Loe raamatut: «Leben ohne Ende», lehekülg 2

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Meine Mutter ist ein sehr reinlicher Mensch. Mehrmals pro Woche putzt sie in unserem Haus in Stockerau das Bad, und die Toiletten säubert sie beinahe jeden Tag penibel. Ordnung ist ihr wichtig. Ich habe einmal erlebt, dass sie auf ihrem Weg zur Arbeit wieder umgekehrt ist, weil sie vergessen hatte, ihr Bett zu machen. So hat sie noch in der Nacht meines Blutsturzes alle Spuren beseitigt und mein Schlafzimmer in beste Ordnung gebracht, bevor ich mich wieder hingelegt habe.

Als ich am nächsten Morgen erwache, habe ich für einen Augenblick ganz vergessen, was in der Nacht geschehen ist. Erst als ich das besorgte Gesicht meiner Mutter sehe, fällt es mir siedend heiß wieder ein.

Ich will nicht ins Spital. Als meine Mutter mir erklärt, dass ich dort auch nicht hin muss, bin ich positiv überrascht. Sie hat noch in der Nacht mit meiner Tante telefoniert und sie gebeten, ihre guten Kontakte zur Wiener Ärzteszene zu nutzen. Das finde ich zwar völlig übertrieben, aber immerhin bleibt mir so die bedrückende Krankenhausatmosphäre erspart.

Wir packen unsere Sachen und machen uns von Stockerau aus auf den Weg nach Wien. Erst auf der leeren Straße wird mir bewusst, dass Sonntag ist. Meine Mutter und meine Tante müssen sich wirklich ins Zeug gelegt haben, um diesen Arzttermin zu bekommen, denke ich, und fühle mich dabei nicht gerade wohl. Noch einmal versuche ich, meiner Mutter die ganze Sache auszureden, ihr klarzumachen, wie übertrieben mir das alles scheint. Aber sie geht nicht darauf ein, scheint auf Autopilot geschalten zu haben. Also beschränke ich mich darauf, während der Fahrt murmelnd die obszönsten Schimpfworte auszuprobieren, die ich im Internat gelernt habe.

Der Arzt, bei dem wir einen Termin bekommen haben, ist Professor, wie das Türschild in der restaurierten Altbauwohnung im vierten Wiener Gemeindebezirk verrät. Die Praxisräume sind hoch und hell, die Wände frisch ausgemalt. Der Wartebereich, in dem ich der einzige Patient bin, ist so groß wie unser Wohnzimmer. Im Hintergrund läuft klassische Musik und es riecht nach Rosenblüten, die auf mehrere Schüsseln verteilt im Raum drapiert sind. Die Umgebung gefällt mir und ich fühle mich mit der Situation versöhnt, habe ein viel besseres Gefühl als bei den Arztbesuchen in Stockerau. »Jetzt bringst du das hinter dich«, mache ich mir innerlich zusätzlich Mut, »und ab morgen wird beim Training wieder Vollgas gegeben.«

Die Untersuchung verläuft zunächst harmlos. Der Professor betrachtet die Röntgenbilder meiner Stirnhöhlen, die meine Mutter aus Stockerau mitgebracht hat. Er sagt, dass ich den Druck in meinem Ohr beschreiben soll, will wissen, ob er sich in den letzten Tagen ausgebreitet hat. Er fragt nach vorangegangenen Operationen, erkundigt sich, ob ich regelmäßig Medikamente einnehme, und ich erzähle von den mir verschriebenen Nasentropfen. Der Professor notiert einige Worte auf einem Karteikärtchen, bittet mich danach, ein wenig vom Fußballspielen zu erzählen, lauscht meiner nasalen Stimme und nickt. Mit einem Wattestäbchen tupft er Sekret aus meiner Nase und steckt die Probe danach in ein verschließbares Plastikröhrchen.

Als ich schon meine, fertig zu sein, präsentiert er mir plötzlich einen etwa fünfzehn Zentimeter langen Metallstab, an dessen Enden eine Linse und ein Lämpchen eingebaut sind. Das Ding sieht nicht gut aus, denke ich. Er erklärt mir, dass es sich bei dem Gerät um eine Sonde handelt, mit deren Hilfe er das Innere meines Nasenraums inspizieren wird. Na fein. Er bittet mich, für einen Moment stillzuhalten. Als er mir den Stab vors Gesicht hält, muss ich mich bemühen, nicht zurückzuzucken. Aber der Professor führt ihn so vorsichtig in meine Nasenöffnung, dass ich kaum eine Berührung spüre. Die Untersuchung dauert nicht lange. Als der Professor sie beendet hat, legt er die Sonde an ihren Platz zurück und sieht mich und meine Mutter an.

»Es handelt sich entweder um Polypen. Oder um einen Tumor«, sagt er trocken.

Das Wort ›Tumor‹ füllt den Raum. Ich sehe, wie meine Mutter in ihrem Sessel zurückkippt, von der Wucht der Aussage in die Lehne gedrückt zu werden scheint. Ich halte meinen Atem an, fürchte die drohende Möglichkeit, mit dem nächsten Luftzug zu inhalieren und sie so Wirklichkeit werden zu lassen.

»Und was heißt das?«

Die Stimme meiner Mutter klingt heiser. Sie hat Mühe, den Satz auszusprechen.

Jetzt hebt der Professor beschwichtigend seine Hand. Ein Tumor ist nichts anderes als eine Wucherung, ein Gewächs, erklärt er uns. Er kann durchaus gutartig sein. Das aber muss erst durch eine Biopsie festgestellt werden. Dazu schneidet man Gewebe aus dem Gewächs, das später von einem Pathologen unter dem Mikroskop untersucht und analysiert wird. Die Gewebeentnahme bedeutet nur einen kleinen Eingriff von etwa einer halben Stunde, fügt er hinzu.

Er selbst werde operieren, verspricht der Professor. Handle es sich um Polypen, werde er diese sofort entfernen, andernfalls ein Stück des betreffenden Gewächses für die spätere Untersuchung entnehmen.

Ich atme wieder. Auch meine Mutter scheint beruhigter. Ihre Stimme hat jetzt den üblichen rauen, aber kräftigen Klang.

»Wir bekommen doch rasch einen Termin?«, will sie wissen. Der Professor sieht in seinem Kalender nach, führt ein kurzes Telefonat. Er spricht mit seiner Assistentin, nickt uns zu. »Ich kann schon am Dienstag in der Privatklinik ›Goldenes Kreuz‹ operieren, wenn Sie möchten«, bietet er uns an.

Sandra
Diagnose Knochenkrebs 1996 im Alter von 16 Jahren

Im Raum riecht es nach Plastik, nach Desinfektionsmittel und Farbe. Es ist ein künstlicher Geruch, leblos und fremd. Langsam dringt er in Sandras Nase, erfüllt sie und lässt das gerade erwachende Mädchen blinzeln. Benommen versucht sie sich zu erinnern, wo sie sich befindet, doch ihre Gedanken laufen wirr durcheinander. Bilder von Menschen in weißen Gewändern tauchen auf und verschwinden wieder, sind unbekannt und lassen sich nicht zuordnen. Sandra öffnet ihre Augen weit und erblickt eine weiße Zimmerdecke. Zwei Neonröhren sind dort angebracht. Sie kann die Umrisse der Lampen nur undeutlich erkennen. Sandra sieht nicht gut, hat sechs Dioptrien auf dem einen und sieben auf dem anderen Auge.

»Wo habe ich schon wieder meine Brille hingelegt?«, denkt sie. Verwirrt will sie an ihre Nase greifen und fühlt, dass sie ihre Hand nicht bewegen kann. Sie versucht es noch einmal und scheitert. Erst jetzt bemerkt sie, dass ihre Arme niedergebunden und festgezurrt sind. Erschrocken öffnet Sandra ihren Mund, möchte um Hilfe rufen, doch kein Ton kommt heraus. Wie Blitzlichter erscheinen in ihrem Gedächtnis Bilder, die Sandra nicht einordnen kann. Menschen, die sich über sie beugen. Maskengesichter. Unbekannt und mit erstarrtem Ausdruck. Das Gefühl der Benommenheit wird weniger und sie nimmt nun wahr, dass etwas in ihrer Kehle steckt, ihren Worten den Weg versperrt und in ihrem Inneren scheuert. Nur langsam begreift Sandra, dass es sich dabei um einen Beatmungsschlauch handelt.

»Warum werde ich künstlich beatmet?« denkt sie verzweifelt und fragt sich, was mit ihr geschehen ist. Das Gefühl, sich nicht bemerkbar machen zu können, ist beklemmend und wirkt wie eine zusätzliche Sperre in ihrer Kehle. Hilflos liegt Sandra auf dem Rücken, ist festgeschnallt und gefesselt. Sie hört ein Piepsen, dreht ihren Kopf ein wenig zur einen, dann zur anderen Seite und erkennt, dass die gleichförmigen Töne von einem medizinischen Gerät verursacht werden. Sie sieht einen Bildschirm mit Linien und Kurven, Kabel in verschiedenen Farben und Plastikschläuche. Außer ihr ist niemand im Raum. Ihr Bein schmerzt, in seinem Inneren pocht und pulsiert es, es drückt und brennt, und plötzlich kommen die Erinnerungen.

Nach einem halben Jahr, in dem Sandra wegen ihrer Schmerzen von einem Arzt zum nächsten gebracht wurde, in dem sie eine Untersuchung nach der anderen und schon einige Spitalaufenthalte über sich ergehen hat lassen, wurde ihr, für sie völlig überraschend, die Diagnose Knochenkrebs gestellt. Sandra ist bestürzt, als sie erfährt, dass in ihrem rechten Knie ein Tumor wächst, und gleichzeitig erleichtert, weil sie endlich eine Diagnose hat.

Nach den ersten beiden Chemotherapieeinheiten, die sie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und im St. Anna Kinderspital erhalten hat, war eine große Operation geplant. Sechs bis sieben Stunden sollte der Eingriff dauern, ihr Bein dabei der Länge nach aufgeschnitten, die Knochen ausgeschabt, der Tumor entfernt und eine sogenannte Endoprothese, eine innere Stütze aus Titan, eingesetzt werden. Verschwommen sieht Sandra jetzt, wie sie auf dem Rollbett in den Operationssaal geführt wird. Undeutlich hört sie die Stimme des Anästhesisten, der ihr erklärt, dass sie nun gleich einschlafen wird. Sie sieht, wie sich eine Schwester lächelnd über sie beugt, spürt die Hand der Operateurin, die ihren Oberarm tätschelt. Sie alle wollen sie beruhigen, begegnen ihr freundlich und hilfsbereit.

Warum hat mir keiner von ihnen gesagt, dass ich auf der Intensivstation aufwachen könnte?, denkt Sandra, die nun sicher ist, sich auf ebendieser zu befinden.

Wieder versucht sie, ihre Arme und Beine zu bewegen, spreizt die Finger und Zehen, hebt ihren Kopf. So sieht sie, dass sich hinter dem Fußende ihres Bettes eine Milchglasscheibe befindet, auf deren gegenüberliegender Seite jemand steht. Sandra strampelt und zuckt, so gut sie kann, mit ihren Gliedmaßen. Endlich bemerkt sie die Gestalt hinter der Trennwand und eilt zu ihr herüber. Die Schwester betritt ihr Zimmer, und Sandra lässt ihren Kopf erschöpft in das Kissen fallen, driftet schon wieder in eine Traumwelt ab.

Achtmal muss Sandra im Laufe ihrer Krebserkrankung operiert werden. Weil ihr Bein manchmal so anschwillt, dass die Ärzte die Wunde nicht schließen können, müssen Haut- und Muskelstücke aus ihrem zweiten Oberschenkel und dem Rücken entnommen werden, um den Spalt zu schließen. Zweimal infiziert sich die behandelte Stelle, da Sandras Immunsystem durch die lange Behandlung geschwächt ist. Das Bein muss von Neuem aufgeschnitten und ausgeschabt werden. Einmal bricht das Ende der Prothese, das mit dem Bein verbunden ist, den Knochen. Jedes Mal muss Sandra danach mehrere Tage bis Wochen still in ihrem Krankenzimmer liegen, danach wieder mit der Physiotherapie beginnen, lernen, das Bein zu bewegen, die geschwundenen Muskeln wieder aufzubauen und zu trainieren. Seit beinahe zwei Jahren geht Sandra nun schon auf Krücken, verbringt ihre Tage in Spitälern und Kliniken, statt wie die Mädchen ihrer Klasse zur Schule zu gehen, die ihr nun viel bedeutet. Plötzlich wünscht sie sich nichts mehr, als gemeinsam mit ihren Mitschülern dem Unterricht lauschen zu dürfen, in einem normalen Klassenraum zu sitzen, Aufgaben zu lösen, zu rechnen und zu schreiben.

Als sie vor dem achten Eingriff in den Operationssaal des AKHs geschoben wird, würgt es sie in der Kehle. Bisher hat sie ihre Behandlungen zumeist still über sich ergehen lassen, hat akzeptiert, was geschehen ist und sich ihrem Schicksal gefügt. Sie riecht den vertrauten Geruch nach Desinfektionsmittel, Plastik und Farbe, fühlt die pochenden Schmerzen in ihrem Bein, spürt das Brennen und Ziehen. Die Operateurin kommt auf ihr Bett zu. Bei ihrem Anblick beginnt Sandra zu weinen. Die Tränen lassen sich nicht zurückhalten, laufen ihre Wangen hinunter, durchnässen bald das Tuch, auf dem sie liegt. Es ist kurz vor Weihnachten. Sandra kann nicht mehr. Sie will die Feiertage zu Hause und mit ihrer Familie verbringen. Sie hat keine Energie mehr. Sie weiß, welcher lange Krankenhausaufenthalt, welche Schmerzen, was für eine mühsame Trainingsarbeit danach auf sie warten.

»Ich kann nicht mehr«, weint Sandra und wiederholt die Worte so lange, bis es schwarz vor ihren Augen wird.

Als sie im Aufwachraum des Krankenhauses die Augen öffnet, hat eine Veränderung stattgefunden. Die Schmerzen in ihrem Bein sind zum ersten Mal kaum noch zu spüren, im Zimmer riecht es frischer, und sie fühlt sich weniger benommen. Plötzlich wächst aus ihrer inneren Leere eine Kraft. Sandra hat nie an ihrer Genesung gezweifelt, hat immer fest daran geglaubt, bald gesund zu werden, aber sie hat es noch nie so stark gefühlt, wie in diesem Moment.

»Niemals wieder sehe ich ein Krankenhaus von innen!«, denkt sie und ballt ihre Hände zu Fäusten. Nie wieder will sie die Behandlungen so passiv über sich ergehen lassen, sagt sie sich. Und tatsächlich, nachdem sie aus dem Spital entlassen wird, infiziert sich die Wunde nicht mehr. Die Prothese hält, und Sandra kommt für lange Zeit nicht mehr zurück.

5

An den beiden Tagen vor meiner Operation bin ich wortkarg, in mich gekehrt und stocksauer. Auf meinen Körper, auf die Ärzte und das Spital, auf meine Mutter, die mir all das durch ihre Hartnäckigkeit eingebrockt hat. Außerdem habe ich Angst. Einerseits vor dem Eingriff, der abklären soll, was mir eigentlich fehlt. Aber die Gedanken daran kann ich recht gut verdrängen. Immer noch bin ich sicher, dass die ganze Sache letzten Endes ergebnislos bleiben wird.

Größere Angst aber habe ich davor, was das alles für meine Sportler-Karriere bedeutet. Mein Selbstbild hat gehörige Risse bekommen. Ich fühle mich längst nicht mehr so stark und unverwundbar wie noch vor ein paar Wochen. Wenn mein Körper anscheinend nicht einmal in der Lage ist, mit einer verstopften Nase alleine fertig zu werden, wie soll er dann die Härten des Fußballprofi-Lebens durchstehen? Die neuerlichen Fehlzeiten, die durch die Operation entstehen, sind für meine Stellung im Internat eine Katastrophe. Selbst wenn doch noch alles rasch vorübergeht, habe ich in den letzten Wochen in jedem Fall so viele Trainingseinheiten verpasst, dass ich bei den nächsten Partien auf der Bank sitzen werde. Die anderen sind nicht so untätig wie ich gewesen und haben meine Abwesenheit mit Sicherheit genutzt, um den Trainern ihre Qualitäten zu beweisen. Außerdem ist mein Image im Eimer. Jeder im Internat hält mich jetzt für ein nicht belastbares Weichei, denke ich verzweifelt. Dabei hat alles so gut ausgesehen. Mein Lebenstraum, der in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist, liegt in Scherben vor mir.

Am aggressivsten macht mich, dass meine Mutter das überhaupt nicht zu interessieren scheint. Sie macht sich ausschließlich Sorgen um meine Gesundheit, hat Angst wegen des »Tumors«, den der Professor als Möglichkeit erwähnt hat. Dass mein Leben gerade seine Perspektive, seinen Sinn zu verlieren droht, versteht sie nicht. Das nehme ich ihr übel, auch wenn ich das nicht offen ausspreche.

Am Dienstag werde ich im »Goldenen Kreuz« aufgenommen. Nach der Anmeldung werde ich zur Blutabnahme und danach als Vorbereitung auf die Biopsie zur Computertomographie geschickt. Bevor ich in die enge Röhre geschoben werde, wo man mich von allen Seiten durchleuchten wird, bekomme ich ein Kontrastmittel gespritzt. Eine Schwester erklärt mir ausführlich, was das ist und was es bringt. Da es nichts anderes zu tun gibt, höre ich zu, obwohl mich der ganze Vorgang anwidert und überhaupt nicht interessiert.

Mit Hilfe des Kontrastmittels kann man später auf den Röntgenbildern die Strukturen meines Körpers besser erkennen und so etwas über den Ausbreitungsgrad meiner Krankheit erfahren, erläutert sie. Dafür, dass sie von »meiner Krankheit« spricht, würde ich am liebsten auf sie einschlagen. Aber natürlich beherrsche ich mich. Sie spritzt mir routiniert das Kontrastmittel. Die Flüssigkeit läuft heiß durch meine Venen. Sie hinterlässt einen metallischen Geschmack auf meiner Zunge, den ich nicht kenne. Angst breitet sich gemeinsam mit der fremden Substanz in meinem ganzen Körper aus. Ich befehle mir innerlich, mich zusammenzureißen.

»Du kannst dich entspannen«, rät die Schwester, die offenbar die Schweißtropfen auf meiner Stirn bemerkt hat, »die Untersuchung ist ungefährlich und dauert nur ein paar Minuten.«

Ich werde in die enge Röhre geschoben. Sie umschließt mich, nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich fühle mich alles andere als entspannt.

»Bitte jetzt nicht mehr bewegen«, sagt die Schwester, und ich erstarre, denke an einen metallenen Sarg, erinnere mich an Gruselgeschichten von lebendig begrabenen Toten. Der Schweiß läuft meine Schläfen hinunter. Ich zähle still die Sekunden, die mir wie Minuten erscheinen. Was, wenn man mich hier drinnen vergisst und ich von alleine nicht mehr heraus kann? Mir fallen Szenen aus James Bond-Filmen ein, in denen scheinbar harmlose medizinische Untersuchungen zu tödlichen Fallen werden. Parallel dazu merke ich, wie ich in Panik gerate. Ich würde am liebsten laut um Hilfe schreien.

Aber dann, so wird mir klar, müsste man mit der Untersuchung noch einmal von vorne beginnen. Alles, nur das nicht, denke ich. Unter Anspannung all meiner Muskel gelingt es mir, die Panik zu unterdrücken. In was für einen verdammten Albtraum bin ich hier geraten?, schießt es mir durch den Kopf.

Am frühen Nachmittag werde ich auf einem Rollbett in den Operationssaal geschoben. Eine Schwester redet mit leiser Stimme auf mich ein, sieht mich an und lächelt. So sehr ich eigentlich beschlossen habe, mich gegen alles hier abzukapseln, bin ich doch spontan froh, ihr freundliches Gesicht zu sehen. Die Angst hat sich seit der Computertomographie weiter ausgebreitet, sitzt in meinem Magen, der Brust, und verschnürt meine Kehle wie ein Band. Die Anästhesistin nimmt meine Hand. Sie erklärt mir, sie wisse aus Berufserfahrung, dass nichts so tröstlich sei, wie die Berührung durch einen anderen Menschen. Na, sie muss es ja wissen. Sanft drückt sie meine Finger. Obwohl ich das unangenehm sentimental und kindisch finde, fühle ich mich tatsächlich ein wenig besser.

Alles wird gut, sage ich mir. Ich habe auf keinen Fall einen Tumor. Ich, der ich immer gesund gewesen bin. Bestimmt sind es Polypen, die den Druck in meinem Kopf und den lästigen Schnupfen verursachen.

Der Professor beugt sich über mich, und als ich sein konzentriertes Gesicht sehe, ist die Angst wieder da, trifft hart wie ein Vollrist-Schuss gegen meine Brust, und ich weiß plötzlich, dass ich nicht mehr zu retten bin.

6

Ich wache auf und fühle mich wie zerschlagen. Trotzdem bin ich für einen Moment froh, es jetzt hinter mir zu haben. Aber als ich in das kreidebleiche Gesicht meiner Mutter blicke, wird mir sofort wieder klar, dass das nicht das Ende der Geschichte ist. Ich kenne sie zu gut, um nicht automatisch hinter die Fassade von Festigkeit zu blicken, die sie errichtet hat, um mich nicht zu beunruhigen.

Als der Professor mein Zimmer betritt, wird die Stimmung nicht gerade ausgelassener. Es ist beinahe, als wäre ich bereits tot, so bleiern lastet jeder stille Moment auf allen Dingen im Raum. An der Art, wie der Arzt und meine Mutter einander zunicken, erkenne ich, dass sie bereits miteinander gesprochen haben, bevor ich wach geworden bin. Vermutlich haben sie sich darauf verständigt, mir nicht alles, was die Operation zutage befördert hat, ungeschminkt mitzuteilen. Das kann nicht gut sein, denke ich. Andererseits will ich eigentlich auch gar nichts darüber wissen, über den »Verlauf des Eingriffs«, meinen »Zustand«, meine »Prognose«, und wie all die anderen widerwärtigen medizinischen Ausdrücke heißen, die für mich zu alten, sterbenden Omas passen, aber sicher nicht zu mir.

Allerdings fühle ich mich schwach und ausgeliefert. Am liebsten würde ich den Arzt und meine Mutter anschreien, aufspringen und diesen widerlichen Ort verlassen. Aber ich bin körperlich nicht in der Lage dazu. Deshalb beschließe ich, mich auf passiven Widerstand zurückzuziehen. Ich wende mich ab, lasse die Müdigkeit, die ich in mir spüre, die Oberhand über meinen Zorn gewinnen, und drifte in einen Dämmerschlaf ab.

Im Einschlafen überlege ich noch, wann ich wohl wieder zum Training zurückkehren kann. Ich grüble, was ich tun könnte, damit meine Mutter und die Ärzte es mir erlauben. Auch wenn ich innerlich weiß, dass sie es gut mir meinen, sind sie zu meinen Gegnern geworden, die ich überwinden muss, um wieder das Leben führen zu können, das ich will. Ich blinzle noch einmal und präge mir das mich abstoßende Interieur des Krankenhauses, seinen Geruch und seine widerwärtig milden, beruhigenden Farben ein. Wenn ich keine Spieler auf dem Platz bekämpfen kann, dann werde ich eben das hier bekämpfen, denke ich trotzig. Dann ist eben das Krankenhaus mein Gegner.

Als ich nach dem kurzen Erholungsschlaf erwache, ist es Abend. Meine Mutter hat bereits unsere Sachen gepackt. Da es nur ein geringfügiger Eingriff war, darf ich das Krankenhaus noch an diesem Tag wieder verlassen. Das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein. Meine Stimmung hellt sich ein wenig auf, während ich das Spitalshemd gegen Jeans und Pullover tausche.

Auf der Heimfahrt kauft meine Mutter an einer Tankstelle ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten. Sie öffnet die Packung mit fahrigen Bewegungen. Die Zigaretten rutschen heraus, fallen zu Boden. Meine Mutter greift nach einer, steckt sie in den Mund und zündet sie an, als wäre sie ein lebensnotwendiges Medikament. Sie hat das Rauchen vor eineinhalb Jahren aufgegeben, wie ich mich sehr genau erinnere. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Mutter krank und gealtert aussieht. Die feinen Fältchen und Linien scheinen sich mit einem Mal tief in ihr Gesicht gegraben zu haben. Ihre Augen sind gerötet, die Tränensäcke geschwollen.

Die Zigarette inhaliert sie in wenigen, intensiven Zügen. Dann schiebt sie mich zurück zum Auto, steigt ein und startet wortlos den Motor.

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