Wolken, Land und Wasser

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Wolken, Land und Wasser
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Michael Schenk

Wolken, Land und Wasser

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Leriana

2. Festland in Sicht

3. Die Sichtung

4. Das Volk des Wassers

5. Scharfschnäbel!

6. Handel

7. Von gegenseitigem Nutzen

8. Die steinerne Grenze

9. Vorübergehende Verpflichtungen

10. Eine Insel mit drei Bergen

11. Zum Wohle der Stadt

12. Das unbekannte Land

13. Tod aus der Tiefe

14. Spuren der Vergangenheit

15. Die Delfinreiterin

16. Der Echsenreiter

17. Ein Tropfen im Himmel

18. Von Vergangenheit und Zukunft

19. Unter Verdacht

20. Im Ungewissen

21. Die Pflicht, dem Seevolk zu dienen

22. Die Schößlinge der großen Mutter

23. Eine neue Welt unter Wasser

24.Erkenntnis

25. Das Werkzeug der Rache

26. Die Zusammenkunft

27. Der unentdeckte Feind

28. Der Schatten

29. Erstschlag

30. Unter Beschuss

31. Das Wrack der Endenevaar

32. Den Untergang vor Augen

33. In die Sicherheit des Meeres

34. Notlandung

35. Helfende Hände

36. Gewissheit

37. Das Zeichen des Rauches

38. Von Tod, Leid und Leben

39. Konsequenzen

40. Das Schwingenfeld

41. Vorbereitung auf den Feind

42. Staub am Horizont

43. Die magischen Nüsse

44. Besorgniserregende Kunde

45. Die Wächter

46. Die Losung

47. Der Angriff

48. Todbringende Schwingen

49. Fremde Gefühle

50. Sie sind nicht allein

51. Aus der Tiefe kommt der Tod

52. Kein Entkommen

53. Erneut auf festem Boden

54. Der Sturm der Walven

55. Den Tod vor Augen

56. Der nahe Sieg

57. Wolkenkrieger

58. Ein unerwarteter Gegner

59. Geentert

60. Mit schnellem Ritt und scharfem Tod

61. Kein Tag des Ruhmes

62. Wolken, Land und Wasser

63. Wolken, Land und Wasser: Karte

Impressum neobooks

1. Leriana

Wolken, Land und Wasser

Fantasy

von

Michael H. Schenk

© 2021

An-Nerriva, Handelsschiff der Antari, im Besitz der Handelsfamilie Leri

„Da kommt etwas auf uns zu … Zwei Tausendlängen voraus.“ Lerianas Stimme klang angespannt. „Es ist groß und fest.“

„Du redest Unsinn, Kind. Es kommt nicht auf uns zu, sondern wir schwimmen ihm entgegen. Konzentriere dich. Es ist wichtig, dass du das richtig deutest. Käme es auf uns zu, wäre es ein lebendes Objekt. Da wir ihm uns nähern, handelt es sich jedoch wahrscheinlich um kein lebendes Wesen.“

„Das ist jetzt nicht hilfreich, Vater“, seufzte sie, obwohl sie sich eingestehen musste, dass er natürlich recht hatte.

„Entspanne und konzentriere dich“, schaltete sich nun Meistermagier Donberon ein. „Du weißt, was davon abhängt. Und manövriere nicht aus der Bewegung, sondern aus dem Halt.“

Leriana nickte und dachte an das, was man sie seit Kindesbeinen gelehrt hatte. Den Geist von der eigenen Person freizumachen, ihn auszuschicken und mit seiner Hilfe zu erkennen, was sich außerhalb des Unterwasserschiffes tat. „1.800 Längen voraus. Ein großes und massives Objekt. Es dehnt sich zu den Seiten und in der Höhe aus.“ Sie lächelte unwillkürlich. „Es ist die Steilküste der flachen Gewässer.“

Ihr Vater und der Hochmagier schwiegen und Leriana wusste, dass sie recht hatte. Diese Gewissheit half ihr, sich tatsächlich zu entspannen, trotz der Bedeutung, welche diese Fahrt für sie besaß. Am heutigen Tage prüfte Donberon ihre Fähigkeit des Geistsehens und ob sie künftig in der Lage sein würde, ein Unterwasserschiff, auch in der Finsternis des tieferen Meeres, zu führen.

Leriana war noch sehr jung und stand gerade an der Schwelle, an der ein weibliches Wesen des Wasservolkes zur Frau wurde. Die langen roten Haare waren zu einem Nackenzopf geflochten und das hübsche Gesicht wurde von grünen Augen dominiert. Sie besaß jene weiblichen Formen, die auch einem Mann der Landmenschen gefallen konnten, solange er die Kiemen an den Seiten ihres schlanken Halses ignorierte. An Land bedeckte Leriana diese mit einem verzierten Halsband, denn bei manchen Landbewohnern riefen die Kiemen ungute Empfindungen hervor. Sie trug die eng anliegende Kleidung der Händler des Wasservolkes: rote wadenlange Hosen und eine grüne Jacke, deren Ärmel bis zu den Ellbogen reichten.

Schiff und Besatzung gehörten zu den Antari, einem der Clans des Wasservolkes, die in den seichten Gewässern der Küsten lebten. Die Kiemen erlaubten ihnen das Atmen im Wasser und die Lungen wiederum, sich uneingeschränkt an Land zu bewegen. Der Wechsel zwischen Wasser- und Luftatmung war unkompliziert, jedoch von einem kurzen, schmerzhaften Brennen begleitet.

An diesem Tag führte sie die An-Nerriva. Das Unterwasserschiff war alt und vor vielen Generationen von einem anderen Clan erbaut worden. Damals war sein Rumpf aus Keramik, Klarstein und Stahl das Neueste in der Schiffsbautechnik gewesen. Inzwischen war das Schiff veraltet, da es nicht in mehrere Kammern unterteilt war und es keine metallenen Sprechrohre gab, die eine Verständigung zwischen Bug und Heck erleichterten. Die An-Nerriva maß rund neunzig Längen, war fünfundzwanzig breit und zehn hoch. Von vorne glich sie einer flachen Ellipse, von der Seite einem schlanken Finger. Die Hülle wirkte glatt, wenn man von den flachen Rillen absah, an denen die Keramikplatten der Panzerung aneinanderstießen. Das einst makellose Beige war an vielen Stellen von Grün bedeckt, wo Algen wuchsen. Sie mussten immer wieder mühsam von Hand abgeschabt werden, da sie die Strömungseigenschaften des Schiffes beeinflussten und es langsamer machten. Vorne, am Bug, befand sich die Brücke, die fast rundum mit Klarstein verglast war. Sie bot freie Sicht, sofern das Licht der Sonne bis in jene Tiefe reichte, in der sich die An-Nerriva bewegte. Hinten, am Heck, drehte sich der mächtige Propeller, der das Schiff antrieb und hinter dem die kreuzförmig angeordneten Ruderblätter der Seiten- und Tiefensteuerung montiert waren.

 

Ja, die besten Jahre der An-Nerriva waren vorbei. Sie hatte ihre Karriere als Flaggschiff eines Clans begonnen und nun, nach so vielen Jahren, diente sie dem Handelshaus Leri. Lerianas Vater Lerimont hatte sie günstig erstanden und ihr Rumpf bot genügend Raum, um Handelswaren und andere Güter zu transportieren.

Die Antari des Wasservolkes handelten mit anderen Clans ihrer Art und mit dem Landvolk des nahen Kontinents. Die weiten Wege führten oft durch die ewig finsteren Tiefen des Meeres, in welche das Licht der Sonne nicht reichte. Dann war es überlebenswichtig, dass der Führer eines Schiffes, der Sanari, die Fähigkeit des Geistsehens in Perfektion beherrschte. Dieser Tag sollte zeigen, ob sich Leriana dafür eignete.

Ihr Vater Lerimont war entsprechend nervös. Die grauen Haare und tiefen Falten in seinem Gesicht verrieten sein hohes Alter. Er wollte die Geschicke seines Schiffes möglichst bald in jüngere Hände übergeben und das Handelshaus künftig von der Stadt aus leiten. Er trug die gleiche Kleidung seiner Tochter, doch als Handelsherr stand ihm zusätzlich eine rote Schärpe zu, die um die Taille getragen wurde und deren beide Quasten an der rechten Hüfte herabhingen. Die Blicke von Lerimont pendelten unruhig zwischen der Tochter und jenem Mann, der über ihr Schicksal entscheiden würde.

Hochmagier Donberon war noch deutlich älter als der Handelsherr. Sein Haupthaar und der Vollbart schimmerten silbrig. Er trug die weiße Kappe, Jacke und Hose der Magier und, als Zeichen seines hohen Ranges, eine blaue Schärpe mit goldenen Symbolen. Im Augenblick zeigte sein Gesicht ein sanftes Lächeln, was Lerimont ein wenig beruhigte. Der höchste Magier der Antari schien mit den Leistungen der jungen Leriana durchaus zufrieden.

„Entfernung noch eine Tausendlänge.“ Leriana hätte gerne die Augenbinde abgenommen, die ihr helfen sollte, sich auf das Geistsehen zu konzentrieren. Doch der Blick auf die Instrumente der Brücke oder hinaus ins Meer blieb ihr verwehrt. „Tiefe zweihundert Längen. Kurzarm zurück. Wir müssen langsamer werden.“

Das Schiff war nicht mit Wasser geflutet, obwohl die Kiemenatmung dies zugelassen hätte. Dies war dem Antrieb der An-Nerriva geschuldet, der aus einer langen Antriebswelle bestand, die eine ungewöhnliche Form aufwies. Obwohl sie prinzipiell einer zentralen Achse folgte, ähnelte sie in gewisser Weise einer Ziehharmonika, denn sie wies Ausbuchtungen auf, die einander gegenüberlagen. Diese waren nichts anderes als eingearbeitete Handgriffe. Die Schnelligkeit des Schiffes beruhte auf der Muskelkraft jener Seemänner, die rechts und links der Welle auf ihren Bänken saßen und durch ihre Kurbelei die Drehrichtung und die Geschwindigkeit bestimmten.

Koros, der Steuermann der An-Nerriva, wiederholte Lerianas Befehl. „Kurzarm zurück! Wollos, ich kann deine Armmuskeln genau sehen. Entweder legst du dich in die Welle oder ich schneide dir den Zopf! Verdiene dir dein Armgeld. Kurzarm ist befohlen!“

Der gescholtene Seemann errötete und straffte hastig seine Haltung.

Die Männer stoppten die Bewegung der Welle und drehten sie dann langsam in Gegenrichtung. Die An-Nerriva wurde langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kam.

Der Hochmagier hatte verlangt, dass Leriana das Schiff nicht in der Bewegung steuerte, sondern aus dem Halt. Sie musste die An-Nerriva somit für jede Änderung von Richtung oder Tiefe zum Stillstand bringen. Ein umständliches und zeitraubendes Verfahren, doch auch dies diente dem Magier dazu, die Fähigkeit des Geistsehens zu prüfen. Ein Schiff stand nicht einfach still. Strömungen beeinflussten es. War zudem das Gewicht nicht exakt ausgeglichen, so konnte es absinken oder aufsteigen. Auch diese Bewegungen musste ein fähiger Sanari spüren.

„Wir haben Auftrieb“, stellte Leriana nach kurzer Zeit fest. „Soll ich aufsteigen, Hochmagier, oder ausgleichen?“ Sie konnten Wasser in die Ballasttanks aufnehmen oder dieses mit Pressluft entfernen.

Donberon schüttelte den Kopf. „Du kannst nun frei manövrieren, Leriana, denn du hast ohne Zweifel die Befähigung des Geistsehens und der Rat der Antari wird dir sicherlich die Führung jedweden Schiffes anvertrauen. Steuere die An-Nerriva nun ins flache Gewässer, nahe der Küste“, entschied er.

Lerianas Freude war kaum zu übersehen, obwohl sie sich auf ein Lächeln und eine knappe Verbeugung beschränkte. „Ich danke dir, Hochmagier.“

Dieser sah Lerimont an. „Wo wir schon einmal hier sind, da können wir uns auch umsehen, ob sich lohnendes Handelsgut finden lässt.“

Lerimont nickte. „Dem stimme ich zu. So haben wir doppelten Nutzen aus der Armkraft der Männer. Die Prüfung meiner Tochter und vielleicht lohnende Fracht. An diesem Küstenabschnitt waren wir noch nicht.“

Donberon lachte leise. „Nur fremde Gewässer taugen für die Überprüfung der Gabe.“

„Nimm die Binde ab, mein Kind, und bringe uns näher zur Küste. Wir wollen einmal sehen, welche Schätze diese Wasser zu bieten haben.“

Während Leriana erleichtert die Augenbinde entfernte und ihre Anweisungen gab, entspannte sich nun auch ihre Vater endgültig. „Nun, Hochmagier, was meinst du?“

„Die Magie des Geistsehens ist stark in deiner Leriana, Handelsmeister. Sie wird eine ausgezeichnete Sanari sein.“

Ein solches Lob aus dem Mund des Meistermagiers war eher selten. Lerimont selbst hatte einst von Donberon nur ein „akzeptabel“ als Bewertung erhalten. Umso mehr freute ihn dessen Urteil über seine Tochter.

Leises Knacken war im stählernen Spantenwerk der An-Nerriva zu vernehmen, als sich der Wasserdruck veränderte. Langsam stieg das Handelsschiff auf ebenem Kiel nach oben. Der Bug war auf die Felsen der Steilküste gerichtet. Sie lag noch im ewigen Dunkel, doch je höher das Schiff stieg, desto mehr Sonnenlicht gelangte bis in ihre Tiefe. Zunächst schemenhaft, dann mit aller Deutlichkeit, wurden die schroffen Felszacken vor dem Klarstein des Bugs sichtbar. Das zunehmende Sonnenlicht schien mit seinen goldenen Strahlen gegen die Dunkelheit anzukämpfen und sie immer stärker zu bezwingen, bis die Pracht der Unterwasserwelt in all ihrer Vielfalt sichtbar war.

Die Gewässer vor der Küste dieser großen Insel waren flach. Bis zu zwanzig Tausendlängen vom Ufer entfernt, betrug sie kaum mehr als fünfzig Längen, bis sie an der Steilküste jäh abfiel und der Meeresgrund ins Bodenlose zu stürzen schien.

Die An-Nerriva hob sich über die Kante des Abgrundes und fuhr langsam in das seichte Wasser.

Hier war der Meeresboden mit feinem weißem Sand bedeckt. Felsen ragten aus ihm empor, dazwischen Korallenbänke. Die Zahl an Pflanzen und Fischen war ebenso atemberaubend wie ihre Vielfalt. Jede Farbe war vertreten. Während mancher Fisch ein Einzelgänger zu sein schien, gab es andere, die in dichten Schwärmen lebten und in ihren Bewegungen nach einer unhörbaren Melodie zu tanzen schienen. Obwohl die Unterwasserwelt für Leriana ein gewohnter Anblick war, konnte sie sich noch immer daran erfreuen.

Ein Stück voraus wurden zwei dicht beieinanderliegende Wracks sichtbar. Die gedrungenen Rümpfe waren aus Holz und die geborstenen Planken zeigten, welchen Gewalten die Schiffe zum Opfer gefallen waren. Eines war ein Segler mit drei Masten gewesen. Am Heck des anderen waren die verbogenen Reste eines Propellers zu sehen.

„Alte Schiffe der Landmenschen“, stellte Donberon fest. „Ich glaube, sie stammen aus der Zeit der ersten Landung und der Gründung ihrer Landmark.“

„So fern von den Gewässern der Landmark?“ Lerimont war skeptisch. Ein wenig schaudernd sah er skelettierte, menschliche Überreste an den Wracks.

Donberon nickte. „Ja, so weit von ihrer Mark entfernt. Denke an die Geschichte, die uns ihr Hochlord Nedeam erzählte … Dass sein Volk aus einem anderen Land floh, welches unterging, und dass die große Flotte in einem gewaltigen Sturm auseinandergetrieben wurde. Die Menschen der Landmark erreichten ihre neuen Gestade nur mit Mühe. In geringer Zahl und mit nur wenigen Mitteln. Das ist nun über zweihundertfünfzig Jahre her. Sie wissen noch immer nicht, wohin es die anderen ihres Volkes getrieben hat und ob diese überhaupt überlebt haben. Vielleicht sind sie die Letzten ihrer Art.“

Lerimont seufzte schwer. „Hätten sie Kiemen, so wären sie damals im Sturm nicht ertrunken.“

„So mag es sein, Handelsherr, doch jedes Volk folgt seiner eigenen Bestimmung.“

Sie ließen die Wracks hinter sich und einige Male tauchten Felsen auf, deren Farbe auf ihren Metallgehalt hinwies. Dann schimmerte es golden.

Lerimont trat näher an die Bugverglasung und blickte auf einen beachtlichen Klumpen Gold hinunter. „Ein ziemlicher Brocken“, sinnierte er. „Vielleicht lohnt es sich, ihn zu bergen.“

Der Steuermann trat neben ihn. „Ein enormes Gewicht bei niedrigem Ertrag, Herr. Es wird sich kaum lohnen.“

„Für uns Antari nicht“, gab der Handelsherr zu. „Für uns liegt der Wert in einzelnen Schmuckstücken und darin, dass es luft-, wasser- und säurebeständig ist. Nur ein ganz besonderes Ätzwasser kann es auflösen. Daher haben wir es einst verwendet, um unsere Schiffe gegen Pflanzenbewuchs zu schützen. Es eignet sich auch als Ballast. Aber bei den Landmenschen ist das anders, Koros. Für sie ist das Gold von Wert. Sie pressen es zu goldenen Schüsselchen und benutzen es als Zahlungsmittel.“

„Landmenschen sind verrückt, Herr.“

„Ganz ohne Frage sind sie das“, stimmte Lerimont ohne Zögern zu. „Aber sie sind auch gute Handelspartner. Wir handeln Mehl und Fleisch bei ihnen, dazu Stoffe und viele andere Dinge. So, wie sie auch manche Dinge von uns zu schätzen wissen. Es lässt sich gut mit den Menschen der Landmark Geschäfte machen. Nun, ich denke, wir sollten den Klumpen an Bord nehmen.“ Er wandte sich zu Leriana um. „Wir bergen das Gold, mein Kind. Während kräftige Arme den Klumpen holen, sollten wir ein paar Schwimmer ausschicken. Vielleicht lässt sich hier noch etwas wirklich Wertvolles finden.“

Jetzt, wo etwas Gewinn für das Handelshaus Leri in Aussicht stand, wandelte sich Lerimont wieder vom Vater zum geschäftstüchtigen Handelsherrn.

„Wir gehen über dem Gold auf Anker“, entschied Leriana. „Dann können wir die Winde nutzen, um das Gewicht aufzunehmen. Steuermann Koros, du wirst das überwachen. Stelle drei Seemänner ab. Sie und ich werden uns hier umsehen, während du die Fracht an Bord holst.“

Hier hatten sie Licht und klare Sicht. Leriana konnte auf die Magie des Geistsehens verzichten. Jeder Antari besaß diese Fähigkeit, doch sie war sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei ihr war sie früh erkannt und gefördert worden, so dass sie inzwischen besser darin war, als ihr Vater oder Steuermann Koros.

Von langsamen Armbewegungen vorangetrieben, schwamm die An-Nerriva zur Position des großen Goldklumpens und kam über ihm erneut zum Stillstand. Die große Frachtluke an der Unterseite wurde aufgekurbelt. In der großen Öffnung schimmerte das klare Wasser des Meeres.

„Fallen Anker“, befahl Leriana.

Am Bug und Heck lösten sich die pilzförmigen Anker aus Stahl und schlugen auf dem Boden auf. Zwei Seemänner strafften die haltenden Ketten, bis sich das Schiff nicht mehr bewegte. Während Koros die meisten Männer darin anleitete, die Winde in Position zu bringen, betrachtete Lerimont den beachtlichen Brocken mit wachsender Unsicherheit.

Lag dieser Batzen Gold nur lose auf dem Meeresgrund auf, so war er zwar schwer, konnte jedoch geborgen werden. War er hingegen nur die Spitze einer Ader und fest mit dieser verbunden, dann würde man ihn mühevoll abtrennen müssen. Mit dem an Bord verfügbaren Werkzeug würde dies eine schwere und zeitraubende Arbeit werden.

 

Leriana kümmerte sich nicht um das Gold. Sie akzeptierte es als Handelsware mit den Landmenschen. Ansonsten hatte sie nur in sofern Verwendung für das glänzende Zeug, wie es Schiffspropeller und Ruderblätter zuverlässig gegen Bewuchs schützte.

Leriana bevorzugte es, wie alle Antari nackt zu schwimmen, doch in diesem Fall ließ sie ihre Kleidung an. Auch wenn das Land unter Wasser meist friedvoll wirkte, so fand in Wahrheit jedoch ein steter Kampf ums Überleben statt. In der Regel fraßen die Großen die Kleinen, doch es gab Ausnahmen, bei denen es umgekehrt war. Dabei brauchte man keine Zähne oder Kieferplatten, um die Beute zu töten. Manches potenzielle Opfer schützte sich durch giftigen Schleim auf der Haut, um nicht als Mahlzeit zu enden. Gifte und Säuren waren auch bei den Pflanzen weit verbreitet und so wollte Leriana sich, so weit es ging, bei einer unachtsamen Berührung schützen.

„Sanari.“ Einer der drei ausgewählten Seemänner benutzte die Anrede des Schiffsführers und dies machte Leriana erst richtig bewusst, was sie an diesem Tag erreicht hatte. Auch wenn man ihr offiziell noch kein Schiff anvertraut hatte, so besaß sie nun das Anrecht auf den Ehrentitel. Der Mann hielt ihr ein unterarmlanges Rohr entgegen. „Das hier wirst du vielleicht benötigen.“

„Du hast recht“, dankte sie ihm. „Wir wissen nicht, was hier herumschwimmt. So, wie sich die Schwärme im Augenblick verhalten, befindet sich kein Räuber in der Nähe, doch das kann sich schnell ändern.“

Jeder von ihnen war nun mit einem sogenannten Pfeilspeer bewaffnet. Vorne am sehr schlanken und nur armlangen Rohr war eine geschmiedete Spitze befestigt, in deren Mitte eine Bohrung sichtbar war. Das Ende des Speers war etwas dicker und ein kleiner Hebel ragte aus ihm hervor. Im Endstück befand sich eine wieder aufladbare Pressluftpatrone. Wenn man den Auslöser betätigte, so wurde ein metallener Pfeil abgeschossen, der auf einer Entfernung von bis zu fünfzig Längen tödlich wirken konnte. Verfehlte man das Ziel, so blieb noch die metallene Speerspitze, um anzugreifen oder um sich zu verteidigen.

Kein Angehöriger des Wasservolkes nahm leichtfertig ein Leben, doch die Liebe zu den verschiedensten Bewohnern der Meere ging nicht so weit, auf eine Mahlzeit zu verzichten oder selber zu einer zu werden. Abgesehen von Tieren, Fischen und Pflanzen existierten außerdem noch intelligente Lebensformen, die einander nach dem Leben trachteten. Leriana schätzte sich glücklich, im Schutz des Wassers zu leben. Ihr Vater erzählte ihr immer wieder, dass die Wesen an Land oft Kriege gegeneinander führten, und wie gefährlich es sei, den Fuß auf den Boden einer Insel oder eines Kontinents zu setzen.

Leriana wies den drei Seemännern die Richtungen an, in denen sie das Flachwasser erkunden sollten. Sie selbst wählte die Richtung zum Ufer der Insel, vor der die An-Nerriva nun ankerte. Dann ließ sie sich als Letzte durch die Luke ins Wasser gleiten.

Der Schmerz war kurz, als die Kiemen auf die Berührung des Wassers reagierten und sich die Atmung auf sie umstellte. Leriana nahm die sanften Bewegungen der Kiemendeckel kaum wahr, während sie die ersten Schwimmbewegungen machte. Hier, in diesem Teil des Meeres, befand man sich in Süßwasser. Ein Antari brauchte es nicht erst zu kosten, um das zu wissen. Das anfängliche Brennen von Salzwasser in den Kiemen fehlte, die Berührung an der Haut war sanfter, die Augen brannten nicht so schnell und man brauchte etwas mehr Kraft für die Bewegungen, denn salziges Wasser trug einen Körper leichter.

Die alten Legenden besagten, das Wasservolk habe einst an Land gelebt und keine Kiemen besessen. Leriana hielt dies für ein Schauermärchen, wie man sie gerne erzählte, um kleine Kinder zu erschrecken. Ihr Körper war jedenfalls ausgezeichnet an das Leben auf dem Land und im Wasser angepasst und die junge Frau benutzte die Schwimmhäute, die sich ansatzweise zwischen den Fingern und den Zehen befanden.

Leriana kam rasch voran, genoss den Anblick der Umgebung und achtete zugleich darauf, ob sich eine Gefahr zeigte oder ein wertvoller Fund lockte.

Die Schwärme verhielten sich normal und zeigten keine Furcht vor einem Raubfisch. Einzelne Fische und kleine Gruppen suchten am Boden oder zwischen den Korallenstöcken nach Fressbarem. Gelegentlich gab es Streitigkeiten und einmal beobachtete Leriana, wie ein eingegrabener Berobarsch versuchte, einen kleineren Fisch zu fressen, der ahnungslos an dem riesigen Maul vorbeischwamm.

Sie sah eine Vielzahl verschiedener Muscheln, ein paar Seesterne und Krabben, und dann sah sie den Lichtputzer.

Es war ein alter Lichtputzer. Er war sicher so lang und breit wie ein ausgewachsener Antari, jedoch so dünn wie ein Finger. Der mit braunem Chitin gepanzerte Leib bestand aus einer Vielzahl hintereinander angeordneter Glieder. Die Bewegungen des Lebewesens ähnelten denen einer Schlange, nur dass sie nicht seitlich, sondern im Auf und Ab erfolgten. Die an den Außenseiten der Segmente angeordneten Beine ruderten dabei durch das Wasser. Die Bewegungen des Lichtputzers waren nicht elegant und wirkten schwerfällig, doch das Wesen kam voran.

Für Leriana stellte sich sofort die Frage, wohin dieser Meeresbewohner wollte. Die Bezeichnung Lichtputzer rührte von der Eigenheit des Wesens her, alles Schimmernde und Glänzende zu suchen, sich darauf niederzulassen und es zu putzen, in dem es die darauf angesiedelten Pflanzenteile und Kleinstlebewesen verspeiste. Oftmals fand der Lichtputzer seine gedeckte Speisekarte an einem Objekt, welches bei fast allen Völkern begehrt war: jenen Kristallsäulen, die nur im Meer heranwuchsen.

Kurz entschlossen folgte Leriana dem Wesen. Eigentlich war nicht zu erwarten, dass sie hier, in den flachen und küstennahen Gewässern, auf Kristall stoßen würde, doch der Lichtputzer war alt und sicher erfahren. Er trieb sich nicht ohne Grund hier herum.

Sie sah sich aufmerksam um, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen, und führte sachte Schwimmbewegungen aus. Der Meeresbewohner war langsam und so konnte sie sich beinahe treiben lassen. Glücklicherweise waren Lichtputzer nicht gerade schmackhaft und wurden daher von den meisten Raubfischen ignoriert. Er fühlte sich daher sicher und würde auch Leriana nicht als Gefahr sehen, wenn er sie vor die zwei Dutzend Augen bekam, die sich vorne am Kopfsegment befanden.

Leriana schätzte, dass sie ungefähr die Hälfte der Strecke zum Ufer zurückgelegt hatten. Das Wasser war kaum noch dreißig Längen tief. Es würde schwierig sein, die An-Nerriva hier zu manövrieren. Am besten fuhr sie aufgetaucht. Natürlich nur, wenn sich die Fahrt überhaupt lohnte.

„Was will der verdammte Lichtputzer hier?“, dachte sie mit zunehmender Enttäuschung. „Will der an Land ein Sonnenbad nehmen?“ Die Vorstellung belustigte sie.

Dann war der Lichtputzer plötzlich verschwunden.

Leriana verharrte überrascht. Eben hatte sie ihn noch gesehen und nun, von einem Moment zum anderen, war er fort.

Sie leckte sich über die Lippen und schwamm langsam auf die Stelle zu, an der sie den Lichtputzer noch im Blick gehabt hatte. Da war ein heller Fleck am Boden, von einem Ring aus Dunkelheit umgeben. Was mochte das sein?

Als sie näher kam, erkannte sie, wohin der Lichtputzer geschwommen war. Ihr Gefühl, dass er sie zu einem lohnenden Ziel führen könnte, hatte sie nicht getrogen.

Da war eine kleine, aber tiefe Senke zwischen den Korallenbänken. Inmitten der Vertiefung stand das, was als Handelsware begehrt wurde: einer der seltenen Kristallstöcke. Die sechskantigen, als Säule wachsenden Strukturen, hatten verschiedene Eigenschaften, die von den Völkern auf unterschiedliche Weise genutzt wurden. Einige verarbeiteten den Blaukristall als Schmuck, andere nutzten seine Fähigkeit, das Licht zu leiten oder dessen Energie zu sammeln. Am wertvollsten war er wahrscheinlich für die Magier, da Blaukristall ihre Fähigkeiten angeblich verstärken konnte.

Leriana sah eine zentrale Säule von rund einer Länge Durchmesser und vier Längen Höhe, umgeben von der „Blüte“, einer Gruppe von fünf Kristallen, die wesentlich kleiner waren. Ihr war sofort bewusst, welchen Wert dieser Fund darstellte.

Sie war so fasziniert von der Entdeckung, dass sie für einen Moment nicht auf ihre Umgebung achtete.

In diesem Augenblick der Unachtsamkeit griff der Dornfisch an.

Zu ihrem Glück suchte sich der Räuber den Lichtputzer als Beute aus, da dessen dunkler Leib sich deutlich von der schimmernden Zentralsäule abhob, während Leriana halb von den umgebenden Korallen verdeckt war.

Der Dornfisch war ein ausgewachsenes Exemplar und sicher doppelt so groß wie Leriana. Fast ein Drittel des schlanken, stromlinienförmigen Körpers wurde von dem, nun weit geöffneten, Maul eingenommen. Drei Reihen scharfer Zähne waren eine tödliche Waffe, doch als am gefährlichsten galt das gut eine Länge messende Horn. Es stellte eine Verlängerung des Oberkiefers dar und wurde als Dorn bezeichnet. Es war schlank, spitz und in sich gedreht, so dass es furchtbare Wunden riss, wenn es in einen Körper eindrang.

Leriana sah den silbern schimmernden Leib des Raubfisches aus den Augenwinkeln. Wie ein Schemen huschte er auf den Lichtputzer zu, der eifrig über die Kristallsäule huschte und den Angreifer wohl erst bemerkte, als es bereits viel zu spät war.

Der Dornfisch spießte die Beute nicht auf, sondern nutzte die günstige Gelegenheit, sie direkt zwischen die Kiefer zu nehmen und diese zu schließen. Die sich im Wasser ausbreitenden Schallwellen ließen Leriana ein dumpfes Knacken hören, als der Chitinpanzer zerbrach.

Der Leib eines Lichtputzers enthielt kaum Körperflüssigkeit und Leriana war erleichtert, als sich keine Wolke aus Blut im Wasser ausbreitete. Wo ein Dornfisch war, da befanden sich normalerweise auch andere in der Nähe. Blut lockte sie unwiderstehlich an. Vielleicht konnte man einem einzelnen Räuber entkommen, doch niemals einer ganzen Jagdgruppe.

Leriana duckte sich tiefer zwischen die Korallen, welche die Senke umgaben. Instinktiv packte sie den Pfeilspeer fester und beobachtete den Gegner. Der Dornfisch zerlegte seine Beute nun in mundgerechte Portionen und schlang sie hinunter. Einzelne Beine und Panzerteile des Lichtputzers sanken auf den Meeresboden.

Die Gedanken von Leriana überschlugen sich.

Sie war nach ihrer Schätzung gute zwei Tausendlängen von der An-Nerriva entfernt. Keine Chance, den Schutz des Schiffes zu erreichen und dabei dem viel schnelleren Jäger zu entkommen. Natürlich konnte sie versuchen, ihn mit dem Speer zu töten, doch im Gegensatz zum Lichtputzer enthielt der Dornfisch eine Menge Körperflüssigkeit. Dornfische konnten kleinste Mengen an Blut über viele Tausendlängen Entfernung wittern. Der Tod ihres Gegners würde zahlreiche weitere anlocken.

Eine weitere Möglichkeit für sie war es, die kleine Signalpfeife zu benutzen, die jeder Schwimmer bei sich trug. Der im Wasser weit tragende Ton würde die An-Nerriva alarmieren, allerdings auch die Aufmerksamkeit der Dornfische auf Leriana ziehen.

Letztlich konnte sie versuchen, sich weiterhin zwischen den Korallen versteckt zu halten, und darauf hoffen, dass sich der Dornfisch nach vollendeter Mahlzeit davon machte.

Leriana entschied sich dafür, zurück zum Unterwasserschiff zu schwimmen und nach Möglichkeit eine direkte Auseinandersetzung mit dem Raubfisch zu meiden.

Dieser trieb noch immer an der zentralen Kristallsäule. Von seinem Opfer waren nur ein paar unverdauliche Überreste geblieben, die verstreut am Meeresboden in der Mulde lagen.