Paris 1959

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Paris 1959
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Über dieses Buch

Im Jahr 1959 bricht der zwanzigjährige Michel Contat auf nach Paris, in die Stadt der Träume, des Ruhms und der Er­nüchterungen. Er schreibt sich an der Sorbonne ein und wohnt Zimmer an Zimmer mit seinem Freund Michel ­Thévoz, ihre Vermieterin trägt wie zu Kriegszeiten Zeitungen gegen die Kälte unter ihren Kleidern und legt ihnen Bücher von Marx und Engels vor die Tür.

Sie arbeiten sich durch «Das Sein und das Nichts», bei Kälte im Café Bonaparte in der vagen Hoffnung, Sartre zu sehen, der im dritten Stockwerk wohnt. Sie gehen ins Kino, ins Theater und verbringen ganze Nächte in Jazzlokalen.Sie verachten de Gaulle und de­monstrieren gegen den Algerienkrieg. Als Contats Vater mit ihm nach Berlin reist, um ihn von den linken Ideen abzubringen, fährt er dort mit dem Taxi ins Ber­liner Ensemble zu den Brecht-Inszenierungen, während der Vater im Hotel fernsieht. Am Ende wird er aus politischen Gründen aus Frankreich ausgewiesen.

Contat erzählt persönlich und offen, er verschweigt weder seine Einsamkeit noch seine Nöte, unter denen er in seiner Schüchternheit und Unschuld leidet – auch wenn die Liebe am Ende auch ihm zuteil wird. Contats Erzählung ist ein Selbstporträt, das für eine ganze Gene­ration steht.


Michel Contat, geboren 1938 in Bern, wächst in Lausanne auf. Nach dem Studium in Paris arbeitete er als Lehrer in der Schweiz und ging 1968 zurück nach Paris, wo er ein Mitarbeiter von Jean-Paul Sartre und zu einem der besten Kenner von dessen Werk wurde, das er für die Bibliothèque de la Pleïades herausgab. Er arbeitete als Autor, Filmer, Kritiker und Journalist und veröffentlichte zahlreiche Publikationen, zuletzt das autobiografische Werk Ma vie, côté père.

Eva Moldenhauer, geboren 1934, lebt als Übersetzerin in Frankfurt am Main. Ihre Übersetzungen von Claude Simon, Claude Lévi-Strauss, Jorge Semprun und anderen wurden vielfach ausgezeichnet, 2012 wurde sie für ihre Verdienste um die französische Kultur zum Chevalier de l’ordre des Arts et des Lettres ernannt.

Michel Contat

Paris 1959

Notizen eines Waadtländers

Nachwort von Luc Weibel

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

Limmat Verlag

Zürich

Für Teddy

Mir scheint, dass seit C.F. Ramuz kein Lausanner so sehr von Paris geträumt hatte wie ich. In seinem ­Paris. Notizen eines Waadtländers, geschrieben 1938, dem Jahr, in dem ich geboren wurde, schreibt er, er sei 1902 am Gare de Lyon ausgestiegen, um sechs ­Monate in der Hauptstadt zu verbringen unter dem Vorwand, sein Doktorat über Maurice de Guérin ­vorzubereiten, und sei mit einigen Unterbrechungen zwölf Jahre dort geblieben, ohne je eine einzige Zeile seiner Dissertation zu Papier zu bringen.

Von alledem wusste ich nichts, doch meiner Großmutter war es vermutlich nicht unbekannt; sie hatte Ramuz gekannt, sie selbst hatte in den 1890er Jahren einige Zeit in Paris gelebt, Rue Caulaincourt. Sie hatte keine Angst, dass ich endgültig auswandern könnte, und mein Vater, der sich erbot, mein Studium in Paris zu bezahlen, hatte wohl auch seine Hintergedanken. Ich würde dort das Leben kennenlernen, jenes Leben, von dem ich, wie er meinte, keine Ahnung hatte, er, der Amazonen mit langen Beinen nachlief, und würde dann wieder in die Heimat zurückkehren. «Man kann nämlich nach Paris kommen, um einfach zu lernen, aber man kann auch nach Paris kommen, um da Paris zu erlernen», schreibt unser Ramuz.

Als ich im September 1959, ein gutes halbes Jahrhundert und zwei Weltkriege später, dort ankam, wollte ich Vorlesungen hören und, so hoffte ich, mein ganzes Leben dort verbringen. Wegen des Algerienkriegs und meines Engagements, das ich seinetwegen einging, wurde in Frankreich einige Jahre lang ein Aufenthaltsverbot über mich verhängt, aber ich kehrte sehr oft heimlich nach Paris zurück (es genügte, nicht im Hotel abzusteigen), dann habe ich mich dort niedergelassen und schließlich den größten Teil meines Erwachsenenlebens dort verbracht. Ich habe diese Stadt geheiratet; als ich die französische Staatsbürgerschaft annahm, hatte ich das Gefühl, offiziell um ihre Hand anzuhalten.

Mein Verlangen nach Paris entstand in meiner ­Jugend: Es war die Stadt der Schriftsteller und der Künstler, die Stadt, mit der es jeder aufnehmen muss, der die Bücher dem Leben vorzieht und ahnt, dass diese Vorliebe eine grundlegende Unangepasstheit an das verrät, was die anderen von einem erwarten. Allerdings wusste ich nicht, was die anderen von mir erwarten mochten. Wahrscheinlich bloß, dass ich mein Brot verdiente und nicht unglücklich wäre. Meine Mutter hatte sich abgerackert, meinen Bruder und mich großzuziehen, denn mein Vater, von dem sie geschieden war, zahlte unseren Unterhalt nur sehr unregelmäßig und kümmerte sich kaum um uns. Ich mochte die Schule, die meisten meiner Lehrer empfanden Sympathie für mich trotz der chronischen Undiszipliniertheit, die mir bei meinen Kameraden eine gewisse Popularität eintrug. Der klassische Fall des ohne väterliche Autorität Heranwachsenden, der die Autorität der Repräsentanten des Staats provoziert, um die Grenzen seiner eigenen Macht herauszufinden. Manche landen aus diesem Grund im Gefängnis.

Zu Hause war ich meiner Mutter gegenüber die Nettigkeit in Person, um die Brutalität meines ­Bruders auszugleichen. In der Schule sammelte ich ­Ver­wei­se und Strafen: Zwischen fünfzehn und neunzehn wäre ich mehrmals beinahe rausgeflogen; jedes Mal genügte ein Besuch meiner Mutter beim Schulleiter – der diese schöne elegante Frau ebenso charmant wie verdienstvoll fand –, um die Dinge zu regeln. Sie hielt ihr Plädoyer und ging mit der Zusicherung, man werde sich wohlwollend meiner annehmen. Sie dankte mit einem Lächeln, dass man ihr am liebsten die Hand geküsst hätte. Ich versprach, mich zu bessern. Und ich setzte meine Dummheiten fort. Natürlich nichts wirklich Schlimmes.

Kurz vor der Matur wurde ich dann doch nervös: Würde ich dieses verdammte Papier jemals bekommen? Nie hatte ich die geringste Mühe auf Fächer verwendet, die mir nicht zuflogen. Mein Freund Michel Thévoz, Student der Literaturwissenschaft, der zwei Jahre älter war als ich, verbrachte das Jahr in Paris, in der École du Louvre, und wir schrieben uns regelmäßig. Eines Tages erhielt ich einen Brief von ihm, in dem er mich beinahe väterlich ermahnte, was überhaupt nicht seine Art war. Wenn ich mich in Mathematik und Geometrie nicht anstrengte, würde ich beim Bac durchrasseln, denn zu schlechte ­Noten in diesen beiden Fächern würden ausreichen, um durchzufallen.

Der Brief tat seine Wirkung. Sonst eher unbekümmert, stellte ich mir nun vor, wie ich mein Leben verpfuschte und auf einer mediokren Arbeit sitzen bliebe. 1959 dachte in der Schweiz niemand an Ar­beitslosigkeit, falls man die Matur nicht bestand. Man wusste einfach, dass man dann einen handwerklichen Beruf ausüben würde. Was mich betraf, so hatte ich nie ernsthaft ein Handwerk ins Auge ­gefasst. Da ich viel las und in Französisch begabt war, hielt man es seit der vierten Klasse für ausgemacht, dass ich Literatur studieren würde. Ich selbst wusste nicht wozu, jedenfalls nicht, um Lehrer zu werden.

Mein Großvater mütterlicherseits war in Deutschland Privatlehrer gewesen, dann Deutschlehrer, schließlich hatte er in Lausanne eine Privatschule gegründet. Mein Großvater väterlicherseits wiederum, den ich nicht gekannt habe, war Französischlehrer gewesen und dann in Bern ein hoher Beamter geworden. Man hatte mir erzählt, dass er Anatole France so sehr bewunderte, dass seine Freunde ihn Anatole Suisse nannten. Ich glaube, dass er einige literarische Ambitionen hatte, denen er aber nie ernsthaft nachging. Ich glaube auch, dass er von seinem Sohn, Jean, enttäuscht war. Dabei hatte dieser sein Jurastudium absolviert und seine Dissertation verteidigt, aber seiner Mutter machte er Kummer, da er verschwenderisch war und davon träumte, in Paris, in Berlin zu leben. Seine Geburtsstadt Bern fand er hoffnungslos provinziell. Der angesehene und allerseits verehrte Freund der Künste ließ diesem Sohn wohl nicht viel Raum, wo er hoffen konnte, seine Achtung zu erringen. Bevor er an Krebs starb, hatte er noch Zeit, dessen Braut gutzuheißen; allerdings bezweifelte er, dass es diesem verschwendungssüchtigen Sohn gelingen würde, ihr das Gut aller Güter zu verschaffen, nämlich materielle Sicherheit.

Die Familie Contat, aus Savoyen gekommen, war im Wallis mit Glaswaren zu Reichtum gekommen, aber meine Großeltern hegten andere Ambitionen als die Fabrik und den Handel und wurden dabei kontinuierlich ärmer. Mit zwölf oder dreizehn verstand ich, dass die wenigen Hektar Weinberg, die wir in der Nähe von Sion besaßen und die es uns ermöglichten, Ende des Sommers zur «Traubenlese» zu gehen, die Überreste eines sehr viel größeren Besitzes waren, den man jedoch Parzelle für Parzelle hatte verkaufen müssen. Wir kehrten mit Kisten voller Trauben nach Lausanne zurück, die schnell vertrockneten, und einen Teil davon mussten wir wegwerfen. Ich sah darin ein Symbol für die weltlichen Güter: Sie verschwanden, bevor man sie hätte genießen können.

Die Familiengespräche lenkten mich eher zu den geistigen Früchten. Aufseiten der Contats kultivierte man die Ironie. Von mütterlicher Seite, der letzten einer Reihe von Pastoren und Lehrern, erfuhr ich recht schnell, dass hier keinerlei Erbe mehr zu erwarten war. Die Krise von 1929 hatte meinen Großvater zur Verzweiflung gebracht, der aus Liebe eine schöne Deutsche geheiratet hatte, aber auch mit dem Grundbesitz ihrer Familie in Pommern rechnete, um endlich seinen Anteil an klingender Münze in die École Nouvelle einzubringen, die er mit einem reicher gesegneten Partner gegründet hatte. Die fernen Besitztümer waren gegen Brot verkauft worden, das jeden Tag mit ganzen Fuhren voller Reichsmark gekauft wurde, wie man erzählte, was mich ungemein beeindruckte. Lange Zeit verschwieg man mir, dass meine wunderbare Großmutter mit einem Geiger durchgebrannt war, nachdem mein Großvater, in der Liebe ebenso glücklos wie in Geschäften, von seinem Partner zugunsten vermögenderer Fremder aus der Schule verdrängt worden war. Dank Beziehungen erhielt er einen bescheidenen Posten im Bundesamt für Statistik.

 

Welch ein Abstieg für einen Literaten! Er umgab meine Vorfahren mütterlicherseits mit einem Hauch Melancholie. Die Schwester meiner Mutter hatte ei­nen Kaufmann geheiratet, der prosperierte. So gab es in der Familie einen Zweig, wo die Ware, wenn sie schon nicht geachtet wurde, einen ernährte, sogar gut ernährte und zu einem Luxus verhalf, den wir zu Hause entbehrten. Wenn wir meine Tante besuchten und ich im blühenden Garten mit meinen beiden bezaubernden Cousinen spielte, fühlte ich lebhaft den Unterschied zu unseren Verhältnissen. Jedenfalls waren meine Eltern so geschickt, nur reiche Freunde zu haben, die auf großem Fuß lebten, sodass wir bei dem Versuch, es ihnen, und sei es nur entfernt, gleichzutun, immer ein wenig über unsere Verhältnisse lebten und unsere Großeltern und Freunde uns oft zu Hilfe kommen mussten.

Meine Großmutter väterlicherseits, eine Malerin und eine höchst tugendhafte Frau, bestärkte mich in der Verehrung der Künstler, mit denen sie und ihr Mann zu der Zeit verkehrt hatten, als er Vizekanzler der Eidgenossenschaft war, ein Posten, den er in eine Art Kultusministerium zu verwandeln verstand. So konnte er wegen einer Aufenthaltsgenehmigung ganz konkret Rainer Maria Rilke helfen sowie der Geliebten des Dichters, Baladine Klossowska, der Mutter von Pierre Klossowski und Balthus, dem späteren Maler, die beide für kurze Zeit Mitschüler meines Vaters im Gymnasium von Bern waren.

Im Gegensatz zu meinen Eltern war meine Großmutter nicht snobistisch, sie lebte voller Unschuld in ihrer künstlerischen Welt, die nicht unbedingt verlangte, dass sie ihre Bilder verkaufte. Diese waren die unentgeltliche Zierde aller Häuser ihrer weitläufigen Verwandtschaft. Bedenkenlos drängte sie ­meine Eltern zu dem katastrophalen Entschluss, meinen Bruder in der École des Beaux-Arts einzuschreiben, sobald er eine gewisse Begabung für das Zeichnen hatte erkennen lassen, jedoch keinerlei Talent für die Arbeit. Er würde der Künstler der Familie sein. Noch heute frage ich mich, ob sie jemals daran glaubte oder nicht intuitiv ahnte, dass ihm damit ein paar Jahre Aufschub gewährt wurden in einer Welt, die den Träumern feindlich gesinnt war.

In jener Zeit träumte ich ausgiebig. Nicht von einem Ausnahmeschicksal, sondern von einem Leben, das von den Freuden der Erkenntnis und der irdischen Vergnügen erhellt wurde. Zweifellos würde ich schreiben, aber ich dachte nicht daran, Schriftsteller zu werden, nicht nur, weil ich nicht die geringste Vorstellung von dem Beruf hatte, den das mit sich brachte, sondern auch deshalb, weil meine mit Literatur und Kino übersättigte Fantasie nicht auf eigene Rechnung arbeitete. Ich stellte mir keine Bücher vor, die ich schreiben könnte, ich führte mein Tagebuch, und ich fürchte, es war von desolater Plattheit. Einige Hefte haben den bedauerlichen Tag überlebt, an dem meine Mutter versehentlich alle anderen wegwarf, als sie den Keller aufräumte. Sie sind voller Fragen nach meiner Fähigkeit zum Glück. Dabei war ich glücklich und sogar sehr, aber ich konnte es nicht ausdrücken, denn der Zeit stand der Sinn nicht nach einer Literatur der Sorglosigkeit. Jedenfalls setzte ich der Melancholie meiner Mutter und dem brutalen Charakter meines Bruders erbitterten Widerstand entgegen.

Paris wurde für mich zum Ort des einzigen Glücks, das zählte: desjenigen des Künstlerlebens. Denn es ging weniger darum, Werke zu schaffen, als das Leben eines schöpferischen Menschen zu führen. Paris hatte ein Herz, das mit dem meinen übereinstimmte: nicht der Montmartre Steinlens, wo meine Großmut­ter ein Jahr in Kontakt mit diesem Meister ein überaus keusches Malerleben führte, sondern der Jardin du Luxembourg, das von André Gide.

1959 landete also ein naiver, fast jungfräulicher Waadtländer, der knapp die Matur bestanden hatte, in Paris, um hier Literatur zu studieren und in der Nähe des Luxembourg zu leben, weil André Gide, der acht Jahre zuvor gestorben war und den meine literarische Generation nicht mehr las, seine Kindheit in der Rue de Médicis, dann in der Rue de Tournon verbracht hatte.

Was hatte ich bei Gide gefunden? Nicht das «Familien, ich hasse euch» aus Die Früchte der Erde. Die meine weckte in mir nicht derart extreme Gefühle. Vielmehr begeisterten mich Lafcadio, sein «acte gratuit» und seine Aufgeschlossenheit, die ich im Tagebuch wiederfand; das verschlang ich an wunderbaren Vormittagen, an denen ich die Schule schwänzte, um zu lesen, wie man atmet, auf einem gepflegten Rasen im Park Denantou liegend, der für mich der Mittelpunkt meiner Lausanner Jugend bleibt. Dort las ich auch die Bekenntnisse von Rousseau, und ich brauchte nur die Augen zu heben, um die Landschaft der Neuen Heloise zu sehen. In Die Falschmünzer fand ich mich selbst wieder, auf mehrere Personen verteilt, die alle Gide sind und die im Jardin du Luxembourg die Verwirrung einer zweideutigen Verführung erleben.

Dieser Ort wurde für mich ein magischer Ort, weil er meinem innersten Wesen, das dem von Gide sehr ähnlich war, eine Umgebung verlieh: «Es gibt in mir einen kleinen Jungen, der spielen will, und einen Pastor, der ihn schilt.» Ganz Paris, das ich aus Filmen kannte, war der Ort, wo der groß gewordene kleine Junge unbedingt spielen wollte, in der richtigen ­Entfernung von der Familie aus Pastoren, die ihm prompt nur wenig verhüllte Vorwürfe machten. «Mit welchem Geld?», fragte meine Mutter mit kummervoller Stimme, als ich ihr erzählte, dass ich einen neuen Film gesehen hatte, der auch ihr gefallen hätte, denn sie liebte das Kino, das aufzusuchen ihr aber die Mittel fehlten. Fünfhundert Kilometer schienen mir die richtige Entfernung zwischen mir und diesen schmerzhaften Vorwürfen zu sein. Meine Mutter begleitete mich zum Bahnhof, sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie mich an sich drückte, und der Zug flog meinen Wünschen entge­gen.

Der Schock der Realität war hart. Bisher hatte ich mich nur zweimal kurz in Paris aufgehalten, in ebendiesem Jahr Anfang des Sommers, um auf Einladung meines Vaters mein Bac zu feiern. Er stieg nur in den guten Hotels ab, im Hotel de Bourgogne hinter der Nationalversammlung, im Cayré, Boulevard Raspail; er liebte die Restaurants der Champs-Élysées, die «Brasserie du Colisée». Es war nicht mein Paris, es war das meines Vaters, das Paris von Jean Gabin in der zweiten Hälfte seiner Karriere, dem Jean Contat vorsätzlich stark zu ähneln begonnen hatte.

Am ersten Tag stand ich im Morgengrauen auf und unternahm allein einen langen Spaziergang aufs Geratewohl, der mich zu Les Halles führte, wo ich das Gefühl einer Initiation ins Reale hatte. Obst und Gemüse schimmerten in der Sonne, die Käse schienen im Dunkel vom Lächeln der Milchhänd­lerin erleuchtet zu werden, den Lastträgern schien es gut zu gehen, die Fleischstücke strotzten vor Gesundheit, sie ähnelten in keiner Weise denen von Soutine. Ich hatte Der Bauch von Paris im Kopf, er schien mir plötzlich in übertrieben düsteren Farben von einem Griesgram geschrieben zu sein. In meinem Herzen kam eine mächtige Freude auf angesichts der Auslage all dieser verzehrbaren Reichtümer, Milchhändlerinnen eingeschlossen.

Ich glaube, mein Vater hatte geahnt, dass ich hin- und hergerissen war zwischen der mütterlichen ­Melancholie und den sinnlichen Gelüsten, denen er selbst freien Lauf zu lassen beschlossen hatte. Als Amerikafreund zitierte er gern den Spruch des epikureischen Materialismus: «Life ist uncertain, eat dessert first», und es betrübte ihn ein wenig, mich mit zwanzig Jahren das Leben eines zu schüchternen und zu keuschen kleinen Puritaners führen zu sehen, als läse er in meiner Tugend ein Ressentiment, eine dumpfe Verurteilung seines eigenen Lebens. Er war im Begriff, zum dritten Mal zu heiraten, nachdem er durch die Schuld der Kasinos, die er frequentierte, eine besonders mittellose Zeit durchgemacht hatte.

Diesmal heiratete er eine reiche und von der Natur nicht eben begünstigte Frau seines Alters. Er hatte begonnen, mir diese Verbindung als Vernunftehe mit einer Gefährtin vorzustellen, die das Leben gebeutelt habe und der er die Freude an schönen Dingen zurückgeben wolle. In einem Restaurant auf dem Weg nach Paris, in Avallon, wo wir schlemmten, hatte er beim Dessert ausgepackt. Er deutete auf eine eher hässliche Fünfzigjährige einige Tische weiter und vertraute mir gähnend an: «Nun, siehst du, mein Junge, neben der Frau, die ich heiraten werde, ist diese dort Gina Lollobrigida.» Dieser Zynismus schien mir der amüsanten Person Don Ameche in Ein himmlischer Sünder von Lubitsch – mit dem ich meinen Vater wegen seiner ewigen Abwesenheit entschuldigte –, besser zu entsprechen, um diese geschmacklose Heirat zu erklären, als das plötzliche Verantwortungsgefühl eines nun ein geregeltes Leben führenden Jean Gabin.

Vermutlich konnte ich nur schlecht akzeptieren, dass er Opfer brachte, um mein Studium zu bezahlen. Dabei war das einer der wirklichen Gründe für diese Geldheirat. Einer der Gründe und sicher nicht der erste. Er wollte bequem und angenehm leben, war aber nicht bereit, den Preis dafür zu zahlen, das heißt seine Gattenpflichten zu erfüllen, er, der hübsche und kostspielige junge Geliebte hatte. Was mich betraf, so wollte er seinen Vaterpflichten nachkommen, ohne mich zu verwöhnen, mir jedoch eine Studentenjugend in der Stadt meiner Träume ermöglichen. Was damals 350 (neue) Francs im Monat bedeutete. In Wirklichkeit hatte mein Vater keine Ahnung, was das Leben eines Studenten in Paris ­kostete, er hatte wohl Freunde befragt, die andere befragt hatten, und die Zahl, die wie beim Roulette dabei herausgekommen war: 350 Francs. Damit müsse ich zurechtkommen. Für Notfälle gab er mir die Adresse einer Kindheitsfreundin, die im Pariser Büro der Metro Goldwyn Mayer arbeitete und mit ihrer Mutter in der Nähe des Parks der Buttes-Chaumont wohnte, einem Ort, der für mich jeglicher literarischer Mythologie entbehrte.

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