Loe raamatut: «SCHUTZENGEL ASIL»

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Michael Siemers

SCHUTZENGEL ASIL

oder WIE SCHÜTZT MAN EINEN TOLLPATSCH

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel Lisa

2. Kapitel Asil

3. Kapitel Frühstück mit einem Engel

4. Kapitel Schweinebacke

5. Kapitel Klassenzicke Tabea

6. Kapitel Frau Knickbusch

7. Kapitel Asils Rache

Hinweis

Impressum neobooks

1. Kapitel Lisa

"Mein Gott, Lisa!", rief Maren Bergmann entsetzt, als ihre Tochter Lisa samt Schulranzen die Treppe hinunter stürzte. Dabei leerte sich der Ranzen und der gesamte Inhalt verteilte sich auf den Stufen. Unten angekommen sprang sie auf und rief: "Nichts passiert! Hat nicht wehgetan!"

Hastig nahm Maren ihre Tochter in den Arm und tastete vorsorglich Lisas Kopf ab.

"Ist dir wirklich nichts passiert?", fragte sie dennoch. Durch Marens Schrei kam auch Lisas Vater Robin aus der Stube und fragte: "Was ist denn jetzt schon wieder?"

Die Frage zeigte deutlich genug, dass Lisas Missgeschicke zum Alltag der Bergmanns gehörte. Der Blick auf die Treppe, auf dessen Stufen die ganzen Schulsachen verstreut herumlagen, beantwortete seine Frage. Ihm fiel die Socke auf, die auf einer der obersten Stufen lag. Die Vermutung lag also nahe, dass Lisa auf eben dieser Socke ausgerutscht war. Eine Socke, die wahrscheinlich aus dem Wäschekorb gefallen war, als Maren diesen nach unten trug. Robin ging in die Hocke und sah Lisa mitleidig an. Wie es aussah, hatte sie sich nicht verletzt und sie blickte recht munter drein.

"Geht es dir wirklich gut, Schatz?", fragte er fürsorglich.

"Hatte mir zwar den Kopf an der Wand gestoßen, aber zum Glück lag da das Kissen aus dem Wohnzimmer", antwortete Lisa und rieb sich den Hinterkopf. Die Eltern sahen sich verblüfft an. Beide konnten sich nicht erklären, wie das Kissen hier herkommen konnte. Denn keiner der beiden hatte es vom Sofa genommen und auch Lisa war die ganze Zeit über oben in ihrem Zimmer gewesen.

"Schon merkwürdig", wunderte sich Robin, "wie damals im Garten, als sie von der Leiter fiel. Genau auf die Karre mit Rasenschnitt. Dabei war ich mir sicher, dass ich diese hinter dem Schuppen abgestellt hatte."

Dass Lisa häufig auch Glück im Unglück hatte, bezog ihre Mutter darauf, dass ihre Tochter einen fleißigen Schutzengel dabei hatte. Eine Meinung, die ihr Mann ganz und gar nicht mit ihr teilte.

"Sie muss wirklich einen Schutzengel haben", bemerkte Maren mehr für sich und drückte Lisa fest an sich. Prustend erhob Robin sich aus der Hocke und belächelte seine Frau.

"Schutzengel", spottete er, "Schutzengel sind Fabelwesen oder Märchenfiguren. Die laufen doch nicht mit der Schubkarre durch die Gegend und fangen fallende Mädchen auf. Lass das bloß keinen hören!"

Lachend ging er wieder hinaus und Maren hörte noch, wie er spöttisch ihre Vermutungen wiederholte. Sie dagegen glaubte schon daran. Wenigstens versuchte sie es. Schon wegen ihrer Tochter Lisa.

Lisa war ein zehnjähriges Mädchen und lebte mit ihren Eltern in einem Reihenhaus in Hamburg. Sie war ein ruhiges Kind mit langen blonden Haaren und braunen Augen. Für ihre Eltern war sie der kleine Sonnenschein. Aber gleichzeitig auch ein Sorgenkind. Denn seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte sie nur noch Pech. Wenn sie gerade mal nicht krank war, passierten ihr andere Missgeschicke. Sie stolperte, stieß ständig irgendwo an oder verursachte Unfälle. Das nahegelegene Kinderkrankenhaus Wilhelmsstift in der der Lilienkronstraße kannten Lisa. Knochenbrüche, leichte Verbrennungen, Gehirnerschütterungen und andere, zum Glück, nur leichte Verletzungen, füllten ihre Krankenakte. In der Notaufnahme begrüßten die Krankenschwestern sie schon beim Vornamen. Daraufhin erfolgte ein kurzes Telefonat mit dem diensthabenden Arzt mit den Worten: "Lisa ist wieder da."

Als Lisa mal gegen einen Laternenpfahl lief, zog sie sich eine Gehirnerschütterung zu und wurde mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht. Beim Ausladen fiel sie den Sanitätern von der Trage und im Krankenzimmer stieß sie gegen einen Kleiderständer, der unglücklicherweise gegen den Feueralarmknopf fiel und somit einen Alarm auslöste. Der Chefarzt der Kinderklinik riet den Eltern, Lisa besser mit nach Hause zu nehmen. Vermutlich hatte er Angst, dass Lisa noch mehr Unheil anrichten würde und seine Klinik in Schutt und Asche legen könnte.

Auch in der Schule lief es nicht so, wie es sich die Eltern wünschten. Zwar hatte Lisa keine Schwierigkeiten beim Lernen, doch gab es da immer wieder Spannungen zwischen ein paar Mädchen und ihr. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Lisa einen Streich zu spielen oder sich über ihre Missgeschicke zu amüsieren. Auf Nachfragen hin aber wich Lisa aus und wollte einfach nicht darüber reden. Auch ihre Klassenlehrerin, Frau Knickbusch, tat es als allgemeine Hackordnung unter Mädchen ab. Ihre Mutter hatte aber die Angewohnheit, alles zu hinterfragen und gab sich mit einer oberflächlichen Aussage nie zufrieden. Das wiederum empfand Lisa schrecklich anstrengend und oberpeinlich dazu. Hinzu kamen die Nörgeleien und ständigen Ermahnungen ihrer Mutter, die nicht gerade zu einem friedlichen Alltagsleben verhalfen.

Es war ein ganz normaler Montag. Lisa hatte, bis auf den Treppensturz, das Wochenende ohne nennenswerte Schwierigkeiten überstanden. Die Nacht zum Montag hatte sie stets Schwierigkeiten einzuschlafen. Denn es sollte wieder eine Woche der Schikane und Demütigungen eingeläutet werden. Nicht nur die Klassenzicke Tabea, sondern auch deren Freundinnen, Marina und Pia, setzten ihr oft genug zu. Keiner in der ganzen Klasse wagte es, Lisa zu beschützen oder ihr in irgendeiner Weise zu helfen. Denn alle hatten Angst, selbst Opfer zu werden. Nicht einmal die Jungen trauten sich. Tabea war für ihr Alter sehr kräftig. Marina hatte einen großen Bruder und Pia kannte Jungen, die in einer anderen Schule ihr Unwesen trieben. Lisa dagegen hatte niemand und so wurde sie mehr oder weniger als Einzelgängerin abgestempelt. Erschwerend war natürlich ihre Tollpatschigkeit, die für Lästereien und Belustigungen sorgten. Häufig waren es auch die Streiche jener, die versuchten, sich bei Tabea anzuschmeicheln. Je gemeiner sie waren, umso größer war die Chance, von ihr respektiert zu werden. Ob man Lisa eine tote Maus in die Jackentasche schmuggelte oder Saft in den Ranzen schüttete. Der Schultag endete oft mit Tränen der Verzweiflung. Nur ganz selten vertraute sich Lisa ihrer Mutter an. Zwar wurde sie immer wieder ermuntert sich auszusprechen, aber wirklich geholfen hatte es nicht. Wenn es dann wirklich mal zu einem Gespräch zwischen Eltern und Lehrern kam, wurde es von Tabea und ihren beiden Freundinnen abgestritten oder heruntergespielt. Andere Kinder wollten sich plötzlich nicht mehr daran erinnern oder behaupteten, dass Lisa lügt und sie eine blühende Fantasie hätte. Was dann folgte, waren erneute Attacken, die Lisa über sich ergehen lassen musste. Also zog sie es vor, gar nicht erst darüber zu reden.

So sollte auch dieser Montag mit den gewohnten Hänseleien enden und Lisa mit einer nassen Jacke nach Hause gehen lassen. Irgendjemand hatte die Jacke in einem, mit Wasser gefüllten, Waschbecken getaucht und die wieder an den Haken gehängt.

"Was ist denn mit deiner Jacke passiert?", fragte ihre Mutter besorgt, als Lisa das Haus betrat.

"Die, die ist mir in eine Pfütze gefallen", log Lisa schulterzuckend. Maren zog die Stirn kraus, denn es hatte tagelang nicht geregnet und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass auf dem Schulweg eine Pfütze war. Aber, so vermutete sie, Lisa hatte ja ohnehin das Pech, in ein Unglück zu laufen, wo es hätte gar nicht passieren können. Eigentlich hätte diese Antwort aus Lisas Sicht reichen müssen. Maren aber gab nicht nach und wollte genau wissen, wo denn diese genannte Pfütze war und wieso denn überhaupt eine vorhanden war.

"Oh Mama", sagte Lisa genervt, "es ist doch egal, wo sich die Pfütze befindet und ob es draußen trocken ist. Meine Jacke ist nass und gut ist es!"

Maren war sofort klar, dass Lisa wieder Opfer einer Schikane war und beharrte auf eine ehrliche Antwort.

"Das sehe ich nicht so", widersprach sie energisch, "entweder lügst du mich an oder du verheimlichst mir etwas. Und höre gefälligst auf, mit den Augen zu rollen. Ich mache mir eben Sorgen."

Lisa prustete aus und wiederholte ihre Aussage noch einmal, mit dem Hinweis, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte. Sie hatte einfach keine Lust, mit ihrer Mutter über ihre nasse Jacke zu reden. Maren gab es für diese Minute auf und sagte: "Gut, aber jetzt gehst du bitte auf dein Zimmer, räumst deine Sachen weg und wäscht dir anschließend die Hände. Wirf die Jacke in die Badewanne. Ich wasche sie noch heute durch. Wir essen in zehn Minuten. Und vergiss nicht, deinen Ranzen auszupacken und die Blumen auf deiner Fensterbank zu gießen. Bei der Gelegenheit kannst du …"

"Mama!", unterbrach Lisa ihre Mutter, "Ich bin kein Baby mehr!"

"Anscheinend doch!", widersprach Maren streng, "Wenn ich nicht ständig hinterher bin, passiert da oben gar nichts!"

Noch bevor Maren den Satz beendete, drehte sich Lisa gleichgültig um und wollte auf ihr Zimmer.

"Drehe mir gefälligst nicht den Rücken zu, wenn ich mit dir rede!", herrschte sie ihre Tochter an.

"Ich dachte, du bist fertig!", verteidigte sich Lisa. Da ihre Mutter nichts mehr darauf antwortete, fragte Lisa in einem unwirschen Ton: "Darf ich jetzt rauf?"

Maren nickte und griff sich wütend einen Lappen, den sie über die Tischkante wischte. Eine Angewohnheit, die sie bei Streitereien mit Lisa oder ihren Mann Robin hatte. Lisa vermutete, dass ihre Mutter sich damit abreagierte.

Auf ihrem Zimmer warf Lisa wie gewohnt den Ranzen gleichgültig auf den Boden und die nasse Jacke ließ sie achtlos daneben fallen. Beleidig ließ sie sich rücklings auf das Bett fallen und starrte die Zimmerdecke an.

"Tu dies, mach das, denke daran. Mäg, mäg, mäg. Immer dasselbe Theater", fluchte sie leise vor sich hin, "warum muss ich so eine Nervensäge als Mutter haben? Kann sie nicht einmal ihren Mund halten? Ständig macht sie Stress."

Es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen, da stand Maren im Zimmer. Zum einem, um Lisa zum Essen zu holen und zum anderen, sich wieder über ihre Tochter aufzuregen. Der Ranzen und die nasse Jacke lagen auf dem Boden, die Blumen waren nicht gegossen und überhaupt sah das Zimmer wieder unmöglich aus. Sie konnte Lisas Gleichgültigkeit nicht verstehen. Wie immer kümmerte sie sich letztlich selbst darum und gab entsprechende Kommentare ab. Ein ganz normaler Tag für Lisa. Alles war blöd. Die Schule, die Lehrer, die Hausaufgaben, die Mutter, die Pflichten. Eben einfach alles. Lisa war sogar überzeugt, dass es anderen Kindern besser erging. Tolle Eltern, die sich um alles kümmerten und ihren Kindern nicht ständig blöde Aufgaben verpassten. Tag ein Tag aus immer der gleiche Ärger.

"Was für ein schreckliches Leben ich doch habe", dachte Lisa voller Selbstmitleid, "warum haben sie mich denn geboren, wenn sie Kinder nicht mögen?"

Lieb waren ihre Eltern immer dann, so glaubte Lisa, wenn sie sich verletzte. Dann wurde alles getan, damit es ihr wieder gut geht

2. Kapitel Asil

Am Abend lag Lisa in ihrem Bett und konnte nicht einschlafen. Ständig dachte sie über alles Mögliche nach, ohne auch nur einen Gedanken zu Ende zu bringen. Dabei ging es ihr nicht nur um die zahlreichen Missgeschicke, sondern auch um den ständigen Streit mit dieser hochnäsigen Tabea und ihren Freundinnen. Das belastete Lisa schon so sehr, dass sie dieser Tabea die Pest an den Hals wünschte oder auch einen kleinen Unfall, nach dem sie für ein paar Monate im Bett bleiben musste. Auch die Bevormundung ihrer Mutter konnte sie nicht ertragen. Vormittags die Schule. Nachmittags die Mutter und abends dann noch der Vater, der natürlich der gleichen Meinung war wie seine Frau. Lisa vermutete, dass er nur seine Ruhe haben wollte und deswegen alles bestätigte, was ihre Mutter von sich gab. Wie sie das hasste. Immer sollte alles sofort passieren. Alles musste immer ordentlich sein. Sie konnte nicht begreifen, weshalb jemand putzte, wenn es doch gar nichts zu putzen gab. Für Lisa war das reine Zeitverschwendung.

"Wen interessiert denn schon, wie es hier aussieht?", dachte Lisa bei sich, "Sollen die doch die Tür zu machen. Ist doch schließlich mein Zimmer. Und da kann ich hausen, wie ich will."

Das kleine Nachtlicht über ihrem Bett spendete gerade mal soviel Licht, dass sie das Zimmer und dessen Einrichtung, mit samt ihrer Unordnung, erkennen konnte. Den bunt bemalten Schrank an der Wand, die vielen bunten, selbst gemalten Bilder. Die Garderobe, an der ihre Sachen für den nächsten Tag hingen und das neu angebrachte Poster von Justin Bieber. Ihren überladenen Schreibtisch, auf dem sich die Puppen und Plüschtiere stapelten und ihren Stuhl, auf dem ein Mädchen saß. Ein Mädchen? Erschrocken fuhr Lisa hoch. Sie traute ihren Augen nicht und ihr war zum Schreien zumute. Doch brachte sie keinen Ton heraus. Sich die Augen reibend, starrte sie erneut auf den Stuhl. Tatsächlich saß da ein Mädchen und guckte sie an. Es sah beinahe so aus wie Lisa, nur hatte sie ihren Scheitel auf der anderen Seite. Sie trug eine Jeans, Turnschuhe und ein gelbes Shirt. Lisas Herz pochte wie wild und sie wagte nicht, sich zu bewegen. Immer wieder kniff sie ihre Augen zusammen, in der Hoffnung, dass sie sich das alles nur einbildete. Doch so oft sie auch ihre Augen wieder öffnete, das Mädchen saß immer noch da und blickte auf Lisa. Nicht freundlich, aber auch nicht unfreundlich. Sie guckte einfach nur so. Eher teilnahmslos. Als wenn sie sich kannten und sie auf Lisa wartete.

"Wer, wer bist du? Wie, wie bist du hier hereingekommen?", fragte Lisa verwundert. Für Sekunden dachte sie daran, einfach um Hilfe zu rufen. Doch überwog die Neugier über ihre Angst. Das fremde Mädchen legte leicht den Kopf zur Seite.

"Ich bin dein Schutzengel", antwortete sie leise und richtete ihren Kopf wieder auf, als wollte sie Lisa genauer betrachten. Dabei dreht sie den Stuhl so, dass sie Lisa direkt ansehen konnte.

"Schutzengel?", wiederholte Lisa ungläubig, "Es, es gibt doch keine Geister!"

"Ich bin ja auch kein Geist", antwortete das Mädchen ruhig. Lisas Blick tastete das Mädchen ab, als verglich sie es mit irgendeinem anderen Mädchen. Nein, dieses Mädchen hatte sie noch nie gesehen. Und doch glaubte sie, das Mädchen zu kennen. Es schon mal irgendwo gesehen zu haben. Obwohl ihr unheimlich zumute war, erschien es ihr, dass sie nichts zu befürchten hätte. Das Mädchen sah nicht gefährlich aus und notfalls hätte Lisa ja um Hilfe schreien können.

"Schutzengel", wiederholte Lisa spöttisch und schien sich langsam wieder zu fangen, "Schutzengel sind unsichtbar und existieren gar nicht."

"Existieren sie nicht oder sind sie unsichtbar?", fragte das Mädchen und schmunzelte über Lisas Aussage. Lisa machte sich darüber keine Gedanken. Sie vermutete, dass das Mädchen hier einfach eingedrungen war. Eine Diebin vielleicht. Gleichzeitig aber fragte sie sich, weshalb? Wieso hier bei ihr? Was gäbe es hier schon zu stehlen? Und wie verdammt ist sie hier hereingekommen? Die Haustür war abgeschlossen und die Fenster waren auch zu.

"Wie bist du überhaupt hier hereingekommen?", fragte Lisa und begutachtete das fremde Mädchen noch intensiver. Dabei schätzte sie ein bisschen die Größe ab und rechnete sich ihre Chance aus, wie weit sie sich gegen dieses Mädchen zur Wehr setzen konnte. Stärker als Lisa schien sie nicht zu sein. Überhaupt hatte sie nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein. Aber ein bisschen unheimlich war ihr schon zumute. Der Gedanke, dass dieses Mädchen trotz verschlossener Haustür in ihrem Zimmer saß, war nicht gerade beruhigend. Da hätte ja sonst jemand sitzen können.

"Ich komme überall herein", antwortete das Mädchen gelassen und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, als begutachtete sie die Unordnung in Lisas Zimmer.

"Blödsinn", wehrte Lisa ab, "es gibt doch gar keine Geister. Du willst mich doch nur auf dem Arm nehmen."

Das Mädchen lächelte, stand auf und setzte sich wie selbstverständlich zu ihr auf die Bettkante, worauf Lisa verängstigt ein Stück zurückwich. Dabei bemerkte sie, dass sich weder die Bettdecke, noch das Bett bewegte. Es schien, als sei sie federleicht. Dennoch war sie darauf bedacht, das fremde Mädchen nicht zu berühren. Diese sah ihr fest in die Augen und erklärte: "Ich sagte doch, dass ich kein Geist bin, sondern dein Schutzengel. Ich bin hier, um dich zu beschützen."

Lisa sah sie misstrauisch an. Das Gesicht, die Augen, den Mund und die Haare. Alles kam ihr bekannt vor. Doch konnte sie das Mädchen nirgends zuordnen. Sie glaubte ihr kein Wort und Schutzengel gab es auch keine. Davon war sie überzeugt. Denn nach all ihren Unglücksfällen hätte sie zehn erfahrene Schutzengel benötigt und keine zehnjährige Praktikantin. Obwohl Lisa sehr aufgeregt war, so ging von dem Mädchen eine ungewöhnliche Ruhe aus, die sich offenbar auf sie übertrug.

"Mich zu beschützen?", wiederholte Lisa beinahe spöttisch, "Wo warst du denn, als ich letzte Woche mit dem Rad stürzte? Ich vorgestern die Treppe hinunterfiel oder vor zwei Wochen, als ich gegen eine geschlossene Glastür gelaufen bin?"

Das Mädchen blickte kurz auf den Boden, zuckte mit den Schultern und antwortete lächelnd: "Ich war da und habe Schlimmeres verhütet."

Lisa schüttelte den Kopf. Sie nahm weiterhin an, dass das Mädchen ihr nur eine Gruselgeschichte auftischen wollte. Sie glaubte auch nicht daran, dass es Schutzengel gibt. Engel sahen ihrer Meinung doch ganz anders aus und liefen nicht in Jeans und Turnschuhen herum. Schon gar nicht saßen sie auf dem Bett und erzählten Schauermärchen.

"Schlimmeres verhütet", wiederholte sie abfällig, "ich bin immerhin mit dem Rad auf das Pflaster geknallt und habe mir das ganze Knie aufgeschlagen!"

"Weil ich gegen dein Vorderrad getreten habe. Damit habe ich Schlimmeres vermieden", erklärte das Mädchen ruhig. Lisa atmete scharf ein. "Was für ein Schutzengel soll das sein, die andere zum Stürzen bringt?", dachte sie bei sich. Aber neugierig wurde sie trotzdem. Vor allem, was denn hätte denn Schlimmeres passieren können? Sich das ganze Knie aufzuschlagen und tagelang durch die Gegend humpeln zu müssen war ihrer Ansicht nach ja wohl schlimm genug. Also fragte sie: "Ach, und was bitte wäre schlimmer gewesen?"

"Deine Bremsen funktionierten nicht und du wärst unweigerlich auf die Straße gefahren, auf dem sich gerade ein Auto näherte."

Lisa bezweifelte es zwar, erinnerte sich aber auch daran, dass kurz nach ihrem Sturz tatsächlich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit vorbeibrauste. "Das aber könnte ja auch ein Zufall gewesen sein", dachte sie bei sich. Lisa begann, neugieriger zu werden. Denn es kam ja nicht alle Tage vor, dass ein wildfremdes Mädchen auftauchte und behauptete, ein Schutzengel zu sein. Mehr aber wunderte sie sich darüber, dass das Mädchen von dem Fahrradsturz wusste. Denn außer ihren Eltern, hatte es keiner gesehen und erzählt hatte sie es auch niemandem. Dennoch zweifelte sie, wusste aber nicht, was sie fragen sollte. Interessiert musterte sie das Mädchen, was, je länger sie es betrachtete, ihr immer ähnlicher sah. "Aber", dachte sie bei sich, "das liegt sicherlich nur an der Beleuchtung."

"Das Fahrrad war neu. Woher sollte ich denn wissen, dass die Bremsen nicht funktionieren. Außerdem hat mein Papa selbst gesagt, dass so etwas nicht passieren darf", rechtfertigte sich Lisa.

"Du hättest es trotzdem vorher testen können", erklärte das Mädchen bestimmend, "du oder wenigstens dein Vater."

"Nun", dachte Lisa bei sich, "besser wäre es schon gewesen."

Hinzu kam, dass ihr Vater ja die Schuld hatte und nicht sie. Das änderte zwar nichts an diesem Unglück, beruhigte Lisa aber ein bisschen. Denn immer die Schuld zu haben, war auf Dauer recht langweilig. Allmählich begann Lisa ein wenig Vertrauen zu dem Mädchen zu bekommen und saß nicht mehr so verkrampft und stocksteif in ihrem Bett. Auch wenn es ihr noch ein bisschen unheimlich war, so wollte sie mehr über das fremde Mädchen wissen.

"Hast du einen Namen?", fragte Lisa vorsichtig.

"Asil", antwortete das Mädchen knapp. Lisa wiederholte den Namen ein paar Mal, als wollte sie sich an ein Mädchen mit diesem Namen erinnern.

"Asil, und weiter?"

"Nichts weiter, einfach nur Asil."

"Du, du musst doch einen Nachnamen haben, oder nicht?", fragte Lisa misstrauisch.

"Nein, habe ich nicht."

"Alle Kinder haben einen Nachnamen!", belehrte Lisa sie. Asil hob nur die Schultern und wiederholte: "Ich bin dein Schutzengel und nicht irgendein Kind."

Lisa sah sie skeptisch an, versuchte, etwas Ungewöhnliches zu erkennen. Doch sah Asil aus wie jedes andere Kind auf der Straße. Keine Flügel, keinen Heiligenschein, nichts.

"Du siehst aber gar nicht aus wie ein Engel", stellte sie fest und begutachtete Asils Kleidung.

"Wie sehen denn deiner Meinung nach Engel aus?" stellte Asil die Gegenfrage.

"Naja, klein, dick, mit einem Heiligenschein und Flügeln auf dem Rücken", erklärte Lisa sich erinnernd.

"Und vermutlich mit nacktem Hintern und einer Harfe in den Händen, was?" lachte Asil amüsiert.

"Engel, die auch noch witzig sind", dachte Lisa bei sich, "ich dachte, die schweben und singen den ganzen Tag in der Gegend herum." Aber anscheinend war dem nicht so.

"Ja, so ähnlich. Was gibt es denn da zu lachen?", fragte Lisa verwundert. Hat sie doch häufig genug diese Abbildungen in Kirchen und Büchern gesehen.

"Erstens bin ich kein Engel, sondern ein Schutzengel und zweitens wurden diese Engelbildnisse von Menschenhand geschaffen. Sie entstanden ihrer Fantasie."

"Und warum habe ich dich vorher nie gesehen?", fragte Lisa weiter.

"Weil es nicht vorgesehen war", antwortete Asil, "bei dir ist es etwas anderes. Bei deiner Tollpatschigkeit war die Verletzungsgefahr besonders groß. Meine Aufgabe besteht nun darin, dir beizubringen, selbst auf dich aufzupassen und Gefahren rechtzeitig zu erkennen, dich in der Schule durchzusetzen und mit deiner Mutter besser klarzukommen."

Lisa verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. Das Mädchen, besser gesagt dieser Engel tat ja so, als könnte sie nicht selbst auf sich aufpassen. Lisa wusste sehr wohl, dass sie ein kleiner Unglücksrabe war und ihr die unmöglichsten Pannen passierten. Unfälle, die man doch gar nicht vorausschauen konnte. Oder doch?

"Ich bin also tollpatschig, oder was?", fragte Lisa gereizt. Sie hatte keine Lust sich auch noch von einer fremden Besucherin beleidigen zu lassen. Denn das hatte sie oft von Anderen hören müssen. Ihre Eltern, Großeltern, Kinderarzt und auch Nachbarn waren der Meinung, dass sie ein Tollpatsch war.

"Tollpatschig nicht gerade …", antwortete Asil nachdenklich, "sagen wir mal, ein bisschen ungeschickt."

"Ich hatte eben nur Pech, das ist alles", verteidigte sich Lisa, "Jeder fällt mal die Treppen hinunter, rutscht aus oder stößt sich den Kopf."

"Der Unterschied ist nur, dass es dir mindestens dreimal in der Woche passiert. Dass du auf dem Hinweg auf einer Bananenschale ausrutscht und auf dem Rückweg wieder ", erklärte Asil. Lisa schmollte und sah beleidigt in eine andere Richtung.

"Ich meine", fuhr Asil fort, „wenn du blindlings in der Gegend herumläufst, ist es doch nur verständlich, dass du stolperst, ausrutscht oder irgendwo gegen läufst."

"Kann ich denn ahnen, dass meiner Mutter etwas aus dem Wäschekorb fällt? Könnte ja besser darauf aufpassen, oder nicht?" widersprach Lisa trotzig.

"Ein kurzer Blick auf die Stufen und du hättest die Socke gesehen, auf der du ausgerutscht bist", antwortete Asil. Lisa wunderte sich und fragte sich, wie in aller Welt sie davon wissen konnte. Es war, außer ihren Eltern, niemand im Haus. Sie war immer noch davon überzeugt, dass sie für all ihre Missgeschicke nichts konnte.

"Dann war es auch meine Schuld, dass die blöde automatische Glastür nicht aufging, oder was?" protestierte Lisa lautstark. Sie konnte es gar nicht leiden, dass Asil ihr auch noch die dafür Schuld geben wollte. Sie empfand das Mädchen nicht nur als frech, sondern auch noch als unverschämt. Immerhin war sie hier ohne zu fragen in ihr Zimmer eingedrungen.

Tasuta katkend on lõppenud.

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