Loe raamatut: «Spur der Vergangenheit», lehekülg 3

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„Natürlich. Ich mache gleich vorne einen neuen Termin aus. Vielen Dank, Dr. Berger.“

Nik lächelte. „Nicht dafür.“

Wenige Minuten später trat Nik durch die Tür seines Büros und ließ diese sanft hinter sich ins Schloss fallen. Nur für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, lehnte sich zurück und stützte seinen Kopf an der Tür ab. In diesem Moment genoss er die Ruhe und Stille. Selbst die entfernten Stimmen der sich verabschiedenden Patientenbesitzer vernahm er, wenn überhaupt, nur am Rande.

Er fühlte sich schon seit einiger Zeit nicht wirklich gut, was auf keinen Fall etwas mit seiner körperlichen Verfassung zu tun hatte. Zwar feierte er heute seinen immerhin schon zweiundfünfzigsten Geburtstag, trotzdem legte er nach wie vor viel Wert auf seinen Körper und gesunde Ernährung. Beinahe jeden verdammten Abend verbrachte Nik so viel Zeit in seinem Kraftraum, dass es ihm oft selber wie eine Droge vorkam. Früher hatte er stets darauf geachtet, es mit dem Training nicht zu übertreiben, damit auch seine Familie nicht zu kurz kam. Aber jetzt brauchte er auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Im Grunde genommen war es im Augenblick, neben seiner Arbeit natürlich, der einzige Ausgleich, der ihm noch geblieben war. „Traurig genug.“

Der Grund für seine ständige schlechte Laune und der damit verbundenden Reizbarkeit war ein anderer. Es gab Tage, da fiel es ihm besonders schwer, der nette, souveräne Veterinärmediziner und Chef zu sein, der er ja eigentlich war und auch immer sein wollte. Er wirkte oft abwesend und in sich gekehrt, genauso wie gerade eben. Und heute schien es ein besonders beschissener Tag zu werden. Dieser blödsinnige Streit mit seinem Assistenzarzt war ihm sichtlich an die Nieren gegangen. Er hatte Dinge von sich gegeben, die ihm im Nachhinein sehr leid getan hatten. Er musste sich dringend dafür entschuldigen.

Nik atmete einmal tief durch und öffnete wieder die Augen. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, der am Ende des Zimmers direkt unter dem Fenster seinen Platz gefunden hatte. Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung, zog den großen, dunklen Bürostuhl heran und blätterte den Hefter mit der Bestellliste durch. Er drehte sich zu dem Regal an der Wand und suchte sich die passenden Kataloge der Pharmafirmen zusammen, bei denen er dringend Nachschub für seine Apotheke ordern musste. Insgesamt vier Ordner legte er auf die Schreibtischunterlage und ließ sich auf dem schweren Stuhl nieder. Nik zog den ersten Katalog vom Stapel und streifte dabei einen der beiden schwarzen Bilderrahmen am Rande des Tisches, wodurch dieser umkippte und auf dem Boden zerschellte.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er seinen Kopf nach vorne sacken und umklammerte mit beiden Händen seinen Nacken.

„Happy Birthday, du Trottel“, murmelte er und wischte die Listen mit einer aggressiven Handbewegung vom Tisch. Unruhig flogen die losen Blätter durch den Raum, bevor sie wild verstreut ihren Bestimmungsort auf dem Boden fanden.

Das Gesicht in den Händen vergraben verharrte Nik minutenlang in dieser Position, bevor er sich dazu in der Lage fühlte, das angerichtete Chaos wieder zu beseitigen. Langsam straffte er seinen Körper und stemmte sich aus seinem Stuhl. Sorgfältig hob er ein Blatt nach dem anderen wieder auf, stapelte diese aufeinander und steckte die gesamte Bestellliste zurück in den Hefter. Erneut ging er in die Hocke und zog mit der rechten Hand ein Foto aus vergangenen, glücklicheren Tagen aus den Scherben. Gedankenversunken zeichnete Nik mit seinem Zeigefinger die Silhouette eines kleinen Jungen nach und verzog seine Lippen zu einem Schmunzeln, welches seine Grübchen zur Geltung brachte. Sein kleiner Sohn Maximilian war mittlerweile längst erwachsen und zum Teil in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Unter normalen Umständen wäre er darüber mehr als stolz gewesen, jedoch war die Situation hier eine andere. Nach dem Studium zog es Max in die Staaten, um weitere Erfahrungen als Veterinärmediziner sammeln zu können. Zumindest hatte er das damals behauptet. Nik wusste allerdings, dass die Wahrheit eine andere war. Sein Sohn war einfach geflüchtet und trotz vieler gemeinsamer Gesprächen konnte Nik nichts dagegen tun. Im Grunde genommen hatte er sogar Verständnis für die Entscheidung gezeigt, doch das änderte nichts daran, dass er seinen Sohn so sehr vermisste.

Nik merkte, wie die innerliche Wut wieder hochkochte und mit aller Macht an die Oberfläche drängte, als sein Blick auch die dritte Person auf dem Bild erfasste. Er konnte es nicht mehr verbergen, ihr eine gewisse Mitschuld an dem Dilemma zu geben. Seine Frau Claudia schlang innig und verliebt ihre Arme um seine Hüften und schien der Welt damals zeigen zu wollen, wie glücklich ihre kleine Familie doch war. Nur was ist danach bloß geschehen? Nik verstand es eigentlich immer noch nicht. Irgendwann hatte er wohl einfach den Anschluss an den schnellen und luxuriösen Lebenswandel seiner Noch-Ehefrau verloren.

Zum ersten Mal in den vielen Jahren hatte er sie freigeben wollen und das Wort „Scheidung“ in den Mund genommen. Der letzte Streit zwischen ihnen zeigte bis dato unerreichte Dimensionen und Nik musste sich eingestehen, dass eine weitere gemeinsame Zukunft eher unwahrscheinlich schien. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt. Manchmal wünschte er sich, diese Erbschaft damals nie angenommen zu haben.

Völlig überraschend hatte ihn seine Großtante als Alleinerbe eingesetzt, und wie sich später herausstellte, sollte die alte Dame ihm nicht nur diese Hofanlage, sondern auch eine beträchtliche Summe an Ersparnissen hinterlassen haben. Nik hatte zu der Zeit an einen Sparstrumpf unterm Kopfkissen gedacht. Doch wie sich wenig später gezeigt hatte, passte die Summe in keinen Strumpf der Welt. Die alte Dame hatte im Laufe ihres Lebens mehrere Hunderttausend Euro zur Seite gelegt.

Im ersten Moment ein großer Schock, den Nik erst mal verdauen musste. Warum nur hatte sie nie auch nur ein Sterbenswörtchen über das Vermögen verloren? Der Hof war marode und man hätte ihn schon viel früher wieder sanieren können. Was hatte sich Tante Hannah nur dabei gedacht? Zwei Tage nach der Trauerfeier durchforstete Nik ein paar Unterlagen in der alten Wohnstube. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf den alten Wohnzimmerschrank aus massiver Eiche, hinüber zu dem braunen Sofa, das schon bessere Tage gesehen hatte. Zu guter Letzt auf die gegenüberliegende Wand, an der sich in unregelmäßigen Abständen verschiedenste Bilder, in unterschiedlichen Größen und Formen eingerahmt, präsentierten.

Und er verstand. Tante Hannah hielt an den unzähligen schönen Erinnerungen aus vergangenen Tagen fest. Sie wollte keine Veränderung. Alles sollte so bleiben, wie es war. Das war ihr wichtiger als alles Geld der Welt. Und wie sich zeigte, sollte sie recht behalten.

Wenn er damals auch nur annähernd geahnt hätte, welche Veränderungen mit so viel Geld einhergehen würden, er hätte es mit Sicherheit nicht angenommen. Ein sorgenfreies, glückliches Leben, das hätte es wohl für jeden anderen Menschen bedeutet. Für ihn war es eher der Anfang vom Ende seines glücklichen Lebens. Gemeinsam hatten er und seine Frau beschlossen, die Wohnung in der Hemeraner Innenstadt aufzugeben und wenige Kilometer weiter auf den Hof zu ziehen.

Ein Großteil der Ersparnisse ging für die längst überfälligen Renovierungsarbeiten an Stall und Wohnhaus drauf, ein weiterer für die Planung und Umsetzung einer neuen, moderneren Praxis im Nebengebäude. Bei der Einrichtung der privaten vier Wände hatte Claudia als gelernte Innenarchitektin freie Hand. Sie besaß schon immer den besseren Geschmack und legte viel Wert aufs Detail. Um Geld einzusparen, stemmte Nik beinahe den gesamten Umbau der Praxisräume allein. Ab und an kam Max dazu und half, wo er nur konnte. Claudia hingegen zeigte wenig Verständnis für seinen Einsatz. Zu oft hatte sie auf ihren Mann verzichtet, ihre Wünsche und Ziele immer wieder zurückgesteckt.

Heute war ihm das bewusst und das schlechte Gewissen allgegenwärtig. Jedoch zu dem Zeitpunkt glaubte er fest daran, das Richtige zu tun. Sicherheit für die Zukunft und damit verbunden ein sorgenfreies Leben für sich und seine Familie, genau das war es, was ihn immer wieder antrieb.

Er merkte nicht einmal, wie sich seine Frau immer mehr von ihm entfernte. Designermode, Dinnerpartys und damit verbunden neue Freunde aus der Welt der Erfolgreichen bestimmten fortan ihren Tagesablauf. Hin und wieder begleitete er sie auf die eine oder andere Veranstaltung, allerdings bereitete ihm das ständige und oberflächliche Gerede über Aktien, Wirtschaft und Politik jedes Mal Kopfschmerzen. Meist zog er sich zurück an die nächste Bar, bestellte ein Bier und beobachtete die Gäste.

Es kam, wie es kommen musste. Die Spannungen zwischen ihnen nahmen zu und Max blieb auf der Strecke. Wie sehr sein Sohn darunter litt, in den Augen seiner Mutter den falschen Weg eingeschlagen und damit auch seine große berufliche Zukunft weggeworfen zu haben, erkannte Nik leider zu spät. Ein erfolgreicher Anwalt, das war es, was Claudia sich für ihn wünschte.

Irgendwann wurde der Druck einfach zu groß und Max zog es nach Boston. Das war nun fast ein Jahr her und zum ersten Mal seit Ewigkeiten sollte Nik seinen Geburtstag nun allein verbringen. Ganz allein, denn auch Claudia wohnte schon seit geraumer Zeit nicht mehr hier. Sie hatte ein Apartment in Münster angemietet. Berufliche Gründe hatte sie vorgeschoben, aber es sollte einfach nur der endgültige Schritt für die räumliche Trennung bedeuten.

Das Vibrieren seines Smartphones riss Nik aus seinen Gedanken. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und legte das Foto hinein. Später würde er einfach einen neuen Rahmen kaufen.

Er trat ein Stück zur Seite und spähte durch das Fenster. Auf der angrenzenden Weide spitzte ein brauner Wallach seine Ohren, als er sich der Aufmerksamkeit des Tierarztes sicher war, und begrüßte ihn mit einer kopfnickenden Geste. Mit der rechten Hand öffnete Nik die Terrassentür und ging ein Stück hinaus. Er spürte die laue Frühlingssonne auf seiner Haut. Das Wetter wurde langsam besser. Der Regen hatte in der Nacht aufgehört und die Temperaturen waren angestiegen.

Eigentlich perfekte Bedingungen für einen ersten Ausflug mit dem Bike“, dachte er. Sein Mountainbike, eine weitere Leidenschaft, der er allerdings weitaus weniger nachging. Meist nur in den Sommermonaten und auch nur dann, wenn es die Zeit erlaubte. Zu dumm, dass seine neuste Errungenschaft noch nicht bei dem Händler seines Vertrauens eingetroffen war. Nach reiflicher Überlegung und einigen Probefahrten hatte er sich für eine 29er Variante entschieden. Die größeren Räder ermöglichten ihm ein wesentlich laufruhigeres Fahrvergnügen im Gelände. Zwar war er in Kurven damit nicht mehr ganz so spritzig unterwegs, aber da er sowieso immer eher der Marathon- und weniger der Downhilltyp gewesen war, störte ihn das kaum.

„Guten Morgen, alter Knabe!“ Vergnügt schüttelte Sir William, kurz Will genannt, seine prächtige Mähne, wodurch einzelne Haare wild in alle Himmelsrichtungen abstanden.

Ein Lächeln umspielte Niks Mundwinkel und er widmete sich wieder dem Handy. Er gab einen vierstelligen Code ein, um das Gerät zu entsperren. Sofort erschien das Hauptmenü. Er tippte auf den WhatsApp-Button und in der Chatliste sah Nik, dass bereits drei neue Nachrichten eingegangen waren. Die erste Mitteilung stammte von einem Kollegen aus dem Nachbarort.

Alles Gute zum Geburtstag, du alter Sack. Lust, den Tag bei einem Bier ausklingen zu lassen? Melde dich einfach. Gruß Sascha.

Mit einer kurzen Antwort bedankte er sich für die Geburtstagsgrüße und suchte im Chatverlauf die nächste Nachricht. Als er den Absender erkannte, öffnete er diese voller Vorfreude.

Hey Dad, Happy Birthday und viele Grüße aus Boston. Hoffe, bei euch ist alles Ok! Denk an dich, sprechen uns. Max“.

Zu gern hätte er mal wieder die Stimme seines Sohnes gehört, aber wahrscheinlich hatte er dort einfach zu viel um die Ohren. Seine Stimmung sank gleich wieder gegen Null, als er die letzte Mitteilung öffnete und den Text las.

Ich wünsch dir alles Gute. P.S. Lass uns bitte noch mal reden! Passt dir Freitagabend? Ich habe deinen Lieblingswein gekauft. Gruß C.“

Was soll das denn noch bringen?“ Gedankenversunken griff er nach dem Kaffeebecher auf der Fensterbank, den er bereits heute früh hier abgestellt und mal wieder vergessen hatte. Nik nahm einen großen Schluck aus der Tasse und verzog angewidert das Gesicht. Kalter Kaffee, er hasste kalten Kaffee, und gerade jetzt konnte er ein bisschen Koffein gut gebrauchen. Schnellen Schrittes eilte er zurück zur Tür und öffnete diese nur so weit, dass er ein Stück hindurchschauen konnte.

„Anni!“

„Sir, ja, Sir!“, konterte die Stimme seiner Helferin aus einem der Behandlungszimmer am anderen Ende des Flures.

„Sag mal, haben wir noch etwas von dem schwarzen Heißgetränk in der Küche? Du weißt schon, das mit viel Koffein! Ich könnt noch 'ne Tasse vertragen.“

„Gerade aufgesetzt. Bringe ich Ihnen gleich, Sir!“

Nik verdrehte die Augen und machte sich wieder an die Bestelllisten. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür und ohne ein Herein abzuwarten, betrat Anni das Büro mit einem Tablett in der Hand.

„Zimmerservice!“, verkündete sie mit einem übertrieben fröhlichen Tonfall und stellte eine Tasse herrlich duftenden Kaffee und einen Teller mit Kuchen auf dem Schreibtisch ab, bevor ihr Blick auf den zerstörten Bilderrahmen fiel.

„Was ist denn hier passiert?“

„Danke, aber Kaffee reicht völlig“, knurrte er, ohne weiter darauf einzugehen oder den Blick von den Unterlagen zu nehmen. Empört stemmte Anni ihre Fäuste in die Hüften und baute sich direkt neben ihm auf.

„Na, wir sind ja heute wieder gut drauf. Ist ja nicht so, als wenn der Kuchen gleich Beine bekommt und vom Teller springt!“, motzte sie drauflos. „Und außerdem, haben Sie mal in den Spiegel geschaut? Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“

Niks Kiefermuskulatur begann zu zucken und Anni verstand das Warnsignal sofort. Denn sie wusste nur zu gut, wann sie ihrem Chef gehörig auf die Nerven ging.

Oh, Scheiße“, dachte sie, blieb aber trotzdem, nach außen hin unbeeindruckt, in ihrer angestammten Haltung stehen.

Nik holte tief Luft.

„Weiß nicht, gestern, vorgestern? Kann mich nicht genau erinnern.“

Er hoffte, seine Helferin würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und das Interesse an ihm verlieren. Doch wie so oft wurde er eines Besseren belehrt. Anni beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf der Tischkante ab und schaute ihn provozierend an.

„Sie können mir glauben, Herr Doktor. So ein kleines Stück Kuchen wird Sie nicht gleich umbringen! Im Übrigen wäre keinem von uns geholfen, wenn Sie uns hier irgendwann mal umkippen. Ich habe nämlich keine Lust, mich schon wieder nach einem neuen Job umschauen zu müssen.“

„Du klingst schon wie meine Mutter.“

„Und womit? Mit Recht! Also?“

„Mann, du gibst ja doch keine Ruhe.“ Nik gab nach und steckte sich ein großes Stück in den Mund. „Zufrieden?“, presste er hervor und spuckte dabei unbeabsichtigt einige Kuchenkrümel durch den Raum.

Vergnügt nahm sie es zur Kenntnis.

„Fürs Erste. Hat auch gar nicht wehgetan, oder?“

„Womit hab ich dich und deine große Klappe eigentlich verdient?“

Zum ersten Mal schaute Nik zu ihr auf.

„Tja, das wird wohl auf ewig Ihr Geheimnis bleiben.“

„Ich gebe es auf. Ist Julia endlich zurück?“

„Jep! Und riecht wieder wie ein Frühlingsmorgen. Ich bereite mit ihr gerade den OP vor.“

„Wieso?“

„Das Tierheim hat gerade angerufen. Bei der heutigen Fangaktion waren sie wohl sehr erfolgreich. Sie bringen uns noch 6 Wildkatzen. Aber Frau Hornberg rechnet damit, dass die meisten Tiere wohl Kater sind.“

„Na, wunderbar … dann haben wir den Geruch wieder tagelang in der Hütte. Denk bloß daran, die Fenster aufzumachen.“

„Aber natürlich, Herr Kommandant. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn wir so weit sind. Und übrigens … den Kuchen schön aufessen, ja?“ Sie zwinkerte ihm zu und wollte den Raum gerade verlassen.

„Anni?“

„Jaaah?“

„Danke!“

Verblüfft drehte sie sich um und hob eine Augenbraue. Er hatte sich ihr nun zugewandt und lächelte sie freundlich an.

„Ich mein‘s ernst. Ihr macht einen tollen Job. Ich vergesse das nur manchmal zu erwähnen.“

Nun ließ auch Anni ihre Maskerade fallen und lächelte zurück.

„Gern geschehen.“

Eine kleine letzte Retourkutsche konnte sie sich dennoch nicht verkneifen. Sie ging zurück zum Tisch und stöberte akribisch in den Unterlagen herum.

„Suchst du was Bestimmtes?“

„Ähm, ja, den Rotstift. Wenn man schon mal ein Lob von Ihnen bekommt, dann sollte man das doch mit Datum und Uhrzeit im Kalender festhalten, oder?“

Nun hob Nik eine Augenbraue.

„So schlimm?“

„Manchmal sind Sie schon kaum zu ertragen“, erklärte sie und fügte hinzu. „Aber andererseits, ich würde die Auseinandersetzungen mit Ihnen echt vermissen. Nicht auszudenken, wie langweilig der Alltag wäre, wenn Sie immer nur gut gelaunt durch diese Räume schreiten würden.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder sanfter. „Sie sind wirklich in Ordnung. Aber kriegen Sie Ihre Probleme in den Griff. Selbst unsere Kunden haben gemerkt, dass Sie sich verändert haben.“

Es klopfte an der Tür und beide schauten auf.

„Ja!“

Langsam drückte Julia die Klinke herunter und steckte unsicher den Kopf hindurch.

„Tut mir leid, dass ich stören muss, Dr. Berger …“ Sie hielt inne.

„Tja, mit der Ruhe ist das heute so eine Sache“, bemerkte Nik. Er streckte seine Beine aus, verschränkte die Arme hinterm Kopf und musterte Anni grinsend von der Seite. Diese verstand die Provokation auf der Stelle, ignorierte ihn aber völlig.

„Was ist los, Julia?“

„Ähm, also …“ Die Auszubildende schaute auf den Boden und suchte nach den richtigen Worten.

„Ich bin immer noch ganz Ohr.“

„Ja, also, ich habe Frau Becker und ihren Tyson noch hereingelassen. Ich weiß ja, dass wir eigentlich geschlossen haben, aber der Boxer hatte wohl wieder einen epileptischen Anfall und sie schien sehr besorgt. Ich habe sie in den 2. Behandlungsraum geschickt und ich hoffe, das war okay für Sie?“ Julia wartete mit weit aufgerissenen Augen auf eine Reaktion. Als diese ausblieb, setzte sie fort. „Dann wollte ich Anni noch fragen, was ich mit dem Rottweiler machen soll.“

„Ach, verdammt. Den hab ich ja total vergessen.“ Sie verlagerte ihr Gewicht in Niks Richtung. „Ein Neukunde, der auf Empfehlung gekommen ist. Er würde gerne von Ihnen behandelt werden.“

Nik ließ den Kopf nach vorne fallen und seufzte. Wieder ein Stimmungswandel? Julia reagierte unbeholfen.

„Ähm, ich kann aber auch Patrick Bescheid geben, falls Sie keine Zeit haben und …“

„Julia!“ Erschrocken schaute sie auf und Nik merkte erst jetzt, wie angespannt das junge Mädchen war, was nicht zuletzt an seiner Person lag. Dass man es ihm zurzeit kaum recht machen konnte, damit konnte Anni umgehen. Aber Julia war fast noch ein Kind und schien oft sehr unter seiner schlechte Laune zu leiden.

„Hol mal Luft! Es ist alles in Ordnung, wirklich“, munterte er sie auf. „Geh zu Patrick und sag ihm, er soll sich um die Kastration kümmern. Und wir beide, Fräulein Winter, verarzten zuerst Tyson und kümmern uns dann um den Rotti. Den könnt ihr schon mal in die Drei setzen.“

„Und der Kuchen?“

„Muss wohl warten.“

„Na ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich werde das später einfach noch mal kontrollieren.“

„Natürlich wirst du das. Ich habe nichts anderes erwartet.“ Mit einem Ruck hievte sich Nik aus seinem Bürostuhl und beförderte seine Mädels mit einem gespielten Fußtritt aus der Tür.

„Verschwindet endlich!“

„Sir, ja, Sir!“

Mittwoch, 02. Mai, 15 Uhr 37

Mark bog auf den Parkplatz, der direkt an die Eissporthalle der Iserlohn Roosters angrenzte, und suchte einen Platz. Am besten in hinterster Reihe, um so unsichtbar wie möglich zu sein. Er war auf Nummer sicher gegangen und hatte seinen roten Ford Focus ST gegen diesen silberfarbenen Golf, den er für genau diese Situationen in einer Tiefgarage in der Iserlohner Innenstadt geparkt hatte, eingetauscht. Im Kofferraum befanden sich einige Utensilien. Unter anderem ein Trainingsanzug, den er schnell übergestreift hatte und eine verspiegelte Sonnenbrille, hinter der er sein Gesicht verstecken konnte. Um die Maskerade perfekt zu gestalten, stülpte er sich noch eine graue Mütze über den Kopf und betete zu Gott, dass er wirklich unerkannt blieb.

Angespannt stieg er aus dem Wagen und schaute sich langsam, aber genau um, konnte aber nichts Auffälliges erkennen. Er durchlebte gerade ein Déjà-vu. Gut zwei Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal hier hatten treffen müssen. Und schon damals war sie die Einzige gewesen, der er uneingeschränkt vertrauen konnte.

Mark setzte sich in Bewegung und joggte den Weg entlang des Hallenbades hinunter zum Rundweg des Seilersees. Er war früh dran. Also blieb ihm noch genügend Zeit, etwas für seine Fitness zu tun. Er nutzte die Gelegenheit und bog nach links ab. Der Weg um den See war nicht allzu lang. Wie üblich schaffte er drei Umrundungen, bevor er an einer kleinen Brücke eine Pause einlegte. Mit beiden Armen drückte er sich vom Geländer weg und dehnte seine Wadenmuskulatur, als sich eine weitere Läuferin dazugesellte und es ihm gleichtat. Ein kurzer Blick auf ihre langen Beine genügte und Mark wusste, dass sie es war.

„Mia. Danke, dass du gekommen bist“, sagte er, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Was ist passiert? Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich die Nachricht bekam.“ Sie legte ein Bein auf das Geländer und umfasste mit beiden Händen den Knöchel. „Also, warum so dringend und warum hier?“

„Ich wusste nicht, wie ich sonst allein mit dir in Kontakt hätte treten können. Es könnte sein, dass wir ein Problem bekommen, und ich kann sonst keinem mehr trauen.“ Mark reckte sich und verzog dabei angestrengt das Gesicht zu einer Grimasse.

„Geht es auch konkreter?“

„Ich vermute, ich bin aufgeflogen.“

„Was? Wie konnte das passieren? Und warum gerade jetzt?“ Sie bemühte sich weiterhin um Diskretion.

„Erst mal nur eine Vermutung. Allerdings habe ich mitbekommen, wie sich zwei der Securitys über eine undichte Stelle beim BKA unterhielten.“

„Bei uns? Das kann ich nicht glauben. Ich kenne mein Team seit Jahren. Für jeden Einzelnen lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Du solltest trotzdem vorsichtig sein, Mia.“

„Verflucht noch mal, wenn da was dran ist, dann ist dein Leben keinen Cent mehr wert. Ich ziehe dich ab, noch heute. Dein Auftrag ist beendet, Mark.“

„Nein. Noch nicht. Ansonsten wäre die ganze Arbeit der letzten Monate für die Tonne. Wir waren noch nie so dicht dran, ihm etwas zu beweisen. Das will ich nicht einfach so aufgeben.“

„Das ist mir egal. Dein Leben ist in Gefahr und ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn dir auch noch etwas passiert.“

„Freitagabend steigt irgendetwas Großes. Etwas, das wirklich Bedeutung für ihn hat, und ich soll dabei sein. Genauere Einzelheiten kenne ich noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir ihn endlich drankriegen könnten.“

„Was macht dich da so sicher? Bisher war deine Arbeit nicht gerade von Erfolg gekrönt.“ Sie wandte sich ab, legte das andere Bein auf das Geländer gegenüber.

„Habe ich dir jemals einen Grund gegeben, an mir zu zweifeln?“

„Nein. Trotzdem. Es ist glatter Selbstmord, wenn du weitermachst.“

„Das Risiko ist überschaubar, wenn du in der Nähe bleibst. Ich werde mich später noch einmal mit diesem Typen treffen. Konntest du anhand der Fotos schon etwas über ihn in Erfahrung bringen?“

„Vito ist dran. Bisher kann ich dir nur sagen, dass er mit Sicherheit eine falsche Identität angenommen hat. Augenscheinlich aber noch nicht sonderlich in Erscheinung getreten ist. Als ob er noch nie existiert hätte. Was mir im Übrigen zusätzliche Bauchschmerzen bereitet.“

„Vielleicht erfahre ich später Näheres. Bitte, Mia. Du musst mich weitermachen lassen. Das sind wir Damian schuldig.“ Er hörte, wie sie den Atem ausstieß.

„Also gut. Aber ich warne dich. Bei dem geringsten Zweifel breche ich alles ab, hörst du?“

„Verstanden.“

„Ich warte auf deine Nachricht. Sei bitte vorsichtig, Mark.“

„Sicher. Übrigens. Es war schön, dich mal wieder in natura zu sehen.“

„Ich für meinen Teil würde es begrüßen, wenn es so bliebe. Ich erwarte regelmäßige Nachrichten von dir“, sagte sie und setzte ihren Lauf in entgegengesetzter Richtung fort.

Mark war wieder allein. Trotz der ausgiebigen Dehnungen fühlte sich sein Nacken steif und verkrampft an. Sicherlich ein Tribut an die ständigen Anspannungen. Doch er war sich sicher, dem Ganzen bald schon ein Ende zu setzen. Mark schaute auf die Uhr und sein Herz schlug schneller. Er musste sich beeilen, um nicht zu spät am vereinbarten Treffpunkt zu erscheinen. Das ungute Gefühl, dass diese Woche kein gutes Ende nehmen würde, schob er rasch beiseite. Er wollte das Schwein zur Strecke bringen, koste es, was es wolle. Er würde noch dafür büßen, dass er vor eben diesen zwei Jahren seinen Partner kaltblütig hatte umbringen lassen. „Dafür mach ich dich fertig, das schwöre ich dir.“

Aber für seine Rachegelüste blieb im Augenblick keine Zeit. Er musste noch zurück in die Tiefgarage, um die Autos wieder zu tauschen, und danach in seine Wohnung, um sich für alle Eventualitäten zu rüsten. Die frische Brise half ihm, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, und er lief zurück zum Parkplatz, vorbei am Saunabereich des Bades, vorbei an der Eissporthalle, direkt zu seinem Wagen. „Du hast lange genug auf der Sonnenseite des Lebens gestanden, du verdammter Bastard. Deine Glückssträhne erkläre ich hiermit für beendet.“

Mittwoch, 02. Mai, 21 Uhr 23

„Dann hätten wir ja alles geklärt. Ich hoffe nur, das war das letzte Mal, dass ich dich wegen dieser Sache ins Büro zitieren muss.“ Phil blickte über den Rand seiner Brille zu Tom hinauf und musterte ihn tadelnd. Mehr als einmal hatte er beide Augen zugedrückt und über die ständigen Verspätungen hinweggesehen, ganz zu schweigen von den Tagen, an denen sich Tom während der Schicht einfach vom Café entfernte. Er hatte durchaus Verständnis für die missliche Lage, in der Tom sich befand. Allerdings hatten die Fehlzeiten überhandgenommen und es war einfach an der Zeit, das seinem Mitarbeiter klarzumachen.

„Nein. Es wird nicht mehr vorkommen, Phil. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Gut. Dann verschwinde jetzt in den Feierabend. Übrigens will ich dich bis Montag hier nicht mehr sehen.“

„Aber …“

„Keine Diskussionen, Tom. Das war keine Bitte, sondern eine Anweisung. Du musst dir überlegen, wie es weitergehen soll. Privat, meine ich. Und was deine Schichten betrifft: Die hab ich schon anderweitig vergeben.“ Er nahm die Brille von der Nase und stieß den Atem aus. „Ich mag dich, Tom. Aber ich habe ein Geschäft zu führen und damit viel Verantwortung auch für meine Mitarbeiter. Bis vor Kurzem warst du einer meiner besten Leute und ich will, dass das wieder so wird. Also nutz die Zeit und denk drüber nach. Und jetzt raus hier.“

Tom zog leise die Tür hinter sich zu und sog langsam die Luft ein. Die Standpauke war weitaus weniger lautstark ausgefallen, als er es vermutet hatte. Im Gegenteil. Für die kurze Zwangspause war er Phil sogar dankbar. Auf dem Weg zum Personalraum begegnete er Lisa, die ihm seine Jacke hinhielt und ihn fragend anschaute.

„Alles in Ordnung? Ich meine, war es sehr schlimm?“

Er lachte auf. „Hey. Ich lebe noch und darf sogar wiederkommen. Also? Ja, ich denke, alles bestens!“

„Idiot. Schönen Feierabend.“ Sie lächelte und ging zurück an die Theke.

„Dir auch. Danke.“

Auf der hölzern eingefassten Veranda angekommen, knöpfte Tom sich die Jacke zu und genoss die frische Abendluft. Es schien fast so, als sei der wolkenverhangene Himmel nur für ihn an dieser Stelle aufgebrochen. Sozusagen das Licht am Ende des Tunnels. Plötzlich bewegte sich etwas am Ende seines Sichtfeldes und ließ ihn zusammenfahren.

„Ein schöner Abend heute, findest du nicht?“

Tom verengte die Augen, aber außer dem Aufleuchten eines Streichholzes und der darauf folgenden Zigarettenglut konnte er nichts weiter erkennen.

„Feierabend? Nicht sehr viel los heute, oder?“

„Hör‘n Sie, wer immer Sie auch sind. Ich bin gerade wirklich nicht in der Stimmung für Smalltalk. Also, schönen Abend noch.“

„Ein Pflegeheim ist bestimmt sehr teuer. Du siehst nicht aus, als könntest du dir das leisten.“

„Was?“ Entgeistert starrte er auf den Schatten, der sich nun ins Licht bewegte. „Wer zum Teufel sind Sie?“

Der Mann pustete blauen Zigarettendunst in die Luft und nahm die Kapuze vom Kopf.

„Erik?“

„Du erinnerst dich also.“

„Woher weißt du davon?“

„Ich habe mich etwas umgehört.“ Er zuckte mit den Schultern. „Lust, dir ein bisschen Geld dazuzuverdienen?“

„Wenn du damit irgendwelche krummen Dinger meinst … nein, danke.“

„Na, na. Wer wird denn gleich von schlimmen Dingen reden. Ich habe gehört, du fährst private Autorennen.“

„Früher mal. Jetzt nicht mehr.“

„Ich suche jemand, der einfach nur fahren kann. Du hast mit dem eigentlichen Job nichts zu tun. Der finanzielle Aspekt ist nicht der schlechteste.“

„Lass gut sein. Ich bin nicht interessiert.“

„Du hast uns gestern belauscht, nicht wahr? Das war nicht nett von dir.“

„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich habe niemanden belauscht und was mich betrifft, ist unser Gespräch hiermit beendet.“ Tom wandte sich zum Gehen, wurde aber unsanft an der Schulter zurückgehalten.

„Spinnst du? Lass mich sofort los!“

„Ich habe mir schon gedacht, dass du so reagieren würdest. Nach dem, wie Falk dich beschrieben hat. Trotzdem solltest du dir mein Angebot überlegen.“ Der durchdringende, finstere Blick ließ Tom unwillkürlich zurückschrecken und das, was er nun auf dem Handydisplay vor seinen Augen zu sehen bekam, konnte er kaum glauben. „Wäre doch schlimm, wenn ihr etwas zustoßen sollte? Es liegt in deiner Hand. Du hast Zeit bis morgen Mittag, dich zu entscheiden. Ich melde mich.“

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