Bilder der Levante

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Bilder der Levante
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Michael Jansen

Bilder der Levante

Eine Langzeitreportage aus dem Nahen Osten

Aus dem Englischen von Sabine Wolf


Für meine Weggefährten Godfrey und Marya und alle Menschen, die ich auf dieser langen Reise traf

Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel "Windows on Interesting Times” bei Rimal Books erschienen.

© 2021 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Aleppo, Oktober 2010, Jens Benninghofen, Alamy

eISBN 978-3-85869-908-4

1. Auflage 2021

Das gedruckte Buch enthält zwei Übersichtskarten.

Inhalt

Vorab

1Aufbruch

2Ausbruch

3Freiheit

4Autonomie

5Gewalt

6Auswege

7Grenzen

8Abkehr

9Glauben

10Befreiung

11Verlust

12Schutz

13Sturz

14Abbruch

15Aufbau

16Werden

Nachwort

Dank

Autorin

Vorab

Dieses Buch ist weder eine offizielle Geschichte des letzten halben Jahrhunderts im Nahen Osten, noch handelt es sich um Memoiren oder eine Autobiografie. Bilder der Levante zeigt, was der Titel verspricht, Bilder. Eindrücke, die unsere Zeiten beleuchten. Durch Reportagen eröffnete Einblicke. Aufnahmen, anhand deren Markierung mit Ort und Datum sich Augenzeugenberichte weitreichender Ereignisse einordnen lassen.

Das Buch ist weniger eine chronologische Vorstellung von Menschen und Ereignissen als ein impressionistisches Experiment, eine »Geschichte über Geschichten«, weniger regelmäßiges Tagebuch oder systematische Presseberichterstattung als eine Sammlung von Geschichten, die auf Gedankenströmen gleiten, Geschichten von Menschen und Geschehnissen in meiner Region der Welt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts.

Fließt ein Gedankenstrom erst einmal, bahnt er sich zwischen Eindrücken und Erinnerungen einen eigenen Weg; er mäandert, läuft zurück und wieder nach vorne, auf und ab und gewinnt an Kraft, bis vor unserem inneren Auge schließlich Vorstellungen von Menschen entstehen, von Ereignissen und Geschehnissen, seien sie von Bedeutung oder ganz nebensächlich. Bricht sich der Strom dann an den Felsen der Realität, zerplatzen vorgefasste Ansichten, Donner übertönt altbekannte Geräusche, vertraute Gerüche verwirbeln. Mit diesem Buch möchte ich einen frischen Blick auf die Ereignisse der vergangenen fünfzig Jahre öffnen.

Was ich gesehen und gehört habe, wie ich es bewerte und welche Schlüsse ich daraus ziehe, ist selbstverständlich auch durch meine Herkunft und Geschichte beeinflusst. Dementsprechend habe ich einige prägende Momente der eigenen Geschichte mit meinen Reportagen verflochten. Kein Journalist ist unbeteiligt oder neutral. Wir alle sind auf unsere ganz eigene Art subjektiv. Und so muss man, bevor man mit einer Geschichte über Geschichten beginnt, natürlich die eigene Intention darlegen.

Im englischen Original heißt das Buch »Windows on Interesting Times«, Fenster auf interessante Zeiten. Gerahmt wurden meine Ausblicke und Vorstellungen, meine Bilder, tatsächlich durch manch echtes Fenster, auch durch manches Computerfenster während der Recherche. Inspiriert wurde ich letztlich von einer Wendung, von der man sagt, sie sei ein alter chinesischer Fluch: »Mögest du in interessanten Zeiten leben!«

1Aufbruch

Kairo, Ägypten, 28. Januar 2011

Unter der Brücke des 6. Oktober stampfen Pferde nervös vor ihren Kutschen, die nicht weiterfahren können. Die Fahrer rauchen. Das Dröhnen vom Tahrirplatz schwillt an und nimmt ab, metallisches Knallen von Schüssen. Über unseren Köpfen die Stimmen von Zuschauern, versammelt auf der Terrasse des Ramses Hilton. Conor McNally, der Sohn der irischen Botschafterin, und ich rennen in die Hotellobby, die Treppe hinauf, und beziehen Stellung hinter staubig-stachligen Kübelpflanzen an der Terrassenmauer. Unten zu unserer Linken marschiert eine geschlossene Demonstrantenfront zum Abdel-Moneim-Riad-Platz und weiter zum Tahrirplatz. Bereitschaftspolizisten mit schusssicheren Westen, schwarz behelmt und gekleidet, schießen mit Tränengas und Schrot und sprengen immer neue Demonstrantenreihen auf. Immerzu stoßen einzelne Gruppen von Demonstranten vor und werden wieder zurückgeschlagen.

Zu unserer Rechten stecken Männer, Frauen und Kinder auf der Brücke des 6. Oktober fest, andere ein Stück flussabwärts auf der Kasr-el-Nil-Brücke, die auf den Tahrirplatz mündet. Auf der Brücke des 6. Oktober stellen sich Männer zum Asr auf, dem Nachmittagsgebet, stehen andächtig, friedlich, und verbeugen sich im goldenen Nachmittagslicht. Eine Pause im Kampf um den Tahrirplatz. Der uralte Nil, eine sanfte Brise kräuselt sein metallgraues Wasser.

Vom Westufer aus schießt die Polizei mit Wasserwerfern in die Menschenmenge auf der Brücke des 6. Oktober.

Von der östlichen Uferpromenade und aus den Straßen hinter dem Hotel strömen Demonstranten. Diszipliniert, in geschlossenen Reihen, unbewaffnet. Entschlossen, den Tahrirplatz zu erreichen, trotz Tränengas, Gummigeschossen und tödlichem Schrot. Abertausende Ägypterinnen und Ägypter. Vor meinem inneren Auge verlangsamt sich ihr Vormarsch zeitlupenartig, Stille umschließt die Szene. Der Himmel voller Gas- und Rauchwolken. Ich sehe nichts als den ungeheuren Zusammenprall zweier mächtiger Gruppen, in einem tödlichen Spiel gefangen. Die Demonstranten in ausgewaschenem Bunt, die Polizei in Schwarz, die Knöpfe und Sterne auf den Schulterklappen schimmern silbern. Gebrüll vom Tahrirplatz unterbricht meine taube Konzentration.

Meine Atemwege, Augen und Haut brennen vom geruchs- und farblosen Gas, und ich fliehe in die Lobby. Auch Conor zieht sich schließlich zurück. Die Hoteltüren werden verschlossen. Der Wachmann sagt, wir könnten gehen, sobald sich die Situation beruhigt habe. Wir warten. Tränende Augen, juckende Haut. Ungeduldig. Von den Geschehnissen sehen wir nichts mehr. Endlich draußen. Eine Pause im Vorstoß der Demonstranten und die Abwehr durch die Polizei. Die offenen Pferdekutschen sind geflohen, die Straße ist leer. Conor und ich winken ein einsames, klappriges schwarz-weißes Taxi heran. Ich steige ein, er bleibt; ich muss einen Artikel abgeben. »Al funduk Marriott, minfudlak! Zum Marriott-Hotel, bitte!« Fünf Minuten später überqueren wir den Nil auf der Brücke des 26. Juli. Der Fahrer berechnet den Preis, den das Taxameter anzeigt.

Kairo, Ägypten, 21. Juli 1961

In Rafah im Gazastreifen stieg ich vor dem Morgengrauen in den Zug nach Kairo. In al-Arisch setzten sich drei ägyptische Armeeoffiziere, kaum älter als ich, in mein Abteil. Sie stellten sich vor, doch ihre Namen habe ich längst vergessen. Einer sprach gut Englisch, die anderen beiden lächelten steif. Es war eine lange, heiße Fahrt entlang der Sinaiküste. Feiner Staub drang durch die Fensterritzen und legte sich auf meine Arme, mein kurz geschnittenes Haar. Die Offiziere spendierten mir leuchtend rosa Limonade und Käsebrote mit Pickles, geriffelte Möhren und Gurken, deren Essigschärfe mir durch Mark und Bein fuhr. Bei El-Kantara kamen wir ins »richtige« Ägypten, dann ging es weiter südwärts nach Ismailia, vorüber an sattgrünen Äckern, betriebsamen Städten und Dörfern, bis zum Ramses-Bahnhof in Kairo. Vor dem cremefarbenen Gebäude mit seinen blauen Mosaikverzierungen stand ein riesiger Ramses aus Granit, die Arme fest an die Seiten gepresst, auf dem Haupt die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens. Der schüchterne, stille jüngste Offizier wurde vom englischsprechenden Offizier beordert, mich sicher in mein Hotel zu bringen.

 

Hassan, ein palästinensischer Freund aus Beirut, hatte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension reserviert, die Landsleute von ihm in der als »Downtown« bezeichneten Gegend betrieben. Ich bekam ein sauberes Zimmer mit Bett, Waschbecken und einem schmalen Fenster mit grünen Läden. Zu meinem Bedauern waren Toiletten und Duschen auf dem Flur. Mit einem ägyptischen Pfund die Nacht war das Zimmer jedoch erschwinglich. Hassan, der gerade ebenfalls in Kairo war, nahm mich mit in den Gezira-Club, einst Spielwiese der britischen Kolonialherren, nun übernommen von der ägyptischen Unabhängigkeitselite. Von einer Tribüne aus sahen wir einem Wettbewerb im Tontaubenschießen zu. Während die Wurfmaschinen mit einem Klacken und Zischen die Tonscheiben losschleuderten, empörten Hassan und seine Freunde sich über die jüngsten Verstaatlichungen durch die Regierung Gamal Abdel Nassers. Am anderen Ende des staubigen, welken Rasens, knapp außerhalb der Reichweite der Gewehre, sammelte ein betagter Ägypter in abgetragener Dschalabija und mit Turban auf dem Kopf gelbe Scherben in einen Korb.

Bei Einbruch der Dunkelheit lauschten wir in Gizeh einer hohl dröhnenden Tonbandstimme, die Ägyptens Geschichte erzählte, während Lichtstrahlen über die Stufenseiten der Pyramiden wanderten und die Sphinx anleuchteten. Von ihrer Nase hieß es, Napoleons Soldaten hätten sie Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Kanonenkugel weggeschossen, obwohl schon frühere Reisende die Sphinx ohne Nase gezeichnet hatten.

Bay City, Michigan, USA, 1946

Ich kletterte auf einen Stuhl, um vom dem dritten Brett des Bücherregals ein Lesebuch für Kinder zu greifen, lief schnell zurück in mein Zimmer, setzte mich auf den Boden und schlug den festen grünen Einband auf. Blätterte Seite um Seite, wenige enttäuschende Illustrationen in Schwarz und Grau, Worte, in Sätzen geordnet, in einschüchternden Absätzen zusammengefasst. Ich entzifferte ein Wort, Buchstabe um Buchstabe, dann noch eins. Erkannte Wendungen und begriff ganze Sätze. Ich verstand Absätze und wurde als Höhepunkt mit einer vollständigen Geschichte belohnt.

Sie handelte vom Heiligen Ludwig, einem französischen König während der Kreuzzüge, der 1249 mit seinen Truppen in der ägyptischen Hafenstadt Damiette landete und seine Soldaten auf einen Gewaltmarsch nach Kairo schickte, bis sie im Nildelta auf ägyptische Truppen stießen. Das Heer des Heiligen Ludwig wurde geschlagen. Er wurde gefangengenommen, starb jedoch erst zwanzig Jahre später in Tunis zu Beginn eines weiteren Kreuzzugs.

Nach meinem Triumph mit dem Heiligen Ludwig langweilte ich mich in der Schule bei den lustigen Abenteuern von Dick und Jane und fing an, im Unterricht zu stören.

Kairo, Ägypten, 29. Januar 2011

Die Stadt erwacht nur langsam zum Leben, erschöpft von drei Tagen Massendemonstrationen auf dem Tahrirplatz.

In Zamalek, einem Wohngebiet am Nordende der Insel Gezira mitten im trägen Nil, öffnen die wenigen Geschäfte und Cafés spät. Ein kleiner Junge hält Conor und mir einen Bund frische Minze entgegen, als wir zur Brücke des 6. Oktober unterwegs sind. Bewaffnete Polizisten sperren den Verkehr über die Brücke, ignorieren aber die wenigen Fußgänger. Der Tahrirplatz ist leer, döst in den warmen Sonnenstrahlen und wartet auf den »Tag des Zorns«.

Wir gehen über den Platz und weiter nach Nordosten durch fast völlig verlassene Straßen, vorbei an Moscheen und Geschäften mit geschlossenen Läden. Die Gläubigen waren zum Mittagsgebet hier und sind wieder fort. Aus einem verbeulten blauen Auto ruft uns eine hübsche junge Frau in fließendem Englisch zu: »Sie sollten lieber nicht draußen sein! Heute passiert noch was. Wo müssen Sie denn hin?«

»Zamalek«, antwortet Conor.

»Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit. Da muss ich auch hin.«

Als sie uns absetzt, frage ich sie, wo sie hinfahre. »Zum Tahrirplatz«, das Schlachtfeld zwischen Volk und Regime. »Ich treffe mich mit vier Freunden, um auf die Demo zu gehen. Eigentlich wollten noch mehr kommen, aber weder Handynetz noch Internet funktionieren, und so konnten wir keinen Treffpunkt ausmachen.«

»Warum demonstrieren Sie?«, frage ich und hoffe auf ein verwertbares Zitat. »Ich habe mein ganzes Leben unter Mubarak gelebt«, sagt sie. Hosni Mubarak, Ägyptens Präsident seit dreißig Jahren. Als sie wegfährt, sagt Conor: »Hast du gesehen? Ihr Lidschatten war auf ihr Top abgestimmt.«

Abermals überqueren wir den Nil und gehen auf der Uferpromenade zurück Richtung Tahrirplatz. Vor dem dickbäuchigen beigen Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens stehen Panzer. Bereitschaftspolizisten haben ein Spalier gebildet, damit Demonstranten nicht auf die Idee kommen, den Sender übernehmen zu wollen. Das Sagen hat immer noch Hosni Mubarak. Die Kontrolle über den Rundfunk entscheidet über Aufstieg oder Untergang eines Regimes.

In der Gasse neben dem Gebäude betrachten Wachmänner in Zivil, mit Holzknüppeln bewaffnet, die Passanten mit düsteren Blicken. Ein Jugendlicher bricht aus ihrem Gewahrsam aus, rennt über die Straße und stolpert das Flussufer hinunter, wird jedoch von einem schnellen Polizisten eingeholt und in die Gasse zurückgezerrt. Wir gehen weiter, angezogen vom Getöse auf dem Tahrirplatz.

Kairo, Ägypten, 25. November 2010

Die Stadt der Toten schien zu schlafen. Die staubige Imam-al-Lesi-Straße lag verlassen. Türen und Tore der Hausgräber und großen Mausoleen waren fest verschlossen. An manchen Eingängen hingen Vorhängeschlösser, andere waren zugemauert. An den Grabmauern standen die Namen und Daten der Verstorbenen auf Marmortafeln. Inoffizielle Siedler, manchmal Familienmitglieder, wollen hier nicht erkannt werden, tun so, als wären sie Wärter. Ein leerer Bus schlingerte vorüber. In der Tür eines Hauses, flankiert von zwei verkrüppelten Bäumen, erschien eine Frau in einem blauen Kaftan. Raya, eine Witwe aus Oberägypten, eine von vielleicht einer halben Million Siedlern, lebte seit dreißig Jahren hier. Ein Stück die Straße runter saß ein Mann vor dem Tor eines Hausgrabs, in dem sein Sohn lag, und las im Koran. Die Männer waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule und die Frauen mit Aufgaben innerhalb der Grundstücksmauern beschäftigt. Nur die Toten ruhten.

Gestapelte Rahmenhölzer für Sessel vor einer Werkstatt, eine Satellitenschüssel auf dem Dach eines Mausoleums, trocknende Wäsche in einer Mauernische und scharrende Hühner in einem Durchgang zeugten von dem Leben auf dem riesigen Friedhof, gegründet zur Zeit der muslimischen Eroberung Ägyptens 642 n. u. Z. Am Ende der Straße lag in Geschäften voller Fliegen schlaffes Gemüse und lädiertes Obst in Plastikkisten aus. Frische Lebensmittel konnten sich die lebenden Bewohner der Stadt der Toten ebenso wenig leisten wie eine Mietwohnung in den Armenvierteln Großkairos.

Zwischen den Wahlen vergaßen die Politiker die Probleme und Sorgen der hier hausenden Familien. Sobald jedoch der nächste Wahlkampf anfing, umwarben sie sie. Der Hauptplatz hing voller Plakate und Banner, die Kandidaten für die Parlamentswahlen anpriesen.

An einem Tisch am Straßenrand saßen zwei gesprächsfreudige Männer. Sie stellten sich als Sayyed Muhammad Abdel ‘Al und dessen Onkel Hag Subhi Abdel ‘Al vor. Als der Kellner Gläschen süßen Tees vor uns stellte, sagte Sayyed, sie beide seien »Wächter des Viertels«. Sie entpuppten sich als »Wächter« im Dienst von Mubaraks Regierungspartei NDP. Während der Onkel an seiner Wasserpfeife sog, sagte Sayyed: »Die Wähler lassen sich von den Kandidaten nicht bestechen. Die Watani [NDP] ist hier stark. Wir sind für Präsident Hosni Mubarak. Wir lieben Hosni Mubarak.« Ich fragte, wie es mit Gamal aussähe, Mubaraks Sohn und mutmaßlichem Nachfolger. »Nein«, antworteten die Männer einstimmig. »Nur Hosni Mubarak!«

Ihre Unterstützung für Mubarak bedeutete nicht, dass sie der Regierung und deren Partei kritiklos gegenüberstünden. Am stärksten treibe die Leute das Thema Privatisierung um, besonders der Verkauf des staatlichen Krankenhauses an einen Privatkonzern. »Die Leute hier haben kein Geld für medizinische Versorgung«, beschwerte sich Sayyed. »Die Imam-Shafei-Mädchenschule wurde auch verkauft. Die Leute sind verärgert.« Sayyed schlug mir vor, ich solle zu den Wahlkampfkundgebungen am Abend wiederkommen.

In der Abenddämmerung erwachte die Stadt der Toten zum Leben. Die Cafés waren randvoll mit Männern. Am Straßenrand werkelten Mechaniker an Automotoren und Motorrädern. Leute gingen spazieren, unbekümmert in der Gesellschaft ihrer Ahnen. Sayyed und Hag warteten im Café, in dem wir uns am Morgen getroffen hatten. In ihrem zerbeulten alten Auto machten wir uns auf die Suche nach dem Wahlkampfkonvoi von Nasser Shurbagi, einem unabhängigen Kandidaten. Wir fanden ihn schließlich in den brechend vollen, hell erleuchteten Straßen des pulsierenden Viertels unterhalb der gewaltigen Mauern der Zitadelle. Die Anlage war im 12. Jahrhundert unter Saladin verstärkt worden, jenem Sultan von Ägypten, der in der Schlacht bei Hattin in Palästina am 4. Juli 1187 die Kreuzfahrer geschlagen hatte.

»Nasser Shurbagi in die Volksversammlung, Nasser Shurbagi!«, verkündete ein Lautsprecher von der Ladefläche eines Lastwagens. Zwischen den Durchsagen schlugen auf dem Laster Trommler auf ihre Instrumente. Shurbagi, lächelnd, die glänzende Halbglatze von dunklem Haar umkränzt, hielt seinen Konvoi an, um einer Gruppe potenzieller Wähler die Hand zu schütteln. Er versprach, Straßen zu reparieren, sicherzustellen, dass die Lebenden die Stadt der Toten nicht verlassen müssten, und das Krankenhaus wieder in den öffentlichen Sektor zurückzuführen. Als er in seinem ramponierten orangefarbenen Auto davonfuhr, blaffte ein Jugendlicher: »Scheißlügen!«

Die meisten Lebenden in der Stadt der Toten waren nicht ins Wahlregister eingetragen und misstrauten den Polizeirevieren, in denen die Wahlscheine ausgestellt wurden. Sie gingen davon aus, dass Stimmzettel von Toten den Vorsprung der NDP noch weiter vergrößern würden.

Der Wahltag war bestimmt von einer niedrigen Wahlbeteiligung, gewaltsamen Zusammenstößen und Anschuldigungen von Wahlbetrug und Mehrfachstimmabgaben. In Wahlkreisen, in denen bei der Parlamentswahl 2005 die Opposition Erfolge erzielt hatte, verwehrte man Kandidaten, Beobachtern und Wählern den Zugang zu den Stimmlokalen. Um 508 Parlamentssitze bewarben sich 5200 Kandidaten, 1100 von ihnen von Parteien aufgestellt, davon 780 allein von der NDP. Auch die Mehrheit der 4100 unabhängigen Kandidaten gehörte zur NDP. Die Partei war entschlossen, sich bis zur Präsidentschaftswahl 2011 eine solide Mehrheit zu sichern. Mubarak war ihr einziger Kandidat. Von 40 Millionen ägyptischen Wahlberechtigten sollen bei dieser Parlamentswahl nur 10 Prozent ihre Stimme abgegeben haben. Es waren die letzten Wahlen unter Mubarak.

Kairo, Ägypten, Juli 1961

Ein Bediensteter in Kaftan und Kappe öffnete die Tür der großzügigen Villa in der Mohamed-Mazhar, einer Zamaleker Straße voller prächtiger Villen im italienischen Stil, gebaut von Politikern und Kaufleuten, die während des britischen Protektorats ein Vermögen gemacht hatten. Ich wurde durch geräumige Zimmer mit hohen Decken geführt, die Fensterläden waren gegen die Hitze und das gleißende Licht geschlossen, die Möbel mit Tüchern verhängt, als ob der Besitzer lange verreist wäre.

Sitt Leila Doss empfing mich auf der Veranda mit Blick auf das unruhige braune Wasser des Nils – sitt heißt Frau. Der Nachmittagstee wurde serviert und meine zarte Porzellantasse mit Untertasse einem fragilen Tischchen auf staksigen Beinen anvertraut. Constantine Vlachopoulos, ein griechischer Freund vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), hatte mir Leila Doss’ Telefonnummer gegeben und gesagt, sie könne mir etwas über die sich wandelnde Rolle der Frau in diesem zutiefst konservativen Land sagen. Leila Doss erzählte mir von ihrer Arbeit mit tuberkulosekranken Kindern und beschrieb, wie sich die ägyptische Gesellschaft seit den zwanziger und dreißiger Jahren, als sie aufgewachsen war, verändert hatte.

»Der Nikab und der Schleier verschwinden allmählich, Frauen nehmen eine aktivere Rolle ein. Aber nur gebildete, privilegierte Frauen.«

Sie schickte mich in ein Dorf auf dem Land, damit ich mir ansehen könne, was die Regierung für die Fellachen tat, die Ackerbau treibende Landbevölkerung. Sie versorgte sie etwa mit Saatgut und Plänen für größere Ernteerträge.

 

Im Zentrum von vier Bewässerungskanälen stand ein weißgekalktes, von Eukalyptusbäumen umgebenes Anwesen. Der Erdfußboden des Innenhofs war von harten Besenborsten blankgefegt. In dem Mehrzweckgebäude war eine Außenstelle des Landwirtschaftsministeriums untergebracht, eine Schule und eine saubere Klinik, in der eine Krankenschwester Babys wog und den Bauernkindern Medikamente verabreichte.

Zurück nach Gaza flog ich im Cockpit einer weißen Hercules der UNO, gesteuert von zwei fröhlichen Kanadiern.

Unter uns erstreckte sich majestätisch der Nil, die Arme zum Delta hin aufgefächert, dazwischen Ackerland, von Bewässerungskanälen umgrenzt, wolkenbeschattete Dörfer, die Ränder des kobaltblauen Mittelmeers von hellem Schlamm befleckt, die Mündungen entlang der Küste des Sinai, dann die Wüste, al-Arisch und schließlich Rafah, geteilt zwischen Ägypten und Gaza.

Kairo, Ägypten, in der Nacht des 28. Januar 2011

Die Polizei zieht sich aus den Straßen zurück. Die Bevölkerung ist Schlägern und Kriminellen ausgesetzt. Sie wurden von Loyalisten aus dem Gefängnis entlassen, die das Volk für den Treuebruch an Mubarak bestrafen wollen.

Im Wohnzimmer der irischen Residenz warte ich mit der Botschafterin Isolde Moylan, ihrem amerikanischen Ehemann Tom McNally und ihrem Sohn Conor ungeduldig vor dem Fernseher auf eine Ansprache Mubaraks an die Bevölkerung. Congo drückt sich an unseren Knien vorbei, wackelt mit seinem beträchtlichen Hinterteil, wedelt mit dem Schwanz und wischt dabei fast unsere Weingläser von dem niedrigen Tischchen. Kurz nach Mitternacht tritt Mubarak vor die Kameras, entlässt das Kabinett und ernennt den Direktor des Geheimdienstes, Omar Suleiman, zum Vizepräsidenten. Mubarak, unbeirrt von den Flammen rund um die Zentrale der Regierungspartei, tritt nicht zurück.

Conor nimmt Congo an die Leine, ignoriert die Ausgangssperre und geht mit mir auf der Straße des 26. Juli zurück zum Marriott. Ich betrete das Hotelgelände durch das hintere Tor und gehe über den Parkplatz. Die automatischen Türen des Hotels gleiten auf wie ein Sesam-Öffne-Dich, ich lasse meine Tasche auf das Fließband der Sicherheitsschleuse plumpsen, nehme sie am anderen Ende wieder auf und nicke den diensthabenden Männern zu. Ich gehe an Roy’s Country Kitchen und dem Kasino vorbei und eile durch den Garten zum Gezira-Turm, vorbei an leeren Tischen und Stühlen vor diesem Palastgebäude, in dem das schicke Kairo sich zum Lunch und Tee trifft.

Kairo, Ägypten, Juli 2013

Aus ihrem eleganten Palais am Nil, den sie schon vor langer Zeit verkauft hatte, war Lili, Leila Doss, nach Garden City gezogen, in den achten Stock eines öden braunen Gebäudes zwischen streng bewachten Botschaften beim Tahrirplatz. Von dort war sie viermal in ihrem Rollstuhl zum Demonstrieren auf die Straße heruntergekommen und war so zu Ägyptens ältester Revolutionärin geworden. »Die Leute freuen sich so, mich zu sehen. Sie küssen mir die Hand und fotografieren ihre Kinder mit mir […] Wir mussten Mubarak und seine Leute loswerden, ihre Geldgier war einfach unfassbar geworden. Die Bevölkerung ist immer weiter verarmt. Das Land hat der Regierung den Rücktritt befohlen. Es war unglaublich.«

Lili, Jahrgang 1916, hat drei ägyptische Revolutionen miterlebt, 1919 gegen die Briten, 1952 gegen den König und 2011 bis 2013 gegen die Autokratie. Ihre revolutionäre Karriere begann früh. Sie lehnte sich gegen ihren konservativen Vater auf, Tewfik Pasha Doss, koptischer Christ und Minister zur Zeit der Monarchie, der den Grundpfeiler der Kasr-el-Nil-Brücke gelegt hatte, einen der Hauptzugänge zum Tahrirplatz. Mit fünf Jahren zog sich Lili die Hosen ihres Bruders an, damit sie im Garten des Familienpalais auf Bäume klettern konnte. Als begehrenswerte junge Frau weigerte sie sich zu heiraten, selbst den äthiopischen Kronprinzen. Ihr Vater fand, Mädchen sollten nicht studieren, und sagte ihr, sie solle sich wohltätiger Arbeit widmen. So wurde Lili 1936 Mitgründerin von Tahseen al-Seha, einer Organisation zur medizinischen Versorgung von Kindern in Armut.

Immer wieder forderte Lili die aufeinanderfolgenden Regime heraus. Unter Präsident Gamal Abdel Nasser durfte sie nicht ins Ausland reisen. Sein Nachfolger Anwar al-Sadat verlieh ihr einen Orden für 25 Jahre Dienst; Lili verkaufte den Orden und spendete den Erlös dem Kinderkrankenhaus bei den Pyramiden. Sie kämpfte gegen Mubaraks Ehefrau Suzanne, die das Krankenhaus zu einem Museum machen wollte. »Nur über meine Leiche«, sagte Lili. »Mit 65 bin ich in den Ruhestand gegangen, habe mein Fachabitur gemacht und einen Bachelor- und Master-Abschluss«, an der American University in Kairo. Mittlerweile gab es keinen Vater mehr, der es hätte verbieten können.

Kairo, Ägypten, Anfang 1965

Am frühen Abend, als die Sterne am dämmrigen Himmel zu funkeln begannen, überquerten wir die Bulakbrücke und bogen in die Einfahrt des Omar-Khayyam-Hotels, gingen die Freitreppe hinauf zur Rezeption, checkten ein und erhielten den Schlüssel zu unserem Chalet. Der Angestellte lächelte. »Willkommen in Ägypten!«

Ma, meine Mutter, Dorothy Ellen Fancher, geborene Kibby, sagte: »Schau mal, hier liegen so viele Teppiche, dass sie sich überlappen.« Belutsch-Gebetsteppiche, anatolische und persische Teppiche, der Saum des einen über dem des anderen, bildeten kleine Schwellen mit ineinanderverwickelten Fransen. Ma war vor dieser Reise noch nie außerhalb der USA gewesen.

Wir folgten dem Gepäckträger durch einen Korridor, die Hintertreppe hinunter und in den Garten. Unser hölzernes Chalet war kühl, der Gepäckträger stellte die Klimaanlage an, um das schlichte Zimmer zu heizen; das angrenzende Bad war mit Kerosin parfümiert, das zum Desinfizieren und Desodorieren in die Toiletten geschüttet wurde.

Nach dem Abendessen in einem eleganten, aber kalten Raum des Palasthotels auf Gartenhöhe gingen wir an die Bar, um uns mit Aprikosenschnaps innerlich zu wärmen. Mas gesprenkelte nussbraune Augen leuchteten neugierig in dem weichen Licht. Der Bartresen war aus hochglanzpoliertem Holz, darin Intarsien aus Perlmutt und verschiedenfarbigen Hölzern. Die Wände waren mit matter, dunkelgrüner Seide verhangen. Ma trug ein ärmelloses grünes Velourskleid über einem cremefarbenen Seidenhemd mit langen Ärmeln, ein warmes Tuch um die Schultern geschlungen. Ihr Haar war aufgetürmt. An ihren Handgelenken schwere, breite, geriffelte Silberarmreife.

Am nächsten Morgen nahmen wir ein Taxi zu den Pyramiden. Ma in hohen braunen Stiefeln war eingewickelt in einen rotgraukarierten Mantel, mit einem Kopftuch gegen den Wind. Ich trug glücklicherweise Jacke und Hose.

Als wir auf der Ebene von Gizeh angekommen waren, entschied sie, ich solle auf die Cheops-Pyramide klettern, an das Handgelenk eines großen Fremdenführers geklammert, der Dschallabija und einen Wollschal um den Kopf trug.

Die Steinblöcke bildeten schenkelhohe Stufen, manche bröckelnd, manche uneben. Mein Fremdenführer, der Gummi-Flipflops trug, kannte den besten Weg und trat präzise auf die Stufen. »Folgen Sie mir, folgen Sie mir«, forderte er mich auf Englisch auf, während er mich die Pyramide hinaufzog. »Festhalten, festhalten.« Er hielt nicht einen Moment inne, und zog mich, Steinblock um Steinblock, bis zur Spitze empor. Von dort spähten wir zu Ma hinunter, klein und einsam in der Wüste, und betrachteten Initialen, die frühere Besucher in das Gipfelplateau geritzt hatten. Dann ging es wieder rasch hinunter, Block um Block, meine Wadenmuskel zitterten und meine Knöchel drohten einzuknicken. »Siebeneinhalb Minuten«, stellte Ma fest, als wir wieder bei ihr waren. Der Fremdenführer sagte, seine Bestzeit liege bei vier Minuten, und schien sich über das Trinkgeld von zwanzig Dollar zu freuen.

Kairo, Ägypten, 29. Januar bis 11. Februar 2011

An der Rezeption des Marriott-Omar-Khayyam-Hotels haben sich Schlangen abreisender Touristen gebildet. Neben dem Informationsschalter türmen sich auf den aufgereihten Gepäckwagen die Koffer. Sonderflüge nationaler Fluglinien holen die Leute aus Ägypten heraus. Banken und Geldautomaten sind geschlossen, aber an der Rezeption funktionieren die Kreditkarten noch.

Der Himmel ist bedeckt, die Luft weich und feucht. Am östlichen Nilufer schwelen die Überreste des mehrstöckigen Gebäudes von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei.

Die lächelnden Gesichter zweier junger Ägypter auf einer Werbetafel sind vom Brand verschont geblieben.

Ich rase im Taxi zum Büro der Agence France Presse und gebe am Satellitentelefon der Nachrichtenagentur zwei Artikel durch. Mir ist klar, dass ich eine Alternative hierzu finden muss, genauso wie zu Isoldes diplomatischer Internetverbindung, die von der Kommunikationsblockade ausgenommen ist. Die Lösung ist einfach. Meine Kollegen und ich drucken und faxen unsere Manuskripte vom Marriott aus; unsere E-Mail-abhängigen Zeitungen müssen, bis Mobiltelefone und das Internet wieder funktionieren, ihre alten Faxgeräte ausgraben.

Tausende Ägypterinnen und Ägypter aller Altersstufen und Schichten strömen auf der Kasr-el-Nil-Brücke zusammen und gehen dort unter dem Blick der Statue des Khedive Ismail Pascha entlang, der als Herrscher im 19. Jahrhundert das heutige Stadtzentrum erbauen ließ. Sie gehen hindurch zwischen den Paaren riesiger Bronzelöwen, die auf Sockeln sitzend die Brücke an beiden Enden flankieren. Die Menschen tragen Flaggen, Banner und Plakate mit einem einzigen Wort: erhal (verschwinde). Sie blicken sich nach schwarz gekleideter Bereitschaftspolizei und nach den baltagiya, den Schlägertrupps in Zivil um. Die Bevölkerung bewegt sich frei in Richtung Tahrirplatz. Sie gehen an den wachenden Löwen vorbei, zu deren Pranken kleine Jungen sitzen. Am Zugang zum Platz sind behelfsmäßige Barrikaden errichtet und an für Frauen und Männer getrennten Kontrollposten überprüfen Freiwillige höflich die Taschen. Väter mit kleinen Kindern auf den Schultern, Frauen mit oder ohne Kopftuch vermischen sich mit Jugendlichen in T-Shirts, die »al-sh’ab yurid isqat al-nizam« (Das Volk will den Sturz des Regimes) rufen.