Schießstand Leute an der Arbeit waren.

«Wir müssen den Stand erweitern», erklärte Christian, «es ist ein kantonales Fest, wir würden da mit unsern zehn Scheiben bei weitem nicht auskommen.»

«Jaso, da bist du natürlich auch beteiligt», sagte Fred lächelnd.

«Ja, es hat jeder etwas übernehmen müssen. Wir haben hier noch nie ein Kantonales durchgeführt, und das gibt mehr zu tun, als man sich vorstellt. Die Komitees sind schon lang an der Arbeit. Ich habe zwar vorläufig noch nicht viel zu tun, ich bin beim Schießkomitee, aber … es gibt doch Sitzungen, und … schließlich muß alles klappen.»

«Wie manches Komitee gibt es denn da? Ich habe keine Ahnung, wie so etwas zustande kommt.»

«Ja … an der Spitze steht das Organisationskomitee, nicht wahr … und dann gibt es also ein Schießkomitee, das den Plan aufstellen, das eigentliche Schießen durchführen und die Abrechnung machen muß … dann ein Baukomitee, das jetzt eben an der Arbeit ist … hinter dem Stand wird noch eine Festhütte für etwa dreitausend Personen gebaut, damit fangen sie nächstens auch an … die Budenstadt kommt auf beide Straßenseiten. Dann gibt es noch ein Komitee für die Sammlung von Ehrengaben, ein Dekorations-, ein Empfangs- und ein Pressekomitee, ein Wirtschafts- und ein Unterhaltungskomitee, ein Finanzkomitee, ein Komitee für den Sanitätsdienst, für Unterkunft, Polizeiaufsicht, Verkehr …»

«Hör auf!»

«Jaja, das muß so organisiert sein, sonst geht’s schief. Wir rechnen mit einer Beteiligung von viertausend Schützen, bei einer Plansumme von zweihunderttausend Franken. Das Fest dauert zehn Tage …»

Fred hörte aufmerksam zu, wunderte sich, stellte Fragen und zeigte eine Anteilnahme, die ihm eben noch fern gelegen hatte. Ein Schützenfest war für ihn bis jetzt höchstens ein patriotischer Rummel gewesen wie alle derartigen Anlässe, ein Ausdruck jener plebejischen Betriebsamkeit, die von intellektuellen und höher gebildeten städtischen Kreisen als «schweizerische Festseuche» verurteilt und verspottet wurde. Jetzt, da er Christian ernsthaft und einsichtig davon reden hörte, begann auch er das kommende Fest unmerklich für eine große und wichtige Aufgabe zu halten.

Christian war ein einfacher und tüchtiger junger Mann, der mit seinem Vater zusammen die Landwirtschaft betrieb. Obwohl er, von den Schulen abgesehen, nie eine andere als bäuerliche Tätigkeit ausgeübt hatte, unterschied er sich doch von den ganz ursprünglichen Bauern der Landkantone, er war im sozialen Sinne geweckter, im Auffassen rascher und im Denken beweglicher, er war loser in der Erde verwurzelt als jene und stand schon auf der Schwelle zum Bürgertum. Seinesgleichen gab es unter kleinen Handwerkern, Arbeitern und im Umkreis der Städte auch unter Bauern zu Tausenden; sie fielen nicht auf und traten persönlich nur wenig hervor, aber sie bildeten eine für die Zukunft des Volkes entscheidende Schicht, sie stellten eine von der Erde nicht mehr gebundene und von Vorurteilen noch nicht ernstlich gehemmte Kraft dar, mit der alles möglich schien. Die tüchtigsten Handwerker, Aufseher, Vorarbeiter, die zuverlässigsten Eisenbahner, die brauchbarsten Soldaten und Unteroffiziere stammten aus der jungen Generation dieser Mittelschicht, wie denn übrigens auch Christian als einer der fähigsten Korporale seiner Kompagnie galt. Er war ein wenig kleiner als Fred, doch stämmiger, ein gesunder, kräftig gebauter Bursche mit krausem dunkelblondem Haar, gleichmütig blickenden Augen und leicht hervortretenden Backenknochen. Seinem Wesen nach schien er nicht eben heiter, er besaß einen ernsten, manchmal fast mürrischen Ausdruck und lachte selten laut, obwohl er sich über nichts zu beklagen hatte und allerdings auch kaum jemals klagte. Im Wagen neben Fred taute er nun etwas auf oder er verbarg doch die verhältnismäßig gute Laune nicht, die ihn im Grunde erfüllte.

Als sie plaudernd die halbe Höhe erreicht hatten, stand der Wallach plötzlich still. «Hü!» rief Christian, schüttelte das Leitseil und griff nach der Geißel, aber Fred hielt ihn zurück. «Laß ihn doch ein bißchen stehen!» bat er. Er fand es lustig, daß Sepp aus eigenem Ermessen hier anhielt.

«Er probiert nur etwas, der faule Hagel, er hat schon ganz andere Fuder da hinaufgezogen», sagte Christian, doch fügte er sich und zog die Bremse an, worauf Sepp befriedigt den Kopf senkte und aufwarf.

Sie saßen im Schatten der Berglehne, nahe am Waldrand, während die auslaufenden Hänge unter ihnen und das weite Land zu ihrer Rechten im klaren Licht der Frühlingssonne lagen.

«Weißt du, mir ist sauwohl, trotzdem ich gestern beinah einen Klapf hatte», gestand Fred und blickte seinen kurz und trocken auflachenden Vetter vergnügt an. Christian war für ihn die Hauptperson im Rusgrund. Das Schlichte, Anständige und Echte an ihm war ihm sympathisch, in seiner Nähe pfiff er auf das städtische Gehaben, und sein geringster Freundschaftsbeweis ging ihm näher als die lauteste Kameradschaftsbezeugung seiner Studiengenossen.

«Hü!» rief Christian nach einer Weile und löste die Bremse, worauf Sepp sich mit einem Ruck ins Geschirr legte und sogleich rüstig ausschritt. Vor der etwas steileren Strecke durch den Wald aber stiegen die Vettern aus und gingen neben dem Wagen bis auf die Höhe, wo sie von der breiten Straße bald in einen leicht abfallenden Fahrweg einbogen. Auf diesem noch morgenfeuchten, von hohen Böschungen gesäumten Weg, über dem die Tannäste sich oft von beiden Seiten her zusammenschlossen, begann der Gaul zu traben. «Jetzt will er heim», sagte Christian und drehte die Bremse fester an.

Es war denn auch die letzte Strecke, es war der Heimweg. Als sie zum Waldrand hinausfuhren, öffnete sich wie ein großer grüner Mutterschoß eine weite Mulde vor ihnen, und mitten darin eingebettet, von Bäumen halb verdeckt, lagen Haus und Stall. Fred stieß vor Übermut einen Laut aus, der ein Jauchzer sein sollte, aber nur ein heiserer Schrei war; er konnte gar nicht jauchzen. Christian lächelte über die freudige Erregung seines Vetters still vor sich hin, doch Fred bemerkte es nicht; während sie in die Mulde hineinfuhren, saß er, die Hände vergessen zwischen den Knien, mit kindlich strahlendem Gesicht aufrecht und schweigend da.

In der Nähe des Gehöftes war vorerst kein anderes Lebewesen zu entdecken als ein Huhn, das sich von seiner Schar zu weit entfernt hatte und beim Nahen des Einspänners wackelnd davonrannte. Gleich darauf aber meldete sich drüben beim Stall mit kräftiger Stimme Plutus, ein Appenzeller Sennenhund, und als sie vor dem mächtigen Riegelhaus anhielten, kam wirklich Fineli dahergetrabt, eine weiß und gelb gefleckte Schweizer Laufhündin. Fineli begrüßte ihren Herrn mit ein paar Trillern, dann schwieg sie und musterte aufmerksam den Gast; sobald aber Fred sie anrief, erkannte sie ihn und schwang freudig die Rute.

Tante Marie, die Hausfrau, kam zum Empfang herab und hieß den Gast willkommen, mit dem freundlich offenen Lächeln, mit dem sie ihn immer empfangen hatte, das aber nach seiner Erfahrung rasch und endgültig wieder hinter einer bald herben, wachen, bald mütterlich besorgten Miene zu verschwinden pflegte. Es war eine etwas untersetzte, noch kaum recht ergraute Frau, die nicht eben viel vorstellte, aber «Haare auf den Zähnen» hatte und ziemlich scharf, doch gerecht und ohne Launen regierte.

Unter einem offenen Fenster des ersten Stockes stand gerötet und lachend Lisi, ihre jüngere Tochter, und winkte scherzhaft ausgelassen mit einer Küchenschürze.

«Jaja! Gib du auf die Suppe acht!» rief die Frau, während sie Fred zur Haustür begleitete.

Im dritten Stock beugte sich die etwas blassere Martha über eine Fensterbrüstung und schaute unbemerkt mit einem stillen Lächeln auf den Vetter hinab.

Nachdem Fred die Hausinsassen kurz begrüßt und in seinem Zimmer auf Tante Maries Verlangen seine Kleider aus dem Koffer genommen hatte, damit sie keine Falten bekämen, begab er sich schmunzelnd zum Mittagessen in die große Stube. Hier richtete er seine Grüße aus und beantwortete eine Menge Fragen, bis Lisi die Suppenschüssel hereintrug und die Familie sich um den Tisch versammelte. Der Augenblick kam, wo das Gespräch plötzlich verstummte und alle Tischgenossen mit gesammelter Miene ein wenig den Kopf senkten, ein kurzer, stiller Augenblick, dem Fred sich ernsthaft fügte, obwohl er wußte, daß sie diesen Brauch nur der Frau zuliebe noch beibehielten. Dann aber wurde das Gespräch sofort wieder lebhaft aufgenommen, und Fred mußte nach allen Seiten hin alle möglichen Auskünfte erteilen. Man wollte wissen, wie es bei der Zügleten zugegangen sei, ob es ihnen in der neuen Wohnung gefalle, was mit den Möbeln geschehen sei, was Mama zum Verkauf gesagt habe, ob sie auf das Schützenfest hin wohl einmal alle zusammen hieher kämen, und dergleichen mehr.

«Hast du den Karl am Bahnhof noch gesehen?» fragte Onkel Robert, der durch seine mächtige Gestalt, seine Haltung und die Art seines Essens den Tisch durchaus beherrschte. Er saß in Hemdärmeln an der obern Schmalseite und ließ sich in seiner Beschäftigung, die ihn sehr in Anspruch nahm, nicht ernstlich stören. Ab und zu warf er eine Frage hin oder hörte mit halbem Ohr auf eine Antwort, sonst aber hantierte er, unaufhörlich kauend, mit Messer und Gabel, und wenn er etwa einen besonders großen, energisch angestochenen Fleischbrocken zwischen die Zähne gesteckt hatte, legte er die Unterarme so auf die Tischkante, daß Messer und Gabel aus seinen klobigen Fäusten in die Luft ragten, indessen er den Brocken mit nach innen gewandtem Blicke prüfend zerkaute. Dazu schnaufte er hörbar durch die Nase, wie ihm denn das ganze Tischvergnügen eine gewisse Mühe zu bereiten schien. Sein großes rotes Gesicht mit den buschigen blonden Brauen und dem außerordentlich kräftigen Kinn glich in den Hauptzügen dem seines Bruders Alfred, aber es befand sich hier gleichsam noch im Rohzustand und strotzte vor Gesundheit. Ein richtiger Bauer, der täglich selber Hand anlegte, war freilich auch Onkel Robert nicht mehr, er fuhr als Viehhändler im Land herum, war Mitglied des Kantonsrats und warb vor Wahlen unter der Bauernschaft für die Liste derselben fortschrittlichen Partei, der auch sein Bruder angehörte.

Fred bejahte die Frage nach Karl eifrig, was den Vater Ammann sichtlich befriedigte.

«Er bekommt in der Stadt jetzt eine sehr gute Stelle», bemerkte Frau Marie mit offener Genugtuung.

«Weißt du», rief Lisi lebhaft, «wenn Karl in der Stadt wohnt, kommen wir dann auch mehr nach Zürich.»

«Und im letzten Wiederholungskurs … habt ihr einander nie gesehen?» fragte Onkel Robert.

«Doch, ich hab ihn gesehen, aber er mich nicht», antwortete Fred. «So ein Hauptmann hoch zu Roß», fügte er scherzhaft verächtlich bei, «sieht sich nach dem Gewürm fremder Korporale überhaupt gar nicht um, nicht wahr!»

«Hähää!» machte der Alte heiser und strahlend vor Vergnügen.

«Du kommst doch jetzt auch in die Offiziersschule, nicht?» fragte Tante Marie. «Ja … wie lange ist es schon her, daß Karl die Offiziersschule gemacht hat!»

Das Gespräch drehte sich weiter um Karl, die ganze Familie war stolz auf ihn. Fred mußte ein wenig Achtung heucheln, um sie nicht zu verletzen, er kannte ihre Gesinnung und konnte sich sehr gut in ihre Lage hineindenken. Für sie war der Rusgrund kein Paradies, sondern ein abgelegenes Bauerngut mit einigen Kartoffeläckern, etwas Wald und Grasland für fünfzehn bis zwanzig Kühe, deren Milchertrag sich beim besten Willen nicht mehr steigern ließ. Zwar waren sie wohlhabend, da sie immer tätig und sparsam gelebt und außerdem ordentlich am Viehhandel verdient hatten, aber dies Leben war karg und einförmig, es führte nirgendshin und ließ sich auch nicht abschütteln. Dabei gewahrten sie ringsum auf allen Gebieten gewaltigen Fortschritt, großartige Möglichkeiten und wachsenden Reichtum, eine blühende Stadt lag ihnen vor der Nase, und zu den guten Kreisen dieser Stadt gehörte ihre eigene Verwandtschaft.

Fred fand es begreiflich, daß sie unter solchen Umständen ihren Blick nicht genügsam auf der eigenen, ewig gleichen Scholle ruhen ließen, sondern vom Leben der Zeit gefesselt wurden. Er hütete sich aber, seine eigene Meinung über diese Zeit preiszugeben, sie hätten ihn kaum verstanden, und außerdem konnte er nicht darauf schwören. Sicher war nur, daß er selber das fortschrittliche städtische Leben als «faulen Zauber» empfand, während ihn dies ländliche Dasein und Beharren unbegreiflich anzog; daß er mit seiner paradiesischen Faulenzerei auf etwas merkwürdige Art an diesem Dasein teilzunehmen pflegte, gestand er gern zu.

Nach dem Essen zog er sogleich die Kniehosen an und ging hinaus, um sich ein wenig umzuschauen und mit der Zurückhaltung des Genießers allmählich von dieser geliebten Welt Besitz zu ergreifen. Er unterhielt sich mit dem Stallknecht Bärädi, einem jungen Urschweizer aus dem Muotatal, dessen richtiger Name Bernhardin Schelbert war, begrüßte den Appenzeller Plutus, der immer dicker wurde, und versuchte umsonst, sich einem alten Kater in Erinnerung zu rufen; er schlenderte durch den Stall, zu den Schweinen, zum Hühnervolk, und erst nach dem Vieruhrkaffee, den wieder die ganze Familie gemeinsam einnahm, schlug er die Richtung auf das nahe Tobel ein. Dieses Tobel, eine tiefe, dicht bewaldete Bachschlucht, die den Rusgrund gegen Osten begrenzte, hatte Fred schon dutzendmal durchstreift, ohne es ganz zu ergründen, es barg undurchdringliche Dickichte, Teiche, kleine Wasserfälle, Fuchsbaue, weiche Moosböden, Farnhaine, Bruchhalden, merkwürdige Felsgebilde und noch manches Unerforschte.

Als er kurz vor dem Nachtessen zurückkehrte, war er bereits mit einer Neuigkeit für Christian geladen, er hatte einen Dachsbau mit frisch ausgeworfener Erde entdeckt; zu seiner Enttäuschung erfuhr er dann bei Tische, daß Christian, der im Herbst jeweilen das Jagdpatent löste, nicht nur diesen Bau kannte, sondern sogar den Dachs selber schon gesehen hatte.

Er ging frühzeitig zu Bett, er war müde, und die zwei Basen, die gewöhnlich erst abends «etwas von ihm hatten», mußten sich bis zum nächsten Abend gedulden. Eine Weile lag er noch wach im breiten Bauernbett und freute sich, daß er wieder da war. Man hatte ihm das Gastzimmer mit dem Blick gegen Osten überlassen und das zweite Bett daraus entfernt, es war eine sehr geräumige Kammer, die mit ihrem naturbraunen Getäfer jeden schönen Morgen stundenlang goldhell und warm in der Sonne lag. Ihm gegenüber an der Wand hing das Brustbild seines Großvaters Johann Gottlieb Ammann. Das offenbar schlecht gemalte Gesicht sah etwas leer aus, verriet aber doch eine gewisse brutale Lebenskraft und eine äußere Ähnlichkeit mit Onkel Robert. Papa glich ihm kaum; vielleicht hatte er ähnliche Augen, aber die Augen des Johann Gottlieb waren dem Maler vermutlich mißlungen, sie starrten mit einem eher tierischen als menschlichen Blicke dunkel unter den Brauen hervor.

Fred wußte von seinem Großvater nur, daß er aus einem Dorf des Zürcher Oberlandes stammte, eine schöne, wohlhabende junge Witwe geheiratet und gleich darauf den Rusgrund erworben hatte. Hier also waren seine Kinder zur Welt gekommen, vier Söhne und drei Töchter, soviel er sich erinnerte; von den Töchtern lebte nur noch Tante Klara, von den Söhnen war einer früh gestorben, ein anderer nach Amerika ausgewandert. Papa und Onkel Robert bildeten also auf diesem Stammbaum die zwei starken Seitenäste, die den Fortbestand des Geschlechtes Ammann aus dem Rusgrund gesichert hatten.

«Merkwürdig, es sind doch zwei so ganz verschiedene Menschen», dachte Fred. «Sie müssen nicht viel Gemeinsames mitbekommen haben, jeder hat früh seine eigene Richtung eingeschlagen und der Abstand ist noch größer geworden. Onkel Robert hat eine Unterwaldnerin geheiratet, die ihr eigenes Blut mitbrachte, und aus dieser Verbindung sind wieder völlig andere Menschen hervorgegangen, die sich voneinander abermals unterscheiden und ihre eigenen Richtungen einschlagen. Und erst auf unserer Seite! Papa ist nach dem Studium in der Stadt geblieben und hat eine Tochter aus vornehmen städtischen Kreisen geheiratet, die von ganz anderer Seite herkam als er. Was hat wohl Mama noch alles mitbringen müssen, daß wir faulen Äpfel, Paul und ich, so weit entfernt vom großväterlichen Baumstamm niederfallen konnten. Ist das nun ein Gewinn oder ein Verlust? Zwar gleichen ja auch wir einander gar nicht, Paul hat ausschließlich geistige Interessen, während ich … weiß der Teufel! Gertrud gleicht der Mama, ihre Kinder haben bestimmt kein Ammannsches Blut mehr, und mit Lisi und Martha hat sie schon gar nichts gemein, obwohl das ihre Kusinen sind. Aber Severin ist wieder ein Ammann, wenn auch ein städtischer; ob er wohl noch einen großväterlichen Zug besitzt? Oder vielleicht gibt es gar keine Züge, die unverändert durchgehen, alles wandelt sich fortwährend von Mensch zu Mensch. Es sind ja tausend Variationen möglich … oder vielmehr unbegrenzt viele … oder doch nicht unbegrenzt? Wird aus unserm Blute wieder einmal ein Typ wie der Großvater entstehen? Wenn man ausrechnen könnte, daß … ach Quatsch, man kann die Menschen nicht ausrechnen, das fehlte noch, da würden diese verdammten Mathematiker … sie würden sagen, daß in der dritten oder vierten Generation notwendigerweise … das wären Severins Kinder, meine Neffen und Nichten … es ist lächerlich, daß mein Bruder mich zum Onkel macht … man kann sich nicht wehren …»

Er merkte, daß sich seine Gedanken zu verwirren begannen und daß er jetzt schlafen könnte, aber irgend etwas schien ihm so wichtig, daß er es sich vor dem Einschlafen noch rasch klarmachen wollte, er wußte nur nicht mehr genau was, und strengte sich an, um es zu finden. «Die Variationen», dachte er schläfrig, «sind also unbegrenzt … man kann sich nicht dagegen wehren … aber wieso denn … ja, richtig, unbegrenzt, aber wie ein unbegrenztes Netz … ich bin ein Knötchen in diesem Netz … doch so einfach ist das nicht mit den Gesetzen, meine Herren Wissenschaftler … wenn ihr ausgerechnet habt, an welchem Punkt des Netzes ich mich notwendigerweise befinden muß … Punkt 2465 AH3 … werde ich euch vordemonstrieren … ich werde zurückturnen bis zu Christian, eine Bauerntochter heiraten und eine große rückläufige Bewegung … bis zum Großvater zurück … Prost Johann Gottlieb, deine schöne Witwe soll leben … gestatte mir, dein Enkel … wir stellen jetzt alles auf den Kopf …»

Bei diesem Unsinn mußte er lachen, öffnete blinzelnd noch einmal die Lider und merkte, daß er das Licht nicht gelöscht hatte. Er drehte es ab, blickte in der Dunkelheit ironisch nach dem Bilde hin, auf dem nur mehr das verschwommene Rund des Gesichtes zu erkennen war, und glaubte zu sehen, wie der alte Johann Gottlieb im Schutze der Dämmerung jetzt auch zu lachen begann. «Lach du nur!» dachte er belustigt, drückte den Kopf ins Kissen und sank schmunzelnd in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2

Frau Marie blickte kurz vor dem Nachtessen durch ein Küchenfenster ihrem Gast entgegen, der mit lässig hängenden Armen und schweren, wiegenden Schritten wie ein Bauer auf das Haus zukam, ungekämmt, ohne Hut, ohne Kragen, mit aufgekrempelten Hemdärmeln, beschmutzten Strümpfen und dreckigen Schuhen. «Wie der wieder aussieht!» dachte sie erschrocken und begann sich Vorwürfe zu machen.

«Fred», sagte sie, als er die Treppe heraufkam, «um Gottes willen, wie siehst du aus! Nein, so darfst du dich wirklich nicht vernachlässigen … wenn Mama dich sähe, wir müßten uns ja schämen! Gib doch etwas mehr acht und tramp nicht in jeden Dreck hinein!»

Fred blickte scheinbar erstaunt auf die besorgte kleine Frau hinab, ließ sie ruhig ausreden und erwiderte dann, mit einem unschuldigen Blick auf seine Schuhe und Strümpfe: «Hm, es hat am Morgen geregnet, nicht wahr … Christian sieht genau so aus …»

«Das ist nicht dasselbe! Christian muß arbeiten und kann nicht besser aussehen … aber für dich schickt sich das nicht …»

«Wieso nicht? Was sich für Christian schickt …»

«Ach, das weißt du selber auch! Mama hat dich nicht so gut erzogen, damit du jetzt …»

«Hör auf, Tante, mach keine Geschichten! Dreck hin, Dreck her, mir ist wohl dabei, und du mußt jetzt wieder in die Küche, sonst brennen dir die Erdäpfel an!» Damit legte er den Arm um ihre Schultern und schob die wohlwollend Aufbegehrende mit sanfter Gewalt in die Küche zurück.

Fred hatte sich in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft im Rusgrund wirklich verändert, und es war ein Zufall, daß Tante Marie es erst heute bemerkte. Er hatte die Sorge um sein Äußeres aufgegeben, unterschied sich nicht mehr allzusehr von den übrigen Bewohnern und nahm an verschiedenen Arbeiten teil. Dabei hatte er ohne jede Absicht seinen Vetter nachzuahmen begonnen. Er nahm lange, ruhige Schritte, wobei er sich infolge seiner Größe zu wiegen begann, und wurde wortkarg, was ihm ohnehin nahe lag.

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