Loe raamatut: «Die Zuschauer»

Font:

Nathalie Azoulai

Die Zuschauer

Roman

Aus dem Französischen

übersetzt von Paul Sourzac


Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Les Spectateurs, P.O.L., Paris 2018.

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Paul Sourzac

Lektorat: Tanja Ruzicska, Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Julie Heumüller, p98a, Berlin und Marco Stölk, Berlin

ISBN 978-3-966390-20-0

eISBN 978-3-966390-21-7

Die Arbeit am vorliegenden Text wurde mit einem Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

An meine Mutter

Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich,

die Weltgeschichte deiner Seele.

FRANZ KAFKA, Fragmente aus Heften und losen Blättern, 1922


INHALT

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

EPILOG

ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS

I

Man beobachtet sie wie einen Schmetterling, der sich eben erst auf eine Blume gesetzt hat. Alles hält den Atem an, man wartet, dass sie einen Schritt macht, einen ganz kleinen, einen einzigen Schritt. Die drei stehen im Kreis um sie, verharren reglos. Sie blickt nur ihn an. Setzt einen Fuß vor den anderen, doch noch bevor die Ferse den Boden berührt, knickt ihr rechtes Bein ein. Sie versucht, es erneut zu strecken, spannt den Fuß an, aber die Kraft, die sie aufbringt, reicht nicht bis zum Oberschenkel, und das ganze Bein gibt nach. Sie plumpst auf den Po zurück. Ihre Eltern seufzen, schütteln den Kopf, wenden sich ab.

Er nicht.

Er applaudiert ihr, lächelt sie an. Er ermutigt sie, wieder aufzustehen, streckt ihr die Hand entgegen, sagt, komm, nochmal, aber sie nimmt seine Hand nicht. Sie bleibt einige Sekunden im Schneidersitz, dann schwenkt ihr rechtes Bein nach innen, trifft aufs linke und verkeilt sich mit diesem, doch ihr Oberkörper bleibt kerzengerade. Wackelig, in fragilem Gleichgewicht, ist sie drauf und dran, auf die linke Seite zu kippen. Und so geschieht es, sie kippt.

Seine Mutter ist zur Stelle, kniet sich hin, richtet sie auf, dreht das rechte Bein nach außen, doch sobald sie die Hand zurückzieht, rotiert es wieder nach innen. Sie beginnt von vorn, das Bein auch. Ein hektisches Tauziehen setzt ein zwischen der Hand seiner Mutter und dem Knie seiner Schwester. Hör auf, meine Amazone zu ärgern!, sagt er, während er sich ganz dicht an sie schmiegt, direkt über dem Boden, so nah, dass seine Worte vom dicken Teppich geschluckt werden, so wie alles, was er ausspricht, wenn er nicht wirklich – oder nur von ihr – gehört werden will. Dieser Teppich birgt ihre Geheimnisse. Würde er stark genug geschüttelt, gäbe er sie vielleicht preis. Doch zum Glück versucht das niemand.

Er weiß, dass seine Mutter allein schon bei dem Namen Amazone Kinobilder vor sich sieht, Reifröcke an Pferdeflanken. Für einen Augenblick erstrahlt ihr Gesicht, sanft und wohlwollend wie sein eigenes. Dieser Vergleich gefällt ihr besser als der andere, den er manchmal bemüht, wenn er seine Schwester ein Stehaufmännchen nennt.

Sie hat es fast geschafft, sagt er.

Der Arzt sagt, sie soll nicht mehr aufstehen, antwortet sie.

Seid still!, es fängt gleich an, sagt sein Vater.


Am 27. November 1967, um 15 Uhr, gibt General de Gaulle, Präsident der Französischen Republik, eine Pressekonferenz. Die Veranstaltung dauert eineinhalb Stunden. Sie findet im Festsaal des Élysée-Palastes vor versammelten Journalisten statt, Männern in Anzug und Krawatte, wenigen Frauen mit Wasserwellen. Als hätten sich alle zu einem Tanztee eingefunden. Die Konferenz wird im Fernsehen und im Radio live übertragen. Zuerst geht es um England, das Pfund Sterling und den Gemeinsamen Markt. Um Zollschranken und Agrarreformen.


Ein Jahr zuvor will sein Vater einen Fernsehapparat kaufen, um die Geburt seiner Schwester zu feiern. Seine Mutter protestiert, spricht von leichtfertigen Ausgaben, im Wert eines Autos, trauert den großen Leinwänden des Kinos nach. Die ganze Fahrt über wiederholt sie, das Kino sei billiger und größer. Das Fernsehen verändert alles, entgegnet sein Vater. Angeblich sollen die Bilder sogar bald in Farbe sein. Wie aus der Pistole geschossen sagt sie, Becky Sharp, Jahrmarkt der Eitelkeiten, der erste Film in Technicolor, 1935. Mit Miriam Hopkins, erinnerst du dich an sie? Eine außergewöhnliche Schauspielerin, ihre Paillettenkleider, ihr platinblondes Haar, übrigens schöner in Schwarzweiß als in Farbe, in Becky Sharp war ihr Haar zu gelb, während es vorher wie Phosphor leuchtete. Bette Davis’ große Rivalin, ergänzt sie, aber sein Vater hört ihr nicht mehr zu. Er hält ihr nur die Tür auf, lässt sie als Erste das Geschäft betreten, doch gleich im Mittelgang beschleunigt er seinen Schritt und überholt sie.

Er zögert, weiß nicht, ob er mit ihm beschleunigen oder langsamer gehen soll, um den Erzählungen seiner schwangeren Mutter zu lauschen, die in ein blassrosa Kleid gezwängt ist, so eng, dass ihr Bauchnabel sich abzeichnet, wie eine Brustwarze unter dem Jersey drückt. Was für eine Hitze!, seufzt sie. Maria kann einfach keine Umstandskleidung nähen. Doch er ahnt, dass nur sie für dieses zu knappe Kleid verantwortlich ist und selbst einen Monat vor der Entbindung nicht verzichten kann auf Kräuselfalten, Abnäher und Gürtel, die die Taille betonen.

Sie warten im Elektrowarengeschäft. Hier haben sie auch den Kühlschrank gekauft, das Transistorradio, jedes Mal mit diesem grandiosen Gefühl, die Spitze des Fortschritts zu erreichen, sich wie die Amerikaner auszustatten. Seine Mutter schaut weniger auf die Geräte als auf die anderen Jungen in seinem Alter, die zwischen den Abteilungen umherschlendern. Er weiß, dass sie ihn vergleicht, wo immer sie sich aufhält, dass sie prüfen will, ob er wie seine Altersgenossen ist oder anders. Nur durch sein Haar unterscheidet er sich, krause Locken, die sich über seinem Schädel kringeln, den sie für gewöhnlich ganz kurz scheren lässt, bevor sich wieder neue bilden können. Wenn sie von Weitem wähnt, er habe ebenso geschmeidiges, seidenweiches Haar wie die anderen, Strähnen, in denen kein Kamm je hängenbleibt, muss er nur näherkommen, und schon zerstört, was sie nachwachsen sieht, ihre Illusion. Da er bemerkt, wie sich ihr Blick verhärtet, hört er ihre Stimme bereits am Telefon, wie sie den nächsten Friseurtermin vereinbart und seufzend klagt, Sie sagen es, ja, schon wieder …

Er streicht über die gewölbten Bildschirme, die Knöpfe, die Metallrillen. Sein Vater ermahnt ihn mehrmals, nichts anzufassen. Er tut, als würde er gehorchen, lässt seine Finger aber trotzdem die Bildschirmflächen berühren. Seine Mutter bewegt sich nicht. Ihr Bauch ist ungleich gewölbter als alle Bildschirme. Und plötzlich werden die Apparate ringsum zu ebenso graviden Kreaturen, beauftragt, neues Leben zu liefern. Er wiederholt, abseits von ihnen im Gang, leise das Wort »gravid« – gravide. Er hat es kürzlich erst im Sachkundeunterricht gelernt, hat es sofort gemocht, es in das Heft notiert und unterstrichen, in das er ihm noch unbekannte Wörter schreibt, bevor er sie zu Hause einweiht: Jedes Mal blicken seine Eltern erst ihn, dann sich an, entzückt, dass ihr Sohn Frankreichs Französisch so gut beherrscht. Seine Mutter fragt bisweilen nach der Bedeutung eines neuen Wortes, sein Vater im Grunde nie. Während seine Mutter über der von ihm gegebenen Definition den Kopf wiegt, starrt sein Vater ihn ungerührt an. Mehr braucht er nicht, um die Rolle zu ermessen, die ihm zukommt, den Wert des Vertrags, dessen Gegenstand er ist: Er soll die Lösung ihres Problems sein.

Seine Mutter sieht sich an, was über die Bildschirme flimmert; diese Weinreklamen gefallen ihr nicht recht. Sein Vater antwortet, Wein sei wichtig in Frankreich, aber es gebe auch Reklame für Milch, nicht wahr, Monsieur? Ah, antwortet seine Mutter müde, der Verkäufer bringt ihr schließlich einen Stuhl. Milch ist ganz ausgezeichnet für Kinder, sagt er. Vor allem die Milch aus der Normandie, bekräftigt sie und zeigt auf ihren so großen, so weißen Sohn, der herantritt. So was hat der Verkäufer noch nicht erlebt, plötzlich hat er den Eindruck, dass diese zwei Kunden seine Abteilung überschwemmt haben, mit Bächen roter und weißer Flüssigkeit, die sich vor seinen Augen schließlich vermischen, ihn unter rosa Fluten begraben. Um nicht dem genervten Blick des Verkäufers zu begegnen, entfernt er sich wieder, läuft lieber Gefahr, seinen Vater dadurch zu verärgern, dass er in den Gang der Apparate zurückkehrt, als sich so etwas anzutun. Der Verkäufer fängt sich, diese Werbespots würden ohnehin nur einige Minuten täglich gesendet, sieben, um genau zu sein. Woher wissen Sie das?, fragt seine Mutter. Madame, das ist streng reglementiert und außerdem mein Beruf, sagt er milde lächelnd, ich verkaufe den ganzen Tag Fernsehgeräte.

Auf dem Rückweg schimpft und seufzt sie ohne Unterlass, sie könne das Fernsehen nicht ausstehen, sie holten sich den Teufel ins Haus, sie ziehe das Kino vor. Sie werde sich die Filme nun ansehen können, ohne vor die Tür gehen zu müssen, sagt sein Vater, sogar im Nachthemd, wenn sie möchte. Und warum nicht in Pantoffeln? Einen Film schaut man sich angezogen und geschminkt an, giftet sie. Niemals werde sie es hinnehmen, angesichts all dieser schicken Schauspielerinnen derart herabgesetzt zu werden. Niemals eine solche Benachteiligung dulden angesichts der Heerscharen an Maskenbildnerinnen, Friseurinnen und Garderobieren, die jeden Auftritt überwachen. Gedemütigt würde sie sofort den Apparat ausschalten. Niemals, sagt sie, hörst du, niemals!

Vom Rücksitz aus verfolgt er den Streit, ohne Partei zu ergreifen. Bei ihren Auseinandersetzungen ist er stets uneins mit sich, als würde eine Metallstange seinen Körper spalten, ihn daran hindern, sich einer der beiden Seiten zuzuneigen. Doch jetzt bewegt er sich auf der Sitzbank, rückt zum Fahrersitz, hinter seinen Vater, und ahnt, der Fernseher könnte das Kino endlich bis zu ihm tragen, und die ganze Bilderflut, die seine Mutter schon so lange mit sich führt, würde auch endlich ihn erreichen, obwohl er kurzzeitig den Verdacht hegt, sie wolle diese Bilder für sich behalten. Im Rückspiegel begegnet er dem zufriedenen Blick seines Vaters.


Der 27. November 1967 ist ein Montag. Sein Vater sollte nicht zu Hause sein, aber er ist da. So wie er, der um 15 Uhr schon wieder im Unterricht sein müsste, aber ausnahmsweise vorgibt, am Nachmittag schulfrei zu haben. Er weiß, dass seine Mutter den Moment mag, der auf das Mittagessen folgt, wenn sie alles abgeräumt, die Kleine ins Bett gebracht hat und sich endlich ein wenig Ruhe gönnen kann. Oft nascht sie ein Stück Schokolade, zündet sich eine Zigarette an, die einzige des Tages, blättert in einer ihrer Zeitschriften. Kurz bevor er wieder zum Unterricht geht, kuschelt er sich mit ihr aufs Sofa, atmet die Mischung aus Zigaretten- und Schokoladenduft ein, nimmt die zarten Laute auf, die aus ihrem Mund, vom Reiben ihrer Fingerkuppen auf den Seiten kommen. Jahrelang ist er für ein paar Minuten am Tag – bevor seine Schwester und das Fernsehen Einzug halten – mit ihr allein. Ihr Atem geht sanft, angenehm langsam.


Sie haben gerade Gilda geschaut, sagt sie zu ihm. Der Bürgersteig am Kinoausgang ist überfüllt mit Menschen, sodass sie nicht sieht, wohin sie tritt. Inmitten der Menge stolpert sie, und stürzt. Er läuft weiter, ohne sich umzudrehen, entfernt sich mit großen Schritten. Sie ruft ihm nach, massiert ihren Knöchel, er aber kommt nicht zurück. Sie steht allein auf, hinkt, holt ihn humpelnd ein. Ohne sie anzublicken, erklärt er, dass Glenn Ford den Launen dieser teuflischen Gilda zu Recht nicht nachgibt und seiner Wege geht. Behandelt man so etwa seine zukünftige Frau, lässt man sie einfach auf den Bürgersteig fallen?, fragt sie, da in wenigen Wochen ihre Heirat bevorsteht. Er blickt sie genauso unerbittlich an, wie er Gilda anblicken würde, wäre sie da, und beschleunigt seinen Schritt. Als sie nach Hause kommt, weint sie nicht, bläst keine Trübsal, hat keine Angst, erzählt sie weiter, drei Monate später einen Tyrannen zu ehelichen. Sie denkt nur an Gildas Kleid, kann nicht aufhören, es vor dem Einschlafen auf den Seiten ihrer Zeitschrift zu betrachten. Ein Kleid ist, was mir von einem Film bleibt, sonst geht man mit leeren Händen hinaus, in dem Gefühl, nur Zeit gekauft zu haben, fügt sie hinzu, höchstens zwei Stunden, bevor das richtige Leben wieder einsetzt. Auf einem der Zeitschriftenfotos hebt sich vom feinen schwarzen Satin ein Etikett aus dickem, weißem Stoff ab: Rita Hayworth, Columbia. Ihre Augen können sich nicht mehr davon lösen; sie weiß nicht, ob es am groben Stoff liegt oder an der wunderbaren Verbindung, die diese drei Namen miteinander eingehen, Rita, Hayworth, Columbia. Und dann entdeckt sie Jean Louis’ Namen. In Amerika, sagt sie, haben die Kostümbildner oft nur Vornamen, Jean Louis, Adrian, Irene, als wären sie Kinder ein und derselben Familie. Ein so aufreizendes Kleid gestatten ihre Eltern dem sechzehnjährigen Mädchen nicht. Sie ist einverstanden, dass man es ihr ohne Schlitz anfertigt und in einem dezenteren Stoff als schwarzem Satin, sie schlägt Krepp vor, Baumwolle, Jersey, eine dickere Schleife, irgendetwas anderes, aber die Schneiderin der Familie blickt ihren Vater an und antwortet, das Problem liege beim Schnitt, nicht beim Stoff. Sofort macht sie die großen Falten geltend, die sich an Ritas Taille bilden, dieser Schnitt sitze gar nicht so gut, wie man glaubt, schauen Sie, sagt sie, hält der Schneiderin ihre Zeitschrift hin und deutet mit dem Zeigefinger darauf, es steht ab und könnte noch mehr abstehen, doch die Schneiderin hat das letzte Wort: Dann wäre es kein Etuikleid mehr. Sie gibt auf und wünscht sich insgeheim, eines Tages ihre eigene Schneiderin zu finden, eine ihr treu ergebene Komplizin, da anscheinend alle großen Schauspielerinnen eine solche haben. Sie blättert um, und als könnte er mit nur einem Wort einen längst erhörten Wunsch erfüllen, spricht er den Vornamen Maria aus.


Als die Lieferanten ins Haus kommen, steht sein Vater in der Tür, hat es eilig, muss in die Klinik, wo seine Mutter kurz vor der Entbindung steht. Sie stellen den großen Karton mitten im Wohnzimmer ab. Maria ist nach oben gekommen. Normalerweise wäre er nach unten gegangen, um nicht allein zu bleiben, doch an diesem Tag muss auf das Paket aufgepasst, die Installation überwacht werden. Sein Vater gesellt sich zu ihnen, würde lieber dableiben, als plötzlich im Zimmer eines Entbindungsheims gefangen zu sein, zwischen einer Frau und einem Säugling, verlässt aber schließlich die Wohnung. Maria merkt an, dass sie daheim noch keinen haben, er müsse sehr glücklich sein. Aber wenn man näht, kann man sowieso nicht aufsehen. Es sei schon ein merkwürdiger Zufall, fügt sie hinzu, dass die Lieferung am selben Tag stattfindet wie die Geburt des Kindes, doch sie will ihn nicht fragen, worüber er sich am meisten freut. Die Lieferanten gehen ihr Werkzeug unten aus dem Lastwagen holen. Ständig sagt sie »dein Papa« und »deine Mama«, manchmal auch nur »Papa«, »Mama«, als wären es genauso ihre Eltern, als würde diese Geburt über alle Welt ihre elterlichen Fittiche breiten. Bei seinen Freunden in der Schule beschränkt er sich auf »meine Mutter« oder »mein Vater«, und wenn er jemanden mit nach Hause bringt, ruft er erst gar nicht nach ihnen, hütet sich davor, die einzigen Wörter zu gebrauchen, die ihm annähernd – und wirklich nur annähernd – passend erscheinen, importierte Bastardwörter, jeglicher Vermischung, jeglicher Unbeständigkeit der Sprachen entrissen, mangels Besserem in unaufhebbarer Willkür belassen; Wörter, die er nicht einmal sicher buchstabieren kann: Mummy. Papy. Wörter, die er seinerseits verwandelt, indem er sie amputiert, auf fast nichts reduziert, auf Töne von vager Bedeutung, vokale Anspielungen, an Lautmalerei grenzend, und die er nicht mag: Ma. Pa. Widerspenstige Wörter, kalte Einsilbler, gezückten Messern ähnlich.

Nein, es ist kein Zufall, antwortet er Maria und äfft sie gekünstelt, betont freudig nach, Mama und Papa wollten das Ereignis ja gerade feiern. Ist das nicht ein bisschen viel, gleich doppelter Zuwachs in der Familie?, fragt sie. Hier weiß er keine Antwort mehr, schweigt lieber, richtet seine Augen starr auf den großen Karton und sperrt Maria gedanklich hinein, mitsamt ihren Bemerkungen, ihren unangebrachten Worten, ihren indiskreten Fragen.

Wäre nur Pepito da, Marias Sohn, sie wären beide schon in sein Zimmer gegangen, wo sein Schatz verborgen liegt. Nur Pepito kann sich mit ihm auf den Bauch legen und unter sein Bett kriechen, um den Papierhaufen zu berühren, der, vor Blicken geschützt, seit drei Jahren unter den Sprungfedern des Bettgestells anwächst. Jedes Mal streckt Pepito seine Hand wie nach einem Haufen zarter Federn aus, in der Erwartung, seinem Blick zu begegnen und ihn sagen zu hören, er hat Frankreich gerettet, und dann noch die rasche Hinzufügung, dass auch er Frankreich retten wolle, womit er endlich seine Hand darauf ablegen kann. Und wovor soll es gerettet werden?, fragt Pepito manchmal vorsichtig. Er überlegt, will sich erklären, mögliche Gefahren ausfindig machen, doch mit der Zeit begreift er, dass dies keine Rolle spielt: Wenn die Formulierung wiederkehrt, dann weil sie für sich steht, ganz ohne Begleitumstände. So, wie man Nägel kaut, will man auch Frankreich retten, sagt er einmal, so ist das eben.

Die Installateure klingeln erneut. Er rennt zur Tür, um ihnen zu öffnen. Eine Weile lang – er weiß nicht, ob es Minuten oder Stunden sind – laufen sie im Wohnzimmer hin und her, umrunden den Karton, schließlich den Apparat. Maria bringt kein Wort mehr heraus. Man hört nur den Atem der Männer, die Namen der Werkzeuge, die sie verlangen und einander wie Chirurgen reichen. Er genießt diesen Moment der Stille und Konzentration, diese Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Eingeweiden mit Metall, meint den Kern des Fortschritts zu erkennen. Endlich treten sie vor den Apparat und schalten ihn ein. Im selben Augenblick, in dem das Bild aufflackert, klingelt das Telefon. Komödien, Dramen, Melodramen, alles, was das Herz begehrt, zählen die Techniker munter auf.

Maria nimmt den Hörer ab und verkündet ihm, dass er eine kleine Schwester hat.


Er bückt sich, beugt sich zu ihr, um ihr einen Würfel, ein Spielzeug hinzuhalten, drückt seine Stirn an ihre, ihre so weiche, wie ein Bildschirm gewölbte Stirn. Er mag es, wie sehr sich der Bau ihres Skeletts mit dem Fleisch deckt, das sich straff und faltenlos darüber spannt. Ein Zeichen für Kraft und Gesundheit, denkt er. Seine Mutter betrachtet sie aus den Augenwinkeln, tut so, als starrte sie auf den Fernsehapparat. Er weiß, dass in dem Augenblick, da ihre Köpfe sich vereinen, ihrer beider Haar zu einer einzigen, dichten Masse wird – das genaue Gegenteil von dem, was sie sich für ihre Tochter erhofft, blondes Haar, fein und glatt, wie das der anderen Mädchen im Viertel, Haar, über das sie in den Monaten ihrer Schwangerschaft streicht, bei den Händlern, in den Warteschlangen. Mit dieser zerstreuten, lässigen Miene, obgleich er ahnt, dass ihre Fingerspitzen vor beschwörender, vorausahnender Hoffnung pulsieren. Das englische Wort »fair«, sagt sie einmal, bedeutet blond und schön, man muss sich nur Miriam Hopkins oder Marlene Dietrich anschauen, fügt sie hinzu. Wo denn?, fragt er, damit sie ihren Zeitschriftenstapel durchforsten geht und mit leeren Händen zurückkommt: Sie habe vor allem die aus den Vierzigerjahren aufbewahrt, sagt sie dann, und er will sie nicht fragen, was sie mit den Jahrzehnten davor und danach gemacht hat.

In den ersten Lebensmonaten der Kleinen heftet sie den Blick auf den blonden Flaum und betet wahrscheinlich zu Gott, sie möge nicht wie sie selbst dem neidvollen Entzücken ausgesetzt sein, dem er beiwohnt, wenn er mit ihr in den Friseursalon geht. Sie haben Glück, so viel Volumen zu haben, Madame, so dichtes Haar, ein wahrer Segen ist das, sagen die anderen Kundinnen, und eine neue Angestellte fragt schließlich jedes Mal, haben Sie ausländische … Mit einem Sprühstoß Haarlack über ihrem Haupt belässt sie den Satz in der Schwebe. Er sieht, wie seine Mutter lächelt, dem Blick der Chefin begegnet, unter dem Zucken des letzten Durchkämmens beipflichtet, ausländische Wurzeln? Ja!, und vage Fragen mit ebenso vagen Antworten bedenkt.

Doch nun, auf dem Teppich, ist er sich genau so sicher wie ihre Mutter: Sie haben das gleiche Haar, ihre beiden Köpfe formen ein dunkles, krauses Haarbüschel, welches ihr derart missfällt, dass sie nach all den Monaten der Hoffnung plötzlich den Blick abwendet, wobei ihr entfährt, Margarita Carmen Cansino wäre ohne Versetzung des Haaransatzes niemals zu Columbias Rita Hayworth geworden, allein Hollywood habe einen solchen Fluch beenden können. Um abzulenken und gegen seine Enttäuschung anzukämpfen, brüllt er wie ein Löwe, einmal, zweimal, dreimal, und schüttelt die Mähne ihrer zwei verschmolzenen Köpfe. So was Lustiges hat ihre Mutter noch nie gesehen. Sie bückt sich, um beide in den Arm zu schließen, fügt ihre eigene Haarpracht der ihren hinzu – wie Blut zu Blut. Genau wie der MGM-Löwe, erklärt sie dann, L. B. habe persönlich darauf bestanden, dieses dritte, überraschende Brüllen anzuhängen, leicht zeitversetzt, für sie stets unerwartet, genau wie das Brüllen, das er eben von sich gegeben hat. L. Bi.?, wiederholt er stutzig.

Louis B. Mayer, Chef der MGM. Er wurde nur bei seinen Initialen genannt, L. Bi., die amerikanische Art.


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