The Butterfly Tales: Imogen

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The Butterfly Tales: Imogen
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Nadja Losbohm

The Butterfly Tales: Imogen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Namensübersicht, ihre Bedeutung und Herkunft

Ein Wort an meine Leserin, an meinen Leser

1

2

3

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Danksagung

Über die Autorin

Impressum neobooks

Widmung

Für Sina, die schrieb, sie würde meine Fantasie lieben.

Ich hoffe, hiermit werde ich deinem Kompliment gerecht.

Namensübersicht, ihre Bedeutung und Herkunft

Herzog Warner

Namensbedeutung: „Armee, Heer“

Herkunft: irisch

Prinz Anrai

Namensbedeutung: „Herrscher der Heimat“

Herkunft: keltisch

Prinzessin Laoghaire

Namensbedeutung: „Hüterin“

Herkunft: irisch

Blake

Namensbedeutung: „dunkel, der Dunkelhaarige“

Herkunft: schottisch

Arren

Namensbedeutung: „Adler“

Herkunft: schottisch

Imogen

Namensbedeutung: „die Tochter“

Herkunft: keltisch

Reich Agrona

Namensbedeutung: „der Kampf“

Herkunft: keltisch

Herzogin Ailís

Namensbedeutung: „die Edle“

Herkunft: keltisch

Glyn

Namensbedeutung: „der aus dem Tal“

Herkunft: irisch

Dealan-Dè

Namensbedeutung: „Schmetterling“

Herkunft: schottisch

Land Beathan

Namensbedeutung: „das Leben“

Herkunft: schottisch

Reich Rohat

Namensbedeutung: „Sonnenaufgang“

Herkunft: irisch

Königin Enid

Namensbedeutung: „Leben“

Herkunft: walisisch

Greer

Namensbedeutung: „die Wachsame, die Wehrhafte“

Herkunft: schottisch

Arely

Namensbedeutung: „das Versprechen“

Herkunft: keltisch

Eivor

Namensbedeutung: „stetiger Wächter“

Herkunft: norwegisch

Vanora

Namensbedeutung: „weiße Welle“

Herkunft: schottisch

Eas

Namensbedeutung: „Wasserfall“

Herkunft: irisch

Baum Magairlín

Namensbedeutung: „Orchidee“

Herkunft: irisch

Enja Odonata

Namensbedeutung: „Feuerlibelle“

Herkunft: „Enja“ = keltisch für „Feuer/ Flamme“; Odonata = wissenschaftl. Name für Libellen

Königin Rúna

Namensbedeutung: „Geheimnis“

Herkunft: altnordisch

Blueberry

Namensbedeutung: „Blaubeere“

Herkunft: englisch

(Die Felder von) Tes

Namensbedeutung: „Dunst“

Herkunft: walisisch

Rhoslyn

Namensbedeutung: „Rose“

Herkunft: walisisch

Cerys

Namensbedeutung: „Liebe“

Herkunft: walisisch

Artis

Namensbedeutung: „Bär“

Herkunft: keltisch

Gräfin Andra

Namensbedeutung: „stark, mutig“

Herkunft: keltisch

Ein Wort an meine Leserin, an meinen Leser

Bevor es mit dem Abenteuer losgeht, möchte ich dir an dieser Stelle zwei Fragen stellen: Glaubst du, dass es mehr gibt, als dein Auge je erblickt hat? Glaubst du an Magie?

Behalte diese Fragen im Hinterkopf. Am Ende des Buches stelle ich sie dir noch einmal. Bis dahin wünsche ich dir ein wunderbares, phantastisches Lesevergnügen.

Deine Nadja

1


~

Alles begann mit einem Blick auf eine Tapete in einem Zimmer in einer Burg. Obwohl das nicht ganz stimmt. Eigentlich begann es mit dem Hereinbrechen einer eisigen Kälte, die das Reich Agrona überzogen hatte und in den Wochen, in denen sie nun bereits anhielt, viele Menschen hatte verhungern und erfrieren lassen. Aus Angst um seine Kinder, die den Schnee liebten, es genossen, in ihm herumzutollen, und die es erfreute, über den zugefrorenen Fluss auf der Ostseite unterhalb der Burg zu rutschen, hatte Lord Warner es ihnen strengstens verboten, hinauszugehen. Seine Tochter Prinzessin Laoghaire und sein Sohn und Erbe Prinz Anrai waren ihm und seiner Frau Herzogin Ailís das Liebste und Teuerste, das sie besaßen, und sie zu verlieren, so wie viele Eltern ihre Kinder verloren hatten in den vergangenen Tagen, wäre für sie das Tragischste gewesen, was sie sich vorstellen konnten, und würde dem Untergang ihres Hauses gleichen.

Doch wie Kinder nun einmal sind, voller Kraft und Bewegungsdrang, hielten es Prinzessin Laoghaire und Prinz Anrai nicht lange aus, still zu sitzen. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem sie nicht ihre Energie verbrauchten, wurden sie unruhiger und zappeliger. Nicht einmal mehr am Esstisch konnten sie sich zusammennehmen und manierlich mit ihren Eltern speisen.

„Himmelherrgott nochmal!“, rief Herzog Warner und schlug mit der Faust auf den Tisch, nachdem der Fuß seines Sohnes wiederholt gegen das Tischbein gestoßen war. „Ihr seid schlimmer als eine Horde Wiesel! Bevor ich euch doch noch in die Kälte gehen lasse“, hierbei blickte Herzogin Ailís entsetzt drein, „steht besser auf und tut irgendetwas, bei dem ihr euch austobt, damit ihr alsbald erschöpft und müde seid und endlich stillhaltet.“ Seine Kinder, die sich vor Freude strahlend erhoben, nun da sie die Erlaubnis hatten, in der Burg zu – ja, was?

„Wir könnten Fangen oder Verstecken spielen“, schlug Prinzessin Laoghaire vor, als sie mit ihrem Bruder das Speisezimmer verlassen hatte und sie beide den Flur entlangliefen, der zur Eingangshalle führte. Prinz Anrai schnaubte verächtlich bei der Vorstellung, sich die Zeit mit seiner Schwester und kindlichen Spielen zu vertreiben. Sie mochte sich mit ihren vierzehn Jahren noch für derlei Dinge interessieren. Doch er, nunmehr sechzehn Jahre alt, war bereits dem Kindesalter entwachsen und ein Mann. Er hütete sich gleichwohl, dies seiner Schwester gegenüber zu äußern. Sie würde ihn dafür nur auslachen und sagen, dass nur er sich für einen Mann hielt. Also stimmte er, wenn auch widerwillig und ohne anderweitige Ideen im Kopf, zu, Fangen zu spielen.

Sie jagten sich durch die gesamte Burg, rannten Treppen hinauf und hinunter, sprangen um Steinsäulen herum, liefen um Rüstungen und Bedienstete herum, bis es sie langweilte und sie zum Versteckspiel wechselten.

„Du zählst bis einhundert“, wies Prinzessin Laoghaire ihren Bruder an.

„Wieso das? Das kommt mir doch sehr lange vor. Bis ich bei einhundert angekommen bin, könntest du bis ins Dorf gelaufen sein“, entrüstete sich Prinz Anrai.

Seine Schwester zuckte mit den Schultern. „Dann wirst du eben schneller zählen müssen“, sagte sie und lief lachend los. Prinz Anrai rief ihr nach, dass sie unfair spielte und er wäre noch nicht bereit. Aber es war zwecklos. Ihr langer blonder Zopf und der letzte Zipfel ihres sonnengelben Kleides waren schon hinter der nächsten Ecke verschwunden und sie war zu weit weg, um ihn hören zu können. Mit knirschenden Zähnen begann er also zu zählen und übersprang dabei die eine oder andere Zahl, immerhin hatte seine Schwester mit ihrem frühzeitigen Loslaufen ebenfalls geschummelt. Denn wenn es eines gab, was Prinz Anrai nicht ertragen konnte, dann war es zu verlieren. In dieser Hinsicht kam er ganz nach seinem Vater, der nach der größten Schlacht, wie man sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte, das eroberte Reich kurzerhand in Agrona umbenannt hatte, zu dem selbst der Name Warner, dem neuen Herrscher, passte: Heer. Und genau wie dieses war der Herzog groß und stark.

 

Als Prinz Anrai fertig gezählt hatte, rief er: „Ich komme.“ Und schon jagte er seiner Schwester nach. Er schob Vorhänge beiseite, öffnete Truhen, hob umgedrehte Körbe an, kletterte in Kamine, krabbelte unter Betten, durchwühlte Kleiderschränke und suchte auch in den Hohlräumen unter Bodenbrettern, von denen er wusste, dass es diese Geheimverstecke gab. Unzählige Türen zu Räumen öffnete er und begegnete dabei etlichen Dienern, die ihm keine Auskunft, wo seine Schwester steckte, geben konnten oder wollten.

Die Zeit verging und Prinz Anrai kam es vor, als hätte er jeden Winkel der Burg nach Prinzessin Laoghaire abgesucht. Ob sie tatsächlich das Dorf als ideales Versteck erwählt hatte? Aber nein. So einfältig konnte selbst sie nicht und hingegen der Anordnung ihres Vaters hinausgegangen sein. Trotzdem warf er einen Blick zum Fenster hinaus, um nach verräterischen Fußspuren im Schnee zu suchen, die von der Burg wegführten. Erleichterung machte sich in ihm breit, als er den Schnee unberührt vorfand, der am Vormittag gefallen war.

„Hm, wo könnte sie sein?“, überlegte er und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. Er musste lange nachdenken, bis ihm der Ort einfiel, an dem er noch nicht nachgesehen hatte: im Ostturm. Doch war es wirklich möglich, dass Prinzessin Laoghaire dorthin gegangen war? In dem Turm gab es lediglich ein Zimmer und dieses war, seit Prinz Anrai denken konnte, verschlossen. Selbst die langjährige Dienerschaft konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich dort oben befand, da der Schlüssel zu dem Raum verloren gegangen war. Nachfragen bei seinem Vater waren ebenso wenig gestattet wie bei seiner Mutter, die für gewöhnlich die Ruhe in Person war. Nur wenn es um den Ostturm, der im Gegensatz zu den übrigen Türmen aus unbekanntem Grund eine doppelte Zinnenkrone besaß, und sein Geheimnis ging, geriet Herzogin Ailís in heftige Aufregung. Prinz Anrai zuckte mit den Schultern und lief in Richtung des Turms. Einen Versuch war es wert.

Außer Atem erreichte Prinz Anrai die Stufen, die den Ostturm hinaufführten.

„Laoghaire? Bist du da oben?“, rief er und lauschte auf Antwort. Doch es blieb alles still. Er fragte sich, ob er sich geirrt hatte und sie doch nicht hierhergekommen war. Machte er sich lächerlich, suchte an völlig falscher Stelle und jeden Moment würde sie hinter ihm stehen und Buh! rufen, dabei schallend lachen? Stirnrunzelnd blickte er hinter sich. Nein, er war allein.

„Also schön“, sagte er zu sich selbst, „ich gehe hinauf und schaue nach, ob du dort bist. Aber das ist mein letzter Versuch. Wenn ich dich jetzt nicht finde, sollst du eben verschollen bleiben.“ Und so erklomm er die Stufen eine nach der anderen und erreichte schließlich die verriegelte Tür zu dem rätselhaften Raum. Allerdings – die Tür war gar nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, sie stand weit offen und in der Mitte des runden Zimmers saß seine Schwester auf dem Boden und starrte vor sich hin. Prinz Anrai wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: über die geöffnete Tür, in deren Schloss kein Schlüssel steckte, oder über seine Schwester, die Löcher in die Luft schaute.

Schmunzelnd und mit verschränkten Armen vor der Brust lehnte er sich gegen den Türrahmen. „Wie bist du hier hereingekommen, Schwesterchen?“, fragte er. Als Antwort zog sich Prinzessin Laoghaire eine der Nadeln aus ihren Haaren, mit denen sie widerspenstige Strähnen zähmte, und zeigte sie ihrem Bruder. Anerkennend pfiff Prinz Anrai. „Ich bin überrascht, welch ungeahnte Talente du besitzt, liebste Schwester. Wo hast du nur gelernt, Türen auf diese Weise aufzubekommen?“

„Glyn“, sagte sie nur, weiterhin vor sich hin starrend. Einer der Küchenjungen, der einen Narren gefressen hatte an ihr, dachte Prinz Anrai grinsend, auch wenn es schon skandalös war, was einer der Bediensteten ihr beigebracht hatte. Er würde wohl mit ihm ein ernstes Wörtchen reden müssen.

„Und wie oft hast du dir auf diese Weise bereits Zutritt zu Orten verschafft, an denen du nicht sein solltest?“, hakte er weiter nach.

„Probiert habe ich es schon öfter. Heute war es das erste Mal, dass es tatsächlich geklappt hat und die Tür aufgesprungen ist“, antwortete sie ihm nach wie vor abwesend.

„Weißt du“, begann er zu sagen und trat in das Zimmer, „wenn du dir schon die Mühe machst, hier einzudringen, dann hättest du die Wahl eines Versteckes zu Ende treffen sollen. Setzt dich einfach hier mitten auf den Boden. Tss!“ Prinz Anrai sah sich in dem runden Zimmer um und allmählich begann er zu begreifen, wieso seine Schwester sich nicht weiter bemüht hatte, sich zu verbergen. Es gab nichts hierin, keinen Schrank, keine Kiste, kein Bett, keine Vorhänge, nur den staubigen Teppich, auf dem sie mit ihrem guten Kleid saß, und die Tapete, die das Rund, lediglich unterbrochen von der Tür und einem Fenster, vom Boden bis zur Decke umspannte.

„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Prinzessin Laoghaire ihren Bruder, der den Kopf schüttelte. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erblickt, obwohl er in seinem jungen Leben bereits unzählige adlige Häuser besucht und vieles an Prunk und Glanz zu Gesicht bekommen hatte. Doch das hier war etwas gänzlich anderes. War es ein gewaltiges Stück Papier oder ein feinst gewebter Teppich? Prinz Anrai lief zu der Wand und strich mit seinen Fingern darüber.

„Es ist tatsächlich eine kunstvoll bemalte Tapete“, bemerkte er und trat einige Schritte zurück, um sich die Wand zu betrachten. Er musste sich um die eigene Achse drehen, um alles davon in Augenschein nehmen zu können.

„Meinst du, was sie zeigt, ist nur Fantasie oder ein Stück Geschichte unseres Landes?“, fragte Prinzessin Laoghaire. Ihr Bruder setzte sich neben sie auf den Boden und ließ seine Blicke weiter über die zahlreichen bunten Abbildungen wandern, die an der Wand prangten.

„Ich glaube, es ist nur Fantasie. Wenn es Geschichte wäre, müssten die Gelehrtenbücher neu geschrieben werden oder hast du schon einmal etwas von kämpfenden Schmetterlingen gelesen?“, fragte Prinz Anrai und deutete auf ein Wesen, das mit seinen Flügeln tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Schmetterling aufwies. Doch es war auch ein Mensch.

„Aber es gibt noch mehr als das. Sieh nur“, sagte Prinzessin Laoghaire, sprang auf und lief zu der Wand. „Hier, dieser grimmig dreinblickende Mann in seinem dunklen Mantel und über ihm das gottgleiche Wesen, das er verbittert ansieht. Und dort“, sie trat ein paar Schritte zur Seite und zeigte am unteren Rand der Tapete auf eine Höhle, „darin ist ein Schatz verborgen.“

„Ja, schon“, unterbrach sie ihr Bruder. „aber über dem Schatz ist das Gesicht eines Kindes zu sehen. Hier“, er krabbelte auf allen vieren über den Boden und tippte auf das junge Gesicht, das etwas blasser gezeichnet, aber dennoch zu erkennen war, „das ergibt keinen Sinn.“

„Ich verstehe auch nicht ganz, was das bedeuten soll. Aber sieh her“, meinte Prinzessin Laoghaire, „da sind Schmetterlinge in hellen Farben, aber auch Falter mit blau-schwarzen Flügeln, die gegeneinander kämpfen. Es kommt mir vor wie ein Kampf Gut gegen Böse. Klingt das nicht aufregend?“, rief sie und klatschte verzückt in die Hände. „Und schau, da ist noch mehr“, rief sie und eilte zu einer anderen Stelle der Wand hinter Prinz Anrai. „Pferde, ein Reitertrupp, Schwertkämpfer, ein Schloss, ein Königreich und dort – ist das ein Liebespaar? Oh ja, wie schön“, seufzte sie und betrachtete sich die zwei winzig klein gezeichneten Figuren in der untersten Ecke, die von einem roten Band und kleinen Schmetterlingen und Herzen umgeben waren.

„Tss! Ja, ganz toll. Ist dir auch aufgefallen, worauf sie stehen?“, warf Prinz Anrai ein, rutschte über den Boden zu seiner Schwester und zeigte ihr, was er meinte.

„Ist das –?“, begann sie.

„- ein Grab?“, beendete er die Frage für sie. „Ja, ich denke schon. Es sieht ganz danach aus.“ Für einen Moment schwiegen die beiden Geschwister und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

„Wer hat sich das alles nur ausgedacht?“, flüsterte Prinz Anrai schließlich, „und vor allem, wozu?“

„Ich habe das Gefühl, als wollte derjenige uns eine Geschichte hiermit erzählen“, meinte seine Schwester und strich zärtlich über die Wandverkleidung, deren Farben allesamt verblasst waren, doch die Grundfarbe Blau war noch ausreichend erkennbar. Am oberen Rand zur Decke hin war es Petrol, das sanft in ein Türkis überging, das sich zur Mitte der Tapete in Grün wandelte und zum Boden hin heller wurde. Zarte, filigrane Efeuranken, einstmals in Dunkelblau gemalt gewesen, das hier und da noch zu sehen war, verliefen kreuz und quer über die Wand. Die übrigen Elemente wie Bäume, Blätter, Blumen, Wolken, Gebäude, Menschen und Schmetterlinge waren in Gold, Silber, Pink, Lila, Magenta, Orange, Braun, Schwarz, Grau und Weiß aufgemalt worden. Ihre letzten Spuren, nicht von der Zeit und von der Sonne ausgeblichen, leuchteten an mancher Stelle noch auf und zeugten davon, welch prächtiger, farbenfroher Anblick dies hier gewesen sein musste.

„Aber weißt du was?“, rief Prinzessin Laoghaire plötzlich aus, kniete sich vor ihren Bruder und nahm seine Hände in ihre. „Wir wissen nicht, wieso der Künstler dies hinterlassen hat und ob es nur seiner eigenen Gedankenwelt entsprungen oder Teil der Geschichte unseres Landes ist. Wir wissen auch nicht, was genau die Bilder erzählen wollen. Aber lass uns die Geschichte erzählen auf unsere Art und Weise, mit unseren eigenen Worten. Was hältst du davon?“

Prinz Anrai runzelte die Stirn. Sich Märchen ausdenken? Aus dem Alter war er doch längst heraus. Außerdem, wozu sollte es nütze sein, sich irgendetwas zu ersinnen, das fern jeder Wirklichkeit war? Er war Realist und kein Träumer wie seine Schwester, die mit ihrem Kopf in den rosa Wolken steckte. Er stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Deswegen war ihm auch das Dunkle, das der wundersamen Wandverkleidung anhaftete, aufgefallen, während Prinzessin Laoghaire das märchenhaft Schöne ins Auge gestochen war.

„Hm“, brummte er nachdenklich. Es könnte auch interessant werden, dachte er, wenn sich unsere beiden unterschiedlichen Charaktere auf das Abenteuer einlassen, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. „Einverstanden. Wir wechseln uns ab, und jeder bringt das mit ein, was er möchte“, meinte Prinz Anrai schließlich.

Seine Schwester nickte, führte jedoch an, dass es nicht allzu brutal und blutig werden sollte. Sie kannte die Vorlieben ihres Bruders zur Genüge.

„Wir werden sehen“, entgegnete er ihr augenzwinkernd. „Ich fange an“, sagte er und besah sich die Tapete, „und zwar mit ihm.“ Er deutete auf den miesepetrig wirkenden Mann im Kapuzenumhang.

~

2


Ein Meuchelmörder zu sein, ist manchen in die Wiege gelegt. Sie sind regelrecht für dieses Dasein geboren, ob sie es wollen oder nicht. Andere wählen den Weg oftmals aus freien Stücken, manchmal aus Verzweiflung, um das Geld einzuheimsen, das lockt. Und wieder andere werden durch Erziehung oder Zwang dazu gemacht, als heimtückische Attentäter zu leben.

Blake und Arren, in der Reihenfolge, gehörten zu den ersten zwei Kategorien. Und so wie sie sich darin unterschieden, waren sie auch in ihrem Wesen ungleich. Das stellte Blake nun einmal mehr fest, als er mit Arren an dem Lagerfeuer lag, das sie zur Nacht in einer Erdkuhle im Wald entfacht hatten. Umgeben von hoch aufragenden Bäumen, dichtem Gebüsch, war dies ein idealer Platz, um zu übernachten. Wäre da nicht das stete Geplapper von Arren gewesen, das die Geräusche des Waldes beinahe zur Gänze übertönte. Nur wenn er Luft holte, um zum nächsten Satz anzuheben, konnte Blake den nächtlichen Ruf der Eulen hören oder das Kratzen von kleinen Pfoten, die einen Baumstamm hinaufkletterten.

 

Seufzend rollte sich Blake auf den Rücken, den er Arren absichtlich zugedreht hatte in der Hoffnung, ihm damit deutlich zu machen, dass er sein Gefasel satthatte und schlafen wollte. Doch manchmal konnte sein Partner wirklich schwer von Begriff sein, oder aber er blendete Dinge einfach wissentlich aus, die er ausblenden wollte.

Blake rieb sich über das Gesicht und legte die Hände auf seiner Brust ab. Der Blick seiner graublauen Augen wanderte hinauf zu dem Blätterdach über ihnen. Durch die winzigen Lücken darin und durch den seichten Wind, der das Laub sachte bewegte, konnte er das Mondlicht und die Sterne funkeln sehen. Es war eigentlich ganz hübsch anzusehen, stellte er fest, und fast stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht. Aber dann erinnerte er sich, dass er kein Mann war, dem so etwas stand. Freundlich dreinschauen, zuvorkommend reden? Nicht mit ihm. Er hielt auch nicht viel davon, wenn andere es taten. Sie kamen ihm immer falsch vor, die höflichen Worte, die netten Gesten, und er hatte schon zu viel erlebt, sodass er wusste, dass solches Getue nur Schauspielerei war, mit der die Menschen einen einlullen wollten, damit man ihre wahren Absichten nicht erkannte. Es war zur Manipulation gedacht. Das war seine, Blakes, Meinung und da konnte kommen, wer wollte, er würde von ihr nicht abrücken. So fest verankert war sie in ihm.

„Blake!“

„Was?“, fragte er scharf.

„Hast du mir zugehört?“, fragte Arren von der anderen Seite des Lagerfeuers.

„Hm“, brummte Blake. Es war eine Lüge. Nicht einmal mit einem halben Ohr hatte er den Worten des anderen gelauscht.

„Ich hatte dich etwas gefragt.“

Verdammt! Blake sah seinen Partner an, emotionslos, wie er hoffte, und nicht preisgebend, dass er tatsächlich nicht auf das Gesagte geachtet hatte.

„Was ist nun? Hast du dich je geliebt gefühlt?“, wiederholte Arren seine Frage. Blakes Innereien verkrampften sich. Dieses Gerede über Emotionen – er kam sich vor wie in Gesellschaft eines gefühlsduseligen Weibes.

„Nein“, gab er auf seine schockierend ehrliche Art als Antwort, „immer nur beurteilt.“

Arren schnaubte. „Bist du dir sicher?“

„Ja.“

„Hm“, machte Arren und zupfte an seinem Bart, der lang genug war, dass er ihn hatte flechten können und der ein passendes Gegenstück zu seinem Haupthaar bildete, das ebenfalls dunkelblond war und an den Seiten zwei geflochtene Stränge hatte, die eng an seinem Kopf lagen und im Nacken mit einem schwarzen Lederband zusammengebunden waren. „Dann ist das sehr traurig, mein Freund.“

„Ist es nicht. Es ist nur eine Tatsache“, erwiderte Blake. In Ordnung, vielleicht flunkerte er ein bisschen. Ein kleinwenig traurig und schmerzvoll war es schon, so zu empfinden und so etwas zu sagen. Doch anscheinend, so dachte er, war er nie genug für jemand anderes gewesen, um geliebt zu werden. Im Gegensatz zu Arren, der zwar einen halben Kopf kleiner und etwas stämmiger, aber nichtsdestotrotz muskulös war, einen sanftmütigen Blick und ein einnehmendes Lausbuben-Lächeln hatte, war Blake groß gewachsen wie eine Bohnenstange, hatte muskulöse lange Arme, scharf geschnittene Gesichtszüge, dunkle halblange Haare, einen dunklen Vollbart, der hier und da von Grau durchzogen war, und eine viel zu große schmale Nase. Nichts an seinem Aussehen wies Romantik oder Zartheit auf, ja nicht einmal Liebenswertes.

„Du denkst an dich immer noch als den Jungen, der du einst warst. Aber du hast dich verändert“, sagte Arren.

Blake starrte ihn überrascht an. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er all das laut ausgesprochen hatte. Er richtete den Blick wieder hinauf zu den im Wind tanzenden Blättern. „Schon möglich, dass ich in der Vergangenheit lebe“, meinte er.

„Du wirst es schon noch schaffen, sie hinter dir zu lassen“, entgegnete Arren und winkte ab. „Und dann wirst du eine Frau treffen, die dir das Gefühl gibt, geliebt zu werden, so wie es bei meiner Frau und mir ist. Das haben wir alle verdient.“

An Blakes Augenwinkel zuckte ein Muskel. Hatte Arren Recht? Hatten es alle Menschen verdient, geliebt zu werden? Zumindest was ihn selbst anging, war er sich nicht sicher. Er hatte viel Schlimmes, Unverzeihliches getan. Er hatte sich verstellt, sich für jemand ausgegeben, der er nicht war, hatte gelogen, betrogen, getäuscht, gestohlen, gemordet – und das alles für Geld. Damit er leben konnte, mussten andere sterben. Er hatte nicht einmal in Erfahrung gebracht, ob die Anschuldigungen stimmten oder nicht, wenn ihm ein nächster Name genannt wurde. Nur der Auftraggeber war ihm wichtig gewesen. Ob dieser sein Opfer denunzierte, war belanglos. Immerhin wurde Blake für das bezahlt, was er mit seinen Händen tat, und nicht für das Stellen von Fragen. Dies alles zu vergessen, schien unmöglich. Wie sollte er da glauben, dass es besser werden würde? Wie sollte er glauben, dass er eines Tages liebenswert sein würde, wenn er es bis jetzt zu seinem Alter von zweiundvierzig Jahren nie gewesen war?

„Ich bin nicht dazu gemacht, jemand zu lieben und zu umsorgen“, sagte er schließlich, der Unterarm über seinem Gesicht liegend. „Ich bin auch nicht dazu gemacht, von jemand geliebt zu werden. Ich habe auch kein Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen.“

Arren lachte. „Und wie bezeichnest du das, was wir haben?“

Blake kam hinter seiner Deckung hervor und rollte sich auf die Seite, um sich seinem Partner zuzudrehen. Er legte ein schiefes Grinsen auf und stierte über die Flammen hinweg zu ihm. „Ein notwendiges Übel“, konterte er.

Mit dieser Antwort hatte Arren nicht gerechnet. Er verschluckte sich an seiner eigenen Lache und hustete. „Sehr freundlich. Danke“, sagte dieser und rang nach Luft.

„Habe ich dich beleidigt?“, fragte Blake zuckersüß und fasste sich theatralisch an die Brust. Arren winkte ab. „Es ist nun einmal eine Tatsache, dass es besser ist, zu zweit unterwegs zu sein. Der Zufall wollte es, dass du einer der besten Krieger bist, die es gibt“, erklärte er weiter. „Gleich nach mir natürlich.“

Arren schnaubte. „Selbstverständlich. Aber im Ernst, fehlt es dir nicht, eine liebevolle Beziehung zu einer Frau zu haben?“

„Nein.“ Die Antwort kam viel zu schnell, als dass sie ehrlich gemeint sein konnte. Dieses kleine Wörtchen wirkte vielmehr wie ein Kanonenschuss, der zum Selbstschutz abgefeuert wurde, damit nicht die Wahrheit ans Licht gelangen konnte. Arren verstand es und lächelte nachsichtig. Blake schloss seufzend die Augen.

„Ich bin ein geborener Blender und Meuchelmörder“, begann er zu sagen und sah seinem Gegenüber in die Augen. „Was ich nicht bin, ist ein Ehemann. Ich bin fähig zu töten, aber nicht zu lieben. Glaube mir, ich habe es versucht. Ich habe versucht, ein anderes Leben zu führen, aber ohne Erfolg. Das, was ich nun tue, ist das, was ich am besten kann.“ Er konnte es Arren vom Gesicht ablesen, dass dieser schockiert war von den Worten. Doch Blake sah es ganz pragmatisch. Die Dinge waren nun einmal so. Was soll’s?

„Du vergisst dabei, dass du in deinem Tun auch Gutes bewirkst. Du befreist die Welt von Tunichtguten und den übelsten Verbrechern“, erwiderte Arren. Und schaffe Platz für neue Schurken, dachte Blake bitter. „Egal wie du über dich selbst denken magst, ich werde für dich beten, mein Freund, dass du lernst, dich anders zu sehen, Seiten an dir entdeckst, die du nicht kennst, und dass du die Erfahrung einer gesunden, gegenseitigen und aufrichtigen Liebe machst“, sagte Arren und nickte bedächtig.

Nun war es an Blake zu lachen. „Spar dir das. Gebete funktionieren nicht. Es gibt nicht den einen Gott oder irgendwelche anderen Gottheiten oder höheren Mächte! Und wenn doch, dann nur solche der finsteren Sorte, die dafür sorgen, dass sich Schlechtes erfüllt, aber nicht Gutes und die darüber auch noch lachen. Und jetzt Schluss mit dem verweichlichten Gerede oder hast du noch irgendwelche Sorgen, was mich und mein Gefühlsleben angeht?“

Arren schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment nicht. Du hast mir vorerst genug zum Nachdenken gegeben. Vielleicht fällt mir später noch etwas dazu ein.“

Blake nickte. „Viel Glück beim Grübeln. Du kannst dafür die erste Nachtwache verwenden. Ich versuche jetzt, etwas Schlaf zu bekommen.“ Und damit rollte er sich auf die andere Seite, den Rücken zu seinem notwendigen Übel gewandt, und schloss die Augen. Das Letzte, was er hörte, waren diese Arrens Worte: „Dein Name passt perfekt zu dir, mein Freund. Blake – dunkelhaarig und dunkles Gemüt.“

~

„Oh, er ist unausstehlich, dieser Blake“, seufzte Prinzessin Laoghaire. Sie mochte die Figur, die ihr Bruder erschaffen hatte, so wenig, dass sie ein Schaudern durchfuhr.

„Ich mag ihn“, sagte Prinz Anrai und betrachtete sich die Zeichnung des verbitterten Mannes auf der Tapete, der hinauf zu dem gottgleichen Wesen über sich schaute.

Der Prinz war regelrecht stolz auf das, was er sich zu ihm ausgedacht hatte. Nun gut, vielleicht war er etwas über das Ziel hinausgeschossen für den Geschmack seiner Schwester. Aber was hatten sie abgesprochen? Jeder erzählte die Geschichte auf seine Weise, und er war sich sicher, dass sich alles gut zusammenfügen würde.

„Jetzt bist du an der Reihe, Schwesterchen“, sagte er und setzte sich auf den Boden direkt vor der Wand. „Jetzt können deine Träumereien die Welt unserer Erzählung betreten. Wie geht es weiter?“ Grinsend zwinkerte er Prinzessin Laoghaire zu.

Diese raffte ihr Kleid und setzte sich im Schneidersitz hin. Grüblerisch ließ sie ihre Blicke über die Tapete wandern, während ihre Finger über die hellen rosa, grünen und blauen Stickereien ihres Rocksaums strichen. Es dauerte eine Weile, bis sie die passende Idee hatte, um die Geschichte weiterzuerzählen, und Prinz Anrai fing schon an, ungeduldig zu fragen: „Wird das heute noch was? Oder soll ich weitermachen?“

Die Prinzessin hob gebieterisch die Hand. „Still! Ich bin so weit.“

~