Loe raamatut: «Trust me - Blindes Vertrauen»

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Table of Contents

  Prolog Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Epilog

Moni Kaspers

Trust me – Blindes Vertrauen



Copyright @ 2020 Doderer Verlag

Lektorat: Kristina Licht

Umschlaggestaltung: Kristina Licht

Titelabbildung: Shutterstock

Satz: Lina Jacobs

ISBN: 978-3-9821804-0-3

Nur der ist blind, der nicht sehen will


Verzweifelt und vom Glück vergessen,

Dämonen und Schatten, die Seelen fressen.

Vor Erinnerung und Unglück flüchtend,

Zuneigung und Liebe fürchtend.

Des Kämpfens müde, auf der Reise,

doch plötzlich klopft das Wunder leise.

Prolog

Nur langsam näherte er sich der massigen, männlichen Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm auf einer Parkbank saß. Die herabhängenden Schultern und der auf die Brust geneigte Kopf erzählten eine kleine Geschichte über den inneren Zustand des Mannes. Leon kannte die Geschichte, er kannte sie viel zu gut. Es war schließlich auch seine. Sie waren untrennbar miteinander verbunden.

Einen Moment blieb Leon unter der ausladenden Kiefer stehen, deren Zweige beinahe hinüber bis zu jener Bank reichten. Er sog den beruhigenden und intensiven Duft ihres tropfenden Harzes ein, dann setzte er seinen Weg über den watteweichen Nadelboden fort zu der Gestalt, die dort auf ihn wartete. Als Jasper ihn bemerkte, drehte er den übergewichtigen Körper leicht in seine Richtung, dann wandte er ihm das Gesicht zu und sah ihm entgegen.

Leon hob kurz die Hand zum Gruß, doch sein Bruder drehte sich nur wortlos wieder um. Er schob Jaspers Rollator beiseite, um ihn begrüßen zu können, beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn kurz. Für Außenstehende mochte es kühl wirken, doch das Band zwischen seinem jüngeren Bruder und ihm war innig.

„Schön, dass du da bist“, sagte Jasper und griff in eine Tüte mit Erdnüssen. Er nahm welche heraus und schob ihm den knisternden Beutel zu. „Auch welche?“ Leon lehnte dankend ab. „Meine Psychologin hat mir dazu geraten“, erklärte Jasper. „Immer wenn mich die Sucht überkommt, soll ich Nüsse essen. Die Mühe, sie zunächst aus der Schale zu brechen und herauszupulen, um dann die winzige Frucht zu essen, hält mich momentan von Fressattacken ab.“

„Es scheint zu helfen“, stellte Leon fest. „Du hast bereits abgenommen.“

„Ja, Gott, das habe ich. Dank eines Ernährungsprogrammes an der Uni. In Kürze bin ich sogar so weit, ein Magenband einsetzen zu lassen.“

„Das klingt super! Du machst offenbar Fortschritte. Was sagt Raven dazu?“

„Sie hat mich verlassen.“

Diese Nachricht hatte Leon nicht erwartet. War die Trennung etwa der Grund für Jaspers Bitte um ein Treffen?

„Ernsthaft? Sie ist weg?“, hakte er noch einmal nach. „Warum?“

„Sie hat ihre Klamotten gepackt, den Autoschlüssel genommen und Abflug.“ Er ahmte ein startendes Flugzeug nach, was im Zusammenhang irgendwie sinnlos war.

„Einfach so? Hat sie nichts gesagt?“

„Doch. ‚Fick dich‘, hat sie gesagt.“

Leon hätte beinah gelacht. Es war so unglaublich absurd.

„Hast du je mit ihr darüber geredet? Ich meine, du weißt schon …“ Er wollte die Sache nicht beim Namen nennen und eigentlich hatten sie das Arrangement getroffen, nie wieder drüber zu reden. Jasper warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und schnaubte dabei.

„Was denkst du denn? Natürlich nicht. Ich habe jahrelang versucht, keinen Gedanken daran zu verschwenden. Jeder noch so kleine Dämon in meinem Kopf wurde sofort vernichtet. Meist mit Essen, leider. Denkst du, da will ich endlos lange Gespräche darüber führen? Womöglich hätte Raven sich dadurch zur Therapeutin berufen gefühlt und mich mit pseudoschlauen Sprüchen angeödet. Es hat mich überhaupt gewundert, dass sie sich auf mich eingelassen hat. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so lange durchhält. Sieh mich an. Ich bin ein Fettklumpen.“

„Aber du kämpfst dagegen an.“

„Zu spät, würde ich behaupten. Wir haben wohl beide unsere Zwänge, nicht wahr?“ Jasper betrachtete ihn von oben bis unten. „Obwohl ich neidisch zugeben muss, dass deine Zwänge dich verflucht gut aussehen lassen.“

Leon antwortete nicht darauf, aber Jasper hatte recht. Sie beide quälten sich, jeder auf seine Art. Sein Bruder, indem er wahllos alles in sich hineinstopfte und er, indem er seinem Körper immer das Letzte abverlangte. Muskeln und Verzicht bedeuteten alles für ihn. Ein Tag ohne schmerzende Glieder war ein verschwendeter Tag. Jaspers seelischer Panzer bestand aus einer gigantischen Fettmasse, seiner dagegen aus Kraft und Muskeln.

„Raven liebt dich. Und du liebst sie.“

„Ja, das tu‘ ich, aber auf meine Weise. Wenn sie das nicht mehr ertragen kann, dann verstehe ich das und dann muss sie eben gehen.“

„Du willst sie nicht zurückholen?“

„Da kennst du Raven aber schlecht.“

„Du wirst keine mehr finden, die das alles genauso akzeptiert, wie sie es getan hat. Du solltest versuchen, sie zurückzugewinnen.“

Jasper richtete sich auf, streckte sich ein wenig und drehte den Kopf schräg zu ihm. Sein Blick ging durch Leons Augen bis in seine Seele.

„Ich bin traurig, Leon, aber sie hat es verdient, glücklich zu sein und ich kann ihr nicht geben, was sie braucht. Was soll sie mit mir? Darum ist es besser so, auch wenn es mich zerreißt.“ Er beugte sich näher zu ihm, die Erdnusstüte zwischen ihnen knisterte. „Ich habe dich wegen etwas anderem hergebeten.“

Leon schob den Unterkiefer vor und atmete hörbar aus. „Also doch.“

„Du bist leider schwer zu erreichen. Ich habe oft angerufen.“

Leon blickte zu Boden, er bekam ein schlechtes Gewissen. Natürlich hatte er die zahlreichen Anrufe seines Bruders gesehen, doch er war nicht immer in der Lage, sofort zu reagieren, nur weil Jasper es wollte.

„Ja, ich weiß. Ich war unterwegs“, versuchte er abzutun.

„Natürlich. Wie immer. Gibt es noch einen Flecken Erde in unserem Land, auf dem du noch nicht gewesen bist?“

„Ein paar“, gab er knapp zurück.

„Deine ständige Flucht vor dir selbst bringt dich aber offenbar auch nicht weiter. Sieh uns an. Mein Fettpanzer fesselt mich an diesen Ort. Ich kann nicht weg, nirgendwo hin. Meine Bewegung ist völlig eingeschränkt. Zum Laufen brauche ich einen Rollator, wie ein alter Mann. Seit Raven weg ist, kommt ein bezahlter Dienst, der mich zum Arzt bringt, mich wäscht und meine Wohnung putzt. Der Weg bis zu dieser Parkbank hat mich fast umgebracht und nun sieh dich dagegen an. Dein Körper ist gestählt, topfit bis ins kleinste Haar. Sogar die Narbe in deinem Gesicht wirkt attraktiv und es gibt genug Frauen, die dich äußerst anziehend finden. Du kannst reisen, wohin du willst, kein Flugzeugsitz ist zu klein für dich, kein Weg zu weit, und doch bist du nicht besser dran als ich. Nichts hält dich lange an einem Ort. Stets bist du auf der Suche nach innerem Frieden, nach Ruhe und nach dir selbst.“

Jaspers Worte schnitten in seine Seele. „Vielleicht wird sich das irgendwann ändern. Warum hast du mich herbestellt?“, lenkte er ab. Jasper ging ihm mit seinen Analysen auf die Nerven.

„Er ist tot.“

Leon konnte nicht sofort antworten, diese drei Worte waren wie ein Faustschlag. Er wusste es bereits aus den Nachrichten, doch nun, da Jasper es aussprach, breitete sich das kalte Grauen in ihm aus und er war chancenlos, dagegen anzukämpfen.

„Warst du dort?“

„Nein, San Quentin ist zu weit für mich. Jede Entfernung ist zu weit für mich. Ich sehe sein Gesicht oft genug im Traum. Das reicht.“

Der Dämon in Leon wuchs weiter und schnürte ihm von innen die Kehle zu. Er machte sich hässlich grinsend im Brustkorb breit und zerquetschte dabei fast sein Herz. Die Bilder in seinem Kopf wurden so real, dass er die Hände vors Gesicht legte, um ihnen kein Licht zu geben, doch sie ließen sich nicht vertreiben. Er spürte Jaspers fleischige Hand auf seinem Schulterblatt. Sie sollte Mut machen, ihm Trost spenden, er musste es nur zulassen. Leon riss sich zusammen, nahm die Hände von seinem Gesicht und atmete tief ein.

„Nach fünfzehn Jahren haben sie nun das Urteil vollstreckt. Ist es nicht Ironie des Schicksals? An dem Tag, an dem er damals ins Gefängnis kam, wurde gerade ein Todesurteil vollstreckt. Dann fünfzehn Jahre keins mehr und nun, auf denselben Tag genau, hat man das Schwein hingerichtet.“

Noch immer war Leon nicht in der Lage zu antworten. Jasper spürte es offenbar und sprach weiter. „Ich habe mich gefragt, was es mit mir macht, sobald ich erfahre, dass er tot ist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sein Anwalt und eine Menschenrechtsorganisation haben mich angeschrieben und darum gebeten, ihm zu vergeben. Das erschien ihm wohl unheimlich wichtig.“

„Und? Hast du ihm vergeben?“ Leons Frage klang schärfer als gewollt.

„Anfangs nicht. Er hat alles zerstört.“ Jasper machte eine lange Pause, die Leon nutzte, um tief durchzuatmen. „Doch irgendwann dachte ich, was soll’s? Ich habe zurückgeschrieben, dass ich ihm vergebe. So seltsam es klingt, aber es hat mir auf eine gewisse Art Erleichterung verschafft.“

Leon stieß entrüstet die Luft aus der Nase. „Ach ja? So einfach ist das?“

„Ist es nicht!“ Jasper wiegelte ab. „Bei Gott nicht. Aber nun kann ich vielleicht endlich leben. Die Trauer und die innerliche Verstörung werden wohl nie vergehen, doch nun ist wenigstens der Hass weg.“

Leon schwieg, denn was ihm auf der Zunge lag, war nicht nett und bevor er etwas Bitterböses sagte, hielt er lieber den Mund. Aber denken durfte man und er fand, dass Jaspers Einstellung genauso wabbelig und weich war wie der Rest von ihm. Er würde diesem Schwein nie vergeben und es war schade, dass sie ihn nun hingerichtet hatten, denn die jahrelange Isolation in einem Todestrakt war sicher quälender. Er hätte diesem abartigen Individuum, das ihm alles genommen hatte, ein langes, ein sehr langes Leben gewünscht.

„Es wäre doch schön, wenn wir nun von vorne anfangen könnten. Mit seinem Tod können wir mit allem abschließen und endlich anfangen zu leben, findest du nicht?“

„Wovon redest du?“ Leon klang schärfer, als er wollte, und nahm sich vor, sich zusammenzureißen. Er griff in die Tüte mit den Erdnüssen und ließ seinen Unmut an ihnen aus.

„Davon, dass du aufhörst, ständig auf der Flucht zu sein. Ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Nie hält es dich irgendwo. Du nimmst Jobs an, die unter deiner Würde sind und die du gar nicht nötig hättest. Und wenn dir wieder mal alles zu viel wird, dann verschwindest du einfach. Du denkst, du bist stärker als ich, doch das bist du nicht. Du bist nicht einmal in der Lage, dich auf einen Flirt einzulassen, blockst sofort ab, wenn es zu nah wird. Ich habe dagegen angekämpft und es wenigstens versucht, im Gegensatz zu dir.“

„Was soll das hier werden? Hast du mich herbestellt, um zu streiten?“ Leon unterdrückte den Impuls aufzustehen und Jasper einfach sitzenzulassen. Stattdessen atmete er tief durch und starrte in den stahlblauen Himmel über ihnen.

„Streiten? Nein, sicher nicht. Ich wollte dir vorschlagen, zu mir zu ziehen. Es wäre schön, wenn du bleiben könntest. Ich hätte dich gerne in meiner Nähe und Platz habe ich in dem Haus nun mehr als genug.“

„Danke, aber das geht nicht, ich habe ein neues Jobangebot.“

Jasper lachte kurz auf. „Was ist es diesmal? Trucker? Cowboy? Soldat? Ach nein, das hatten wir ja bereits alles.“

Leon mochte den Spott in Jaspers Worten gar nicht und es passte auch nicht zu seinem Bruder, der sonst so sanft und freundlich war.

„Ich fange bei einer Ölgesellschaft an. Gleich nächste Woche.“

Jasper sah ihn verständnislos an und schüttelte leicht den Kopf. „Na da lohnt sich endlich mal, dass du studiert hast. Warum nimmst du solche harten Jobs an, statt das Geld zu nehmen und …“

„Ich fasse das Geld nicht an. Es ist dreckiges Geld. Ich will es nicht“, unterbrach er ihn schneidend und Jasper verstummte. Wieder langte Leon in die Erdnusstüte, nahm eine Handvoll heraus und knackte die Schalen auf. Während dieser wortlosen Stille spulte sich vor seinem inneren Auge ein Film ab. Ein Film, den er nie mehr hatte sehen wollen und der sich doch immer wieder in seine Albträume drängte. Der ihn mehr ängstigte, als alles andere und der innerlich mit einem kurzen Peitschenhieb zerstörte, was er in vielen Jahren immer wieder aufs Neue versuchte aufzubauen.

Auf einem Ast der Kiefer begann ein Vogel lauthals in den Nachmittag zu zwitschern. Sie sahen beide kurz nach oben, dann trafen sich ihre Blicke erneut.

„Aber du wirst dich öfter melden?“

„Ja … sicher.“

„Und du wirst meine Anrufe beantworten?“

„Versprochen.“

Jasper erhob sich schwer. Erst wippte er vor und zurück, damit er genug Schwung hatte, seinen massigen Körper von der Bank zu hieven, um sich dann mit einem heftigen Schnaufen auf die Füße zu stellen. Er langte nach seinem Rollator, um sich abzustützen und Leon sprang auf, um ihm zu helfen, doch Jasper winkte ab. Stattdessen deutete er auf die Erdnusstüte, die noch auf der Bank lag, und Leon gab sie ihm. Sein Bruder verstaute das knisternde Tütchen im Korb seiner Gehhilfe und holte tief Luft.

Leon tat es in der Seele weh, ihn so zu sehen, und er hoffte inständig, dass Jasper sein Leiden in den Griff bekommen würde.

„Leon?“

„Hm?“

„Es wäre wirklich schön, wenn du das in den Griff bekommst.“

„Was meinst du?“

„Deine ständige Flucht.“

Jasper setzte sich in Bewegung und Leon sah ihm stumm hinterher, wie er davonging. Zuerst hinkte er leicht, das immense Gewicht drückte auf die Gelenke, doch dann hatte er sich offenbar eingelaufen, die Muskeln und Sehnen waren bereit, ihn zu tragen. Seine steifen Bewegungen wurden runder und bald schon war er schlurfend hinter der Krümmung des Parkwegs verschwunden.

Kapitel 1

Eywa streckte die Hand aus, bis ihre Finger den sündhaft teuren Konzertflügel erreichten. Aufregung durchflutete sie, so wie jedes Mal, wenn July sie in dem Musicstore absetzte, der neben Gitarren, Schlagzeugen und Klavieren seit Neuestem auch diesen atemberaubenden Flügel zum Verkauf stellte. Bislang hatte sie jedoch nicht gewagt, sich ihm zu nähern, zu groß war ihre Ehrfurcht. Während July die Wocheneinkäufe erledigte, machte sie es sich meist in der Lounge des Stores gemütlich, trank einen Kaffee und lauschte mit Begeisterung den Musikern, während sie die verschiedenen Instrumente ausprobierten. Es gab große Talente unter ihnen und wäre sie Musikproduzent, würde sie nach dem Star von Morgen genau in solchen Stores suchen.

Eywa ließ ihre Fingerspitzen über die lackierte Oberfläche gleiten. Kühl und glatt fühlte sie sich an. Wie das Wasser des kleinen Sees vor ihrem Zuhause, wenn er im Winter zu Eis gefror. Der Traum, einen eigenen Konzertflügel zu besitzen, würde ewig einer bleiben und das war auch der Grund, warum es für sie so faszinierend war, den Diamanten unter den Tasteninstrumenten berühren zu dürfen. In der Regel kam sie ihnen nicht besonders nah. Sie ließ die Hand sinken und fuhr mit den Fingerknöcheln den Rand des geschwungenen Resonanzkörpers entlang, bis sie ihn einmal umrundet hatte und die Klaviatur erreichte. Aufgeregt tippte sie leicht auf den geschlossenen Deckel, doch ihn anzuheben, wagte sie nicht. Sie atmete tief den Geruch ein, der unter dem aufgeklappten Flügel herausströmte. Feinste Stahlsaiten, im Bass mit Kupfer umsponnen. Edelste Hölzer sorgten für satte Klänge. Das waren vorausgesetzte und unabdingbare Grundmaterialien für diese edlen Instrumente. Eywa konnte die jubelnde Menge nahezu hören. Begeisterter Applaus und stehende Ovationen für die grandiose Pianistin, die sich tief vor ihrem begeisterten Publikum verneigte. Das gefächerte Licht der Scheinwerfer brach sich bei jeder ihrer Bewegungen in ihrem Kleid, das über und über mit Pailletten überzogen war. Es ließ sie funkeln wie mit Diamanten überschüttet. Und dann, wenn Stille einkehrte und niemand mehr wagte zu atmen, wenn die Blicke gebannt auf dem glänzenden und gewaltigen Flügel ruhten, verließ der erste Ton wie ein Herzschlag die Brust seines Körpers. Er flog davon, mit der Gewaltigkeit und Wahrhaftigkeit der Harmonie, hinein in die beseelten Ohren seiner Zuhörer, um in ihren Herzen ein neues Zuhause zu finden und dort ewig weiterzuschlagen. So wie auch Eywas Herz schon seit der Kindheit für dieses Instrument schlug.

Sie verdankte das den Genen ihrer wundervollen Mutter. Sicher wäre sie stolz gewesen, dass ihre Tochter in ihre Fußstapfen trat, doch das Unglück wollte, dass sie nach einem gefeierten Konzert in der Metropolitan Oper in New York mit einem Kleinflugzeug tödlich verunglückte. Eywa erinnerte sich noch genau an diesen letzten Auftritt, den sie aufgeregt mit ihrem Vater zusammen am Fernseher verfolgt hatte und dabei ihre strahlende Mutter mit tiefer Ehrfurcht bewunderte.

Leider war sie heute bei weitem keine Konzertpianistin. Eher eine bescheiden, bemühte Klavierspielerin, doch Musik zu erschaffen, war das Wertvollste in ihrem Leben. Es gab ihr alles und ersetzte mühelos, was sie sonst nicht mehr konnte.

„Interessieren Sie sich für unseren Flügel, Miss?“, erklang eine männliche Stimme gleich neben ihr. Diese Stimme war neu, sie kannte sie nicht.

„Jeder Mensch sollte sich für ein Instrument interessieren, finden Sie nicht?“

„Da haben Sie recht. Die Welt wäre eine bessere, wenn sich die Menschheit mehr für Musik, statt für Reichtum interessieren würde.“ Die Stimme hatte sich genähert und befand sich nun genau neben ihr. „Möchten Sie ihn ausprobieren?“

„Lieber nicht, ich würde ihm kaum gerecht.“

„Ach kommen Sie, versuchen Sie es.“

„Sie arbeiten noch nicht lange hier?“

„Woran haben Sie das gemerkt?“ Er lachte zu seinen Worten und Eywa mochte den Klang seines Lachens.

„Ich bin sehr oft hier, aber Ihre Stimme kenne ich noch nicht.“

Eine Pause entstand zwischen ihnen. Eywa lächelte in seine Richtung, um ihm die Scheu zu nehmen, die sich meistens aufbaute, sobald die Leute bemerkten, dass sie blind war.

„Sagen Sie mir bitte, welche Farbe er hat.“

„Verzeihung, ich habe nicht bemerkt … es tut mir leid“, stammelte er hörbar verunsichert.

„Was sollte Ihnen leidtun?“ Doch sie gab ihm keine Gelegenheit, das zu erörtern, und sprach weiter. „Ich spiele Klavier und gebe ab und an Unterricht, doch ein solcher Flügel bleibt wohl immer ein Traum.“

„Er ist schwarz“, beantwortete er ihre Frage leise. „Ich weiß ja nicht … kennen Sie Farben?“

Eywas Herz wärmte sich, er war so liebenswürdig und freundlich. „Ja, ich kenne Farben. Ich war nicht immer blind.“

„Möchten Sie es nicht doch einmal versuchen? Ich würde mich sehr freuen.“

Anhand seiner Stimme schätze sie ihn auf Mitte vierzig. Er atmete schwerer als andere, wahrscheinlich hatte er etwas Übergewicht. Sein Rasierwasser war intensiv und blumig, möglicherweise war er Single. Je mehr Rasierwasser sie auftrugen, desto größer die Garantie, dass sie alleinstehend waren oder ein Abenteuer suchten. Ja, auch sie hatte ihre Schubladen für den ersten Eindruck, nicht nur sehende Menschen.

„Ich fürchte, mir fehlt die Zeit. Meine Cousine wartet sicher schon auf mich. Wenn wir zum Einkaufen in die Stadt kommen, lädt sie mich hier ab.“

„Wie Kinder im Bälle-Paradies?“

Eywa musste herzlich lachen und freute sich, dass er zu seiner Ungezwungenheit zurückfand.

„Mein Name ist übrigens George.“ Sie hörte ein klickendes Geräusch. Er tippte offenbar mit dem Finger auf sein Namensschild. „Ich arbeite seit drei Wochen hier. Wenn Sie wenigstens so tun, als wollten Sie den Flügel kaufen und ihn ausprobieren, dann würden Sie mir in meiner Probezeit sehr weiterhelfen.“

Er war wirklich zauberhaft und wärmte Eywas Herz.

„Netter Versuch, George, aber man kennt mich hier sehr gut. Ihr Chef weiß, dass ich mir keinen Flügel leisten könnte.“

Er lachte wieder. „Und nur aus Spaß?“

„Sie sind ein Quälgeist.“

„Sagt meine Frau auch immer. Also?“

Wieder musste Eywa lächeln. Vor allem, weil ihre Schublade heute offenbar klemmte und sie ihn falsch eingeschätzt hatte.

„Also gut.“ Da sie noch immer vor der Klaviatur stand, tastete sie mit der Hand nach dem Klavierhocker, den George ihr sofort zurechtrückte. „Aber nur, wenn wir gemeinsam spielen.“ Sie klopfte mit der Handfläche leicht auf den Platz neben sich.

„Ob das eine gute Idee ist …“ Sie hörte ihn leise lachen, spürte aber, dass er sich neben sie setzte.

„Wie wäre es mit einer Sonatine von Clementi?“

„Ich sage es gleich, mein Fachgebiet sind Gitarren, hauptsächlich elektronische und Schlagzeuge. Auf Tasteninstrumenten reicht es gerade für den Flohwalzer.“

„Jeder Pianist, der etwas auf sich hält, distanziert sich händeringend vom Flohwalzer.“ Sie musste lachen und hörte ihn neben sich amüsiert glucksen.

„Da wäre es doch ganz wunderbar, wenn wir nun vierhändig einen Flohwalzer spielen. Vielleicht ist es für diesen edlen Flügel eine wahre Erholung, einen albernen Flohwalzer aus der Brust zu schmettern.“

Sie vernahm das Öffnen der Klappe, dann nahm er ihre Hand und führte sie auf die Tasten. Ein ehrfürchtiges Gefühl durchfuhr sie, als sie ein paar Akkorde und über zwei Oktaven die Tonleiter rauf und runter spielte. Bereits bei den ersten Tönen verbreitete sich ein feiner, transparenter Klang mit einem sehr schönen perlenden Diskant und kraftvollen Bässen. Sie schlichen sanft in ihre Ohren, drangen durch ihren Körper und ließen ihre Nervenstränge hauchdünn vibrieren. Die Mechanik war leichtgängig und schnell. Der Unterschied zu ihrem alten Pianino zuhause einfach sensationell.

„Also nun“, sagte sie beschwingt. „Lassen wir die Flöhe los. Sie beginnen, ich steige ein.“

Sie hörte, wie er die ersten Töne spielte und dabei fröhlich mitsang. „La-La-La-La-La, Ta-da-da-da-taaa …“

„Dubi dumdum-dumdum-dumdummdumm“, sang sie spaßeshalber mit und lachte dazu. Ach, das war herrlich. Aus dem hinteren Bereich des Ladens fiel plötzlich eine E-Gitarre laut mit ein und jemand klatschte johlend dazu. George und sie waren nicht mehr zu bremsen. Als sie lachend ihr Duett beendeten, ernteten sie den Beifall der Anwesenden. Es schien ihr, als hätte sogar der Flügel ein albernes Kichern von sich gegeben.

„Nun muss ich aber wirklich los“, sagte sie. „July wartet sicher bereits auf mich.“

„Darf ich meine Begleitung anbieten?“

„Danke George, das ist sehr zuvorkommend, aber ich muss nur ein paar Türen weiter ins Diner. Den Weg kenne ich wie meine Westentasche.“ Sie streckte ihre Hand aus und spürte kurz darauf, wie seine Hand die ihre umschloss. Sie war groß, fleischig und warm.

„Wenigstens bis zur Tür.“

„Wie könnte ich da nein sagen?“, erwiderte sie mit einem Lächeln und ließ sich von ihm zur Tür bringen. Er öffnete sie, die Umweltgeräusche verstärkten sich.

„Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder.“


Leon massierte seine Schläfen und versuchte sich währenddessen auf die Straße zu konzentrieren. Seine Kopfschmerzen hatten sich in den letzten hundert Meilen massiv verstärkt und obwohl er Tabletten verabscheute, war er entschlossen, die nächste Ortschaft anzufahren und sich ein Medikament gegen das hämmernde Pochen zu besorgen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag Twister, eine mittelgroße Promenandenmischung. Den Namen hatte er ihm gegeben, nachdem er ihn nach einem Tornado aus den Trümmern gezogen hatte. Er war nur zufällig an dem Ort vorbeigefahren, der Tage zuvor dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die meisten Menschen waren rechtzeitig gewarnt worden und hatten sich vor der Naturgewalt retten können, doch an den kleinen Kacker hatte offenbar niemand gedacht. Er fand ihn in den Resten einer alten Scheune, als er anhielt, weil er pinkeln musste. Verdreckt, durchnässt und verletzt hatte der Hund zwischen den Brettern gelegen. Leon hatte ihn herausgezogen und sich bemüht, ihn in einem hoffnungslos überfüllten Tierheim abzugeben, doch die gestresste Mitarbeiterin bat ihn, sich des Hundes anzunehmen, bis sich eventuell jemand meldete. Sie erklärte ihm, dass die Menschen ihre Tiere oft sich selbst überließen und lieber ihre Wertsachen retteten. Um dem drohenden Unwetter zu entkommen, rannten die panischen Tiere oft kilometerweit davon, wenn sie es überlebten. Viele fanden ihre Besitzer nie wieder. Weidevieh wie Rinder, Schafe oder Pferde hatten die größeren Chancen auf eine Rückkehr zu ihren alten Besitzern, denn sie waren von Wert für die Farmer. Hunde oder Katzen waren es nicht, und wenn sie nicht das seltene Glück hatten, von liebevollen Besitzern vermisst und gesucht zu werden, wurde einfach ein neues Haustier besorgt. Twister gehörte zu den Hunden, die nicht vermisst wurden. Der kleine Kerl hatte ihm leid getan und er erklärte sich einverstanden, ihn mitzunehmen. Er hatte seine Nummer hinterlassen, doch die Dame aus dem Tierheim machte ihm wenig Hoffnung auf einen Anruf.

„Wenn sie ihn mitnehmen“, hatte sie gesagt, „dann richten Sie sich darauf ein, dass Sie nun einen Hund besitzen.“

Sie sollte recht behalten, denn seit über einem Jahr hatte sich niemand gemeldet. Wer nun dachte, Twister und er wären sofort ein Herz und eine Seele, der dachte falsch. So ganz war der Hund nicht davon begeistert, ihn als sein Herrchen zu akzeptieren, und auch er hatte zunächst gehofft, ihre Zweckgemeinschaft wäre eine zeitlich begrenzte Beziehung mit respektvoller Distanz. Doch nach und nach hatten sie sich damit abgefunden, Leon sogar eher als der Hund, dass sie es wohl miteinander aushalten mussten. Twister liebte das Autofahren und seinen Stammplatz im Fußraum. Er war oft kaum zu bewegen, den Wagen zu verlassen, als hätte er diesen zu seiner Schutzzone erwählt. Manchmal fragte er sich, ob es das Richtige für den Hund war. Ob es nicht besser wäre, eine Familie für ihn zu finden. Vor kurzem hatte Twister tatsächlich erst seine Pfote und dann die Schnauze auf Leons Oberschenkel gelegt und ihn mit freundlichem Blick angesehen. Das war das Netteste, was er je getan hatte. Das Eis war seither zwar gebrochen, doch da sie offenbar beide nicht zu Gefühlsausbrüchen neigten, beschränkten sich ihre gelegentlichen Zuneigungsbeweise auf ein leichtes Tätscheln oder ein Wippen mit der Schwanzspitze.

Nun waren sie also unterwegs nach Tillamook. Irgendeinem Nest, auf ihrem Weg zu den Ölfeldern in der Nähe von Bakersfield. Hoffentlich war dieses Dorf wenigstens so groß, dass es eine Drogerie besaß und die Einwohner Tillamooks ebenfalls gelegentlich unter Migräne litten. Als er das Ortsschild passierte, breitete sich plötzlich der Gestank von Käse im Wagen aus. Leon öffnete angewidert das Fenster und bedachte Twister mit einem vorwurfsvollen Blick, doch der Geruch verstärkte sich, als die Luft in den Wagen strömte. Twister hielt die Nase in die Höhe, dann schubbelte er mit der Pfote über die Schnauze und nieste zweimal kräftig. Ihm schien der Käsegeruch auch nicht zu liegen. Der Übeltäter war schnell ausgemacht, sie näherten sich einer riesigen blauen Fabrikhalle, auf deren Wänden in monumentalen gelben Buchstaben ‚Tillamook Cheese Factory’ geschrieben stand. Mit einer Käsefabrik hatte er am Rande des Pazifiks nicht gerechnet. Eine Fischfabrik vielleicht, aber Käse? Entschädigt wurde er jedoch von der grandiosen Aussicht, die sich eröffnete, als er die Fabrik hinter sich ließ. Die Straße führte am Rande der Klippen vorbei und der Blick über den unendlich scheinenden Pazifik war atemberaubend. Ungezähmt und wild preschten die Wellen mit roher Gewalt gegen die hunderte Meter hohe Felsküste, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wehe dem, der dort unten in Seenot geriet.

Leon nutzte die Gelegenheit, um kurz anzuhalten und den Geruch von Käse aus den Lungen zu verjagen. Er ließ Twister sein Geschäft verrichten und legte ein paar Schritte Richtung Steilwand zurück. Schilder warnten vor zu nahem Herantreten an die Abbruchkante, also blieb er stehen und füllte seine Lungen mit kühler Seeluft. Wo die Gischt der brechenden Wellen in die Höhe stieg, war es dunstig, doch weiter hinaus legte sich der Schleier und gab den Blick auf tiefblaues Wasser frei.

In diesem Moment hatte er unerwartet ein seltsames Gefühl im Bauch und er musste darüber nachdenken, was es bedeuten könnte. Er forschte in seinem Inneren und empfand so etwas wie Frieden. Als fiele etwas von ihm ab. Das war ihm fremd, so seltsam das klingen mochte, doch er kannte dieses zufriedene, geradezu glückliche Gefühl nicht. Es war wohl irgendwann verloren gegangen. Ohne es zu wollen, atmete er erneut tief ein, als hätte seine Lunge einen eigenen Impuls. Als schlüge sein Herz, ohne sein Dazutun plötzlich schneller. Was mochte die Ursache dafür sein? Der Blick auf den Pazifik? Den kannte er zur Genüge, er war nicht das erste Mal am Meer. Es war ein Gefühl, als wäre er endlich dort angekommen, wo er nie hinwollte. Wie wenn man etwas fand, was man nie gesucht hatte. Leon schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken und beobachtete Twister. Auch der verhielt sich anders als sonst. Statt nur schnell das Bein zu heben und gleich wieder auf seinen gewohnten Platz im Wagen zurückzukehren, schnüffelte er an den Wildblumen, trabte mit fröhlich erhobener Rute über die ausgestreckten Wiesen und schien ihren Stopp ausgiebig zu genießen.

Das Pochen in Leons Schläfen erinnerte ihn jedoch schmerzlich an sein eigentliches Vorhaben und so rief er Twister zu sich und setzte seine Fahrt fort. Sie erreichten Tillamook und erstaunlicherweise gab es eine richtige Einkaufsmeile mit Geschäften, einer Tankstelle und einem Restaurant. Das hatte er dem Miniaturpunkt auf der Landkarte mit dem lustigen Namen nicht zugetraut, doch es kam ihm sehr gelegen. Er könnte seine Tablette einnehmen, etwas essen, tanken und dann würde ihn nichts mehr stoppen auf dem Weg nach Bakersfield. Er hatte noch eine Woche Zeit, seinen neuen Job anzutreten, und wollte sich nach einer Unterkunft umsehen, auch wenn er dafür etwas spät dran war. Das Treffen mit Jasper war schuld, dadurch war er einen Umweg gefahren. Er hätte sonst längst etwas finden können, doch nun drohte ihm die vorrübergehende Unterkunft in einer Arbeiterbaracke. Er hoffte, dass Twister dort kein Problem darstellte.

Žanrid ja sildid
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
25 mai 2021
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