Nano: Lüneburg

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Nano: Lüneburg
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NANO:

Lüneburg

Cyberpunk-Roman

von

Oliver Borchers


Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2020

© Oliver Borchers

© Coverbilder: Wiebke de Jong Posthumus, Depositphotos grandfailure

© Zeichnung Lena: Wiebke de Jong Posthumus

© Windkraftanlage, Autorenfoto: Oliver Borchers

© Bilder: Depositphotos grandeduc (Titel) lightsource (Nanobots), Sanychs (Matrix)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-946381-96-9


Nach den Umweltkatastrophen des späten 21. Jahrhunderts und der Vernichtung der Nanotechnologie durch einen Supervirus, steht die Menschheit vor einer großen Herausforderung.

Auch die schmerzmittelabhängige Steam kämpft mit ihren alten Körperimplantaten, die nicht mehr richtig funktionieren.

Als sie von einer Künstlichen Intelligenz angegriffen wird, entdeckt sie, dass ihr Schicksal eng mit der Nano-Katastrophe verknüpft ist.

Was aber haben ihre Träume von einem verlassenen Haus und die Agentin Lena damit zu tun?

Wer ist diese Lena und welches Geheimnis verbirgt sich in Lüneburg?


Inhalt

Prolog

I. Die Maskenbauerin

II. Träume

III. Die Stadt an der Küste

IV. La Lune

Autorenvorstellung

Nanobots

Unter Nanobots oder Nanorobotern versteht man

– noch hypothetische –

autonome Maschinen (Roboter) oder molekulare

Maschinen im Kleinstformat (…)

Eine wichtige Idee im Zusammenhang mit diesen ist die Möglichkeit der Selbstreplikation.

(Wikipedia)

Prolog

Ich lag am Straßenrand, Blut floss über mein Gesicht. Trotz der Schmerzen konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Ich musste wissen, was geschah.

Die Frau hob eine Hand. Plötzlich leuchtete ihr Körper blau, als würde jede Zelle ein Licht entfachen. Der Polizist, der ihr am nächsten stand, versteifte sich, sank zu Boden. Die anderen Männer brüllten wütend und eröffneten das Feuer mit ihren Plasmapistolen. Strom und heiße Gase durchzuckten den Körper, das blaue Licht flackerte, starb schließlich. Sie sank auf die Knie, dann zerfiel sie. Es war, als bestünde ihr Körper aus Milliarden Nanoteilen, die alle auseinanderbrachen.

»Nein!«, flüsterte ich.

Ihre Körperpartikel wurden von einer heftigen Windbö erfasst und davongetragen. Ihr Gesicht sank zu Boden, verlor seine Schärfe, Kanten bröselten ab. Ihr Blick traf meinen, ihre Lippen formten letzte Worte. »Du hast versagt. Du wirst wieder versagen.«

Tief in mir explodierte das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben. Hitzewellen stiegen in mir auf, Tränen füllten meine Augen.

»Wieso?«, rief ich. »Wieso werde ich versagen?«

Ein Luftstoß fuhr in das Gesicht, zersprengte es. Sturmwirbel saugten den Staub auf und drehten sich immer schneller, bis eine mächtige Windhose emporragte. Der Boden vibrierte, als sie auf mich zukam. Sie zog mich empor, zerrte an mir.

Plötzlich löste sich meine Hand genauso auf wie zuvor die Frau. Staub und Blut vermischten sich mit dem grauen Chaos vor mir.

»Wieso?«

Dann riss mich der Sturmwirbel auseinander.

I. Die Maskenbauerin

Cara tippte mir auf die Schulter.

»Ich glaube nicht, dass die Maske das machen sollte. Wäre mir neu, dass sich Agenten solch eine Grimasse wünschen. Von wegen Unauffälligkeit und so.«

Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die gallertartige Masse in meinen Händen, die ich zu einer Maske zu formen versuchte. Ein fast durchsichtiges Gesicht mit großen Glubschaugen und Hamsterbacken starrte mich an. Ich fluchte und atmete tief durch. Eigentlich beherrschte ich meine Arbeit, das wusste auch Cara. Ich hatte nur manchmal schlechte Träume, die mir den Tag versauten. Erschreckende Träume von zerfallenden Frauen und Stürmen, die ich nicht verstand.

Ich fluchte noch einmal und ignorierte Caras Lachen. Mein Zeigefinger, der den fingernagelgroßen Controller mit einem alten Nanostift programmierte, bewegte sich leicht und verharrte, als der Stift in einem bestimmten Segment einrastete. Der holografische Monitor auf dem Controller erwachte daraufhin und stellte den entsprechenden Code dar.

»Jetzt hab ich dich!«, murmelte ich. Mit sachten Bewegungen korrigierte ich das Programm. Sofort veränderte sich die Masse, die Hamsterbacken glätteten sich, die Augäpfel wurden kleiner und die Farbe der Maske nahm einen dunklen Hautton an.

Cara schnalzte respektvoll mit der Zunge. »Hübsches Kerlchen! So kenne und schätze ich dich, Steam. In einem Moment träumst du wie ein Junkie, im nächsten lieferst du eine Arbeit ab, wie ich sie in hundert Tagen nicht hinbekommen würde. Nicht schlecht, wirklich!«

Sie übertrieb, denn die Maske, die sie geschaffen hatte, war ein Spitzenprodukt. Sie war ein perfektes Abbild eines Schauspielers aus dem zwanzigsten/einundzwanzigsten Jahrhundert, ein Gesicht, das heutzutage kaum jemand erkennen würde, aber gut aussah. Sehr geeignet, um Agenten bei ihren Aufgaben zu unterstützen.

Ich musterte die Maske, die vor ihr auf dem Tisch lag. »Der Typ hieß Brad Pitt, nicht wahr? Super Arbeit. Allerdings viel zu gut aussehend für einen Arsch wie Large. Oder für irgendjemand anderen hier in Berlin.«

Caras Augen wanderten zum dunkleren Bereich des Wellblechverschlags, in dem wir arbeiteten, und sie vergewisserte sich, dass niemand zuhörte. »Vielleicht reißen sich deshalb die Jungs um meine Arbeit – ich stelle mir einfach genau das Gegenteil von ihnen in Sachen Aussehen und Verhalten vor und packe das in meine Masken. Diese Strategie scheint gut zu funktionieren, bislang ist noch niemand aufgeflogen.« Sie stockte, als sie meine unbewegte Miene sah. »Ach Gott, ich meine natürlich nicht, dass sich die Jungs nur um meine Masken reißen, Süße. Sie schätzen deine Arbeit mindestens ebenso. Sieh es so – ich habe Large abbekommen, den primitivsten dieser Hurensöhne. Und du, wen hast du bekommen?«

Ich atmete tief aus. »Du meinst Kern. Aber …«

»Genau, Kern. Der sieht nicht nur gut aus, der hat auch Klasse, Steam, Liebes! Und wenn ich mich nicht ganz täusche, ist der nicht nur an deiner Arbeit interessiert, sondern wäre auch über ein wenig mehr Zuwendung froh.«

»Cara, lass es gut sein, bitte!«, sagte ich und deutete auf die Tür, hinter der schwere Schritte zu hören waren. Ich beugte mich vor und flüsterte: »Was sollte Kern von einer wie mir schon wollen, hm?« Ich klopfte gegen den steifen Mittelfinger meiner linken Hand, ein altes bionisches Teil, das vor langer Zeit seinen Dienst eingestellt hatte. »Nur Blech und Schmerzmittel! Was sollte er damit anfangen?«

Mitleidig fuhr Cara über die tiefen Falten in meinem Gesicht, die Unmengen von AS-X dort gegraben hatten. »Wenn du noch ein paar Masken herstellst, wirst du irgendwann das alte Zeug aus deinem Körper loswerden und brauchst dann auch keine Schmerzmittel mehr.«

Während jemand geräuschvoll das Türschloss entriegelte, lachte ich bitter und schüttelte den Kopf. Nur noch ein paar Masken! Das Einkommen von Maskenbauern war nicht schlecht, aber die Anzahl der bionischen Elemente in meinem Körper so groß, dass ich mindestens vierhundert Jahre arbeiten müsste, um sie entfernen lassen zu können. Ich wusste allerdings auch, dass mein zentrales Nervensystem dem AS-X höchstens noch ein paar Jahre standhalten würde. Danach würde ich, wie die meisten Alt-Bionikjunkies, in den Unterseekompostanlagen landen – verstümmelt und ziemlich tot, nachdem Recycler meine Metalle entfernt hatten.

Ich atmete tief durch und zog die Maske kräftig auseinander, sodass sie aussah wie ein Außerirdischer mit schmerzverzerrtem Mund. Das Implantat in meinem Mittelfinger riss heftig am Fingerknochen. Das graue Metall, vor langer Zeit von Nanobots mit meinem Knochen verschmolzen, war so modifiziert worden, dass es von meinen Zellen nicht abgestoßen wurde. Eine feine Hautschicht zog sich bis zu dem Punkt, an dem der Fingernagel beginnen würde. An seiner Stelle befand sich eine graue, konisch geformte Metallspitze, die aus Abertausenden stillgelegten Nanobots bestand. Sie waren ineinander verschränkt und viel zu klein, als dass einzelne Exemplare erkennbar wären. Diese Bots konnten einst Formen und Farben bilden, ganz nach den Wünschen meines jüngeren Ichs. Heute war von dieser wunderbaren Flexibilität nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, das steife Implantat war immer im Weg und verursachte Schmerzen.

 

Ich legte die Maske wieder hin.

Jemand hinter mir schnaubte.

»Das hab ich mir doch gedacht. Ihr Weiber sabotiert die Dinger auf eure beschissen hinterlistige Art. Ein kleiner Mikrobruch hier, ein Mikrobruch da … und schon sabbert die Maske mitten im Einsatz, richtig?«

Ich konnte den widerlichen Atem von Large hinter mir spüren. Zu viel Synthohol und billige Protein-Algen. Ich ließ die Maske los und drehte mich um.

Large war der größte und kräftigste Mann, den ich kannte. Über zwei Meter, seine Kleidung martialisch, mit Leder und Metall versehen, die Augen hinter einer breiten Sonnenbrille versteckt. Normalerweise umspielte ein arrogantes Lächeln seine Lippen, heute waren sie schmal wie Striche. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Irgendetwas hatte ihn richtig wütend gemacht, und es war bestimmt nicht das harmlose Dehnen der Maske.

»Wie immer ist Logik nicht deine Stärke, Large«, sagte ich und bemühte mich, meinen Tonfall nicht ganz so ätzend klingen zu lassen. »Warum sollten wir die Einsätze sabotieren, wenn wir doch abhängig von den Coins sind, die ihr Jungs da draußen verdient?«

Cara schien die Wut des Mannes ebenso zu spüren und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Apropos Einsatz – Large, Süßer, schau dir mal die Maske an, die ich für den morgigen Einsatz in der Versicherung fertiggestellt habe! Die Tussis im Büro werden dir reihenweise zu Füßen liegen …«

Larges massiger Körper bewegte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit um den Tisch, seine Hand knallte gegen Caras Mund. »Halt dein Maul!« Larges Stimme zitterte, als er sich über sie beugte. »Deine Freundin hat genau die richtige Frage gestellt. Vielleicht möchtest du sie beantworten, hm?« Er drückte ihren Kopf auf den Tisch, die Maske mit dem Gesicht Brad Pitts fiel herunter. Die Augen starrten mich vorwurfsvoll an.

Cara wimmerte, ihre Lippen waren blutig.

Ich sprang hastig auf, humpelte um den Tisch. Der kaputte Bionikmotor in meinem rechten Knie gab zischende Geräusche von sich, als die Hydraulik Luft ansaugte.

Large drehte sich zur Seite und musterte mich kalt. »Kein Wunder, dass du Steam heißt, bei dem Krach, den du bei jedem Schritt machst. Wie war noch deine Frage, Schrottplatzmädchen? Kannst du sie wiederholen, deine Freundin scheint sie vergessen zu haben.«

Ich starrte ihn wütend an. »Lass sie los. Sofort!«

Er ignorierte mich und presste Caras Kopf noch fester auf den Tisch. Leder knarrte. »Wieso solltet ihr die Einsätze sabotieren, wenn ihr doch davon lebt, dass sie Geld einbringen. Das war deine Frage, nicht wahr?«

Ich ergriff Larges Arm und wollte ihn zur Seite drücken, doch es war, als versuchte ich einen Stahlträger zu bewegen. »Egal was du denkst, Arschloch, wir sabotieren nichts! Lass. Sie. Los.«

Da traf mich ein Tritt gegen das rechte Schienbein, scheppernd fiel ich zu Boden.

»Die Antwort ist vielleicht ganz einfach«, sagte Large ungerührt zu Cara. »Du benötigst unsere Coins nicht, weil du genug aus anderen Quellen bekommst. Vielleicht sogar eine ganze Menge?« Er schleuderte eine Karte mit eingeschweißten Plättchen auf den Tisch. Es waren fingernagelgroße Goldbarren, die verführerisch im Licht der Monitore leuchteten.

Ich kämpfte mich auf die Knie, konnte meine Augen nicht von dem Reichtum abwenden, der vor mir lag. Das Gold musste mehrere Millionen Coins wert sein, mehr als genug, um alle Operationen durchführen zu lassen, die ich benötigen würde. Ich schluckte. Woher hatte Large das?

Wieder knarrte das Leder seiner Ausrüstung.

Cara hatte Schwierigkeiten, etwas zu sagen. »Ich kann es dir erklären, bitte …«

Mit einem Ruck zog Large sie hoch und drückte sie auf ihren Stuhl. Übertrieben fürsorglich streichelte er ihren Kopf. »Dann tu das. Erklär mir, wie so viel Gold in deinen Besitz kommt, Süße!«

Cara atmete stockend und wischte sich mit zitternder Hand über die Lippen. Sie musterte mich, dann sagte sie: »Das ist nicht mein Gold. Ich habe es geklaut. Ich konnte nicht widerstehen.«

»Wo hast du es gestohlen?«

Sie ließ ihre Augen nicht von mir, kurz huschte ein Ausdruck des Bedauerns über ihr Gesicht, dann verhärtete sich ihr Blick. »Aus … Aus Steams Spind, aus der doppelten Rückwand.« Sie brach in Tränen aus und ergriff meine Hand. »Entschuldige bitte, Liebes, aber ich muss ihm die Wahrheit sagen! Verzeih mir!«

Lügen. Alles Lügen.

Ich war sprachlos wegen der schamlosen Schauspielerei der Frau, die ich so lange schon kannte, die ich meine engste Freundin nannte.

Ich riss meine Hand fort und stemmte mich hoch. »Was soll das? Warum lügst du?«

»Liebes, du musst es zugeben. Er wird sowieso alles früher oder später herausbekommen. Wenn er dich erst mal richtig rannimmt, dann wirst du dir wünschen, es erzählt zu haben.«

Ungläubig starrte ich sie an. »Ich kann ja verstehen, dass du Angst vor diesem brutalen Arsch hast, aber dass du mich da mit hineinziehst, hätte ich nicht erwartet!«

Seine Faust bewegte sich so schnell, dass ich sie nur als Schatten wahrnahm, bevor sie gegen meine Schläfe klatschte. Sterne blitzten vor meinen Augen auf, als ich wieder zu Boden ging. Die Prothesen und stillgelegten Implantate, die ich normalerweise durch vorsichtige und gezielte Bewegungen im Griff hatte, stachen in mein Fleisch und zerrten an meinen Sehnen. Die Schmerzen waren so stark, dass ich keinen Ton herausbekam.

»Und schon geht der Schrotthaufen zu Boden. Niedergestreckt vom brutalen Arsch persönlich.« Large trat einen Schritt zurück und betrachtete uns beide. »Was mache ich nur mit euch? Die eine sagt, die andere sei es gewesen. Und eigentlich könnten es auch beide gewesen sein.« Er nahm das Gold und hob es hoch. Es warf einen hellen Schein auf unsere Gesichter. »Dann muss ich wohl das Metall selbst sprechen lassen. Ich gebe es ins Analyselabor und werde bald erfahren, wer die letzten Personen waren, die es in den Händen gehalten haben. Das Verfahren ist teuer, aber es wird die Schuldigen identifizieren.« Er wandte sich um und ging zur Tür. »Bis dahin werdet ihr in diesem Raum bleiben. Wenn ich eine von euch auch nur in der Nähe der Tür sehe, wird sie rangenommen, wie du es so schön ausgedrückt hast, Cara.« Er lachte gehässig. »Du weißt, ich spaße nicht. Und du, Schrottmädchen, solltest deiner Freundin glauben, dass du das wirklich nicht erleben möchtest.« Mit einem lauten Knall schloss er die Tür hinter sich.

Cara schluchzte und verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.

Ich zog mich stöhnend hoch und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Meine Muskeln und Sehnen in den Beinen und Armen schmerzten so sehr, dass ich noch immer Sterne vor den Augen sah. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf das Bild des Hauses, welches ich als kleines Mädchen entdeckt hatte, versteckt in einem Waldstück. Nach dem Sturz von einem Baum hatte ich es minutenlang angestarrt, während ich nach Luft schnappte.

Mit jedem Atemzug schwanden nun meine Schmerzen, bis sie den Punkt erreicht hatten, den ich ohne Medikamente nicht überwinden konnte. Ich brauchte mein AS-X.

Mühsam hievte ich mich hoch und streckte vorsichtig mein Bein mit dem Bionikmotor. Er protestierte und zischte, schien aber weiterhin zu funktionieren.

»Was zum Teufel machst du da?«, rief Cara, als ich mich dem Ausgang näherte.

Ich ignorierte sie und streckte meine Hand aus, um den Türgriff zu betätigen.

Schneller als ich es ihr zugetraut hatte, sprang Cara auf und schob sich zwischen mich und die Tür.

»Tu das nicht, Liebes. Du hast ihn doch gehört. Er wird dir sonst wehtun. Bevor Kern einschreiten kann.«

»Nenn mich nicht Liebes, du falsches Biest«, zischte ich und versuchte sie zur Seite zu drücken. »Ich gehe jetzt da raus und hole mein AS-X. Wage es ja nicht, mich aufzuhalten!«

Plötzlich presste sie sich an mich und drückte ihren Mund an mein Ohr. »Hör mir zu, bitte. Ich weiß, was Large finden wird. Ich weiß, wen er identifizieren wird«, flüsterte sie.

Caras Nähe löste ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit in mir aus. Ich zögerte. »Natürlich tust du das«, schnappte ich dann. »Du bist ja auch die Besitzerin!«

Cara weinte wieder, Tränen benetzten meine Wange. Ihre Stimme klang rau. »Ich musste versuchen, den Verdacht auf dich zu lenken. Du hast doch deinen Beschützer Kern. Dir wäre nichts passiert.« Sie drückte mich fester, ihr Körper zitterte. »Bitte, Liebes, hilf mir, er wird mir sonst wehtun.«

Mein Zorn legte sich langsam, trotzdem war meine Stimme eisig, als ich fragte: »Wieso sollte ich? Du hast mich schließlich …«

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Der Gestank von Synthohol raubte mir den Atem. Larges riesige Hände drückten mich zur Seite und schlossen sich um Caras Kehle.

»Ich wusste doch, dass ich die Kosten für die Analyse sparen kann. Dafür plapperst du einfach zu viel, nicht wahr, Liebes? Und ich glaube sogar, dass du mir gleich noch mehr erzählen wirst.« Er riss sie herum und zerrte sie aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Tür ließ er offen stehen.

Schmerzen hämmerten in meinem Kopf, ich brauchte das AS-X.

Ich stolperte durch den Flur zu meinem durchwühlten Spind und fand die Dose mit der Droge. Als ich sie an mein Kanülen-Interface am Unterarm setzte, hörte ich Caras Schreie und heftige Schläge gegen die dünnen Wellblechwände. Ich wischte mir die Tränen fort, die meine Wangen herabflossen, und atmete tief durch.


Die Nanobots seiner Augen zogen sich zusammen, als die Strahlen der Sonne durch die Wolkenlücken drangen. Sie bildeten eine enge, schlitzartige Pupille – ähnlich einer Katze oder einer Kontaktlinse, die wie ein Katzenauge geformt war. Slang wusste, dass das bei den Menschen der allerletzte Schrei war, zumindest in dieser Gegend. Er seufzte, als er die Wärme der Sonne auf seiner Haut spürte, die eine Ansammlung von Milliarden Nanobots war, deren Kollektoren ausfuhren. Hastig speicherten sie die Energie, die die Sonne lieferte, bevor die nächsten Wolken diese wieder verdeckten. Slang genoss den Energiefluss und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften ab und träumten von einer sonnigen Welt, die er bald genießen würde. Es war eine Welt voller Freude und Lebenslust, eine Welt ohne Sorgen. Eine Welt, in der er niemanden töten musste.

Eine Bewegung, die sich von dem alltäglichen Treiben des Straßenverkehrs unterschied, alarmierte einen seiner Sensoren. Er schlug die Augen auf und sah die verborgene Klappe in der kaputten Leuchtreklame, die sich so langsam öffnete, dass es keinem Menschen aufgefallen wäre.

Allerdings war er kein Mensch.

Rasch wich er zurück in die Schatten der hohen Gebäude, in denen die Menschen lebten. Hier konnte ihn das Tageslicht nicht erreichen, hier war er unsichtbar für die Person, die die verborgene Kamera benutzte. Seine Augen beobachteten die feinen Kamerabewegungen genau, die jedem vorüberrauschenden Flix-Flugtaxi und jedem Fußgänger folgten. Slang konnte die Gedanken der Person fast schon spüren, als die Kamerabewegung bei einem offensichtlich drogenkranken Mann verharrte, der an einem Verteilerkasten lehnte. Da in dieser Gegend Drogensüchtige häufig anzutreffen waren, konnte der Mann durchaus ein Undercoveragent sein. Dann aber wankte er davon, eine Speichelspur hinter sich herziehend, und die Kamera fokussierte andere Ziele.

Als sie sich endlich abschaltete, spannte Slang seine nanoverstärkten Muskeln an und fuhr seine interne Reserveenergie hoch. Die Person würde sich nun sicher genug fühlen, um aus ihrem Versteck zu kommen.

Er war bereit.

Die Leuchtreklame, die noch aus der Zeit vor dem Nano-Schock stammte, bewegte sich langsam zur Seite und gab eine schmale Öffnung preis. Irgendetwas bewegte sich in ihr.

Slangs interne Sensoren gaben plötzlich Alarm. Aktive Nanotechnologie!

Er hatte ihn gefunden. Sein hoffentlich letztes Ziel, bevor er nach Hause zurückkehren durfte.

Während der Mensch aus der Öffnung stieg, vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war. Dann schnellte er hervor und aktivierte Hunderttausende kleine Bots, die aus seinen Poren drangen und wie graue Nebelschleier auf sein Opfer herabsanken.

 

Diese taten ihre Arbeit sofort und vernichteten die Stromzufuhr aller feindlichen Nanobots. In einem Strudel aus blauen Blitzen erkannte Slang einen Mann, der einen Arm schützend vor sein Gesicht erhoben hatte. Seiner Nanohelfer beraubt war er wie betäubt, körperlich und geistig.

Wie immer in solchen Situationen gestattete Slang sich ein wenig Mitleid. Menschen waren zwar primitiv, dennoch konnte er sich vorstellen, wie dieser sich fühlte. Eben noch Herr über funktionierende Bots, die seinen Körper optimierten und lenkten, waren nun die meisten seiner Gliedmaßen tot.

Der Mann starrte ihn an, Panik verzerrte sein Gesicht.

»Es tut mir leid!«, flüsterte Slang. Dann übernahm er die Kontrolle über die stillgelegten Bots des Mannes und reaktivierte sie. Er legte eine Hand auf dessen Kopf, eine Geste, die befehlend und beruhigend zugleich war. »Ausführen!«, murmelte er.

Die Augen des Mannes wurden größer, sein Mund öffnete sich, als Schmerzen aus allen Bereichen seines Körpers auf ihn einströmten. Noch bevor er einen Laut von sich geben konnte, brachen seine Augen. Er war tot, hingerichtet von seinen eigenen Bots, deren Programme Slang modifiziert hatte.

Plötzlich zuckten die Mundwinkel des Toten, die Lippen formten Wörter und wiederholten sie immer wieder. Kein Laut war zu hören, aber Slang verstand sie.

Kein Input, keine externe Energie.

Er bückte sich und tastete an den Seiten des Kopfes, bis seine Finger harte Stellen fanden, die er drückte.

Die Maske löste sich und mit ihr mehrere Bereiche am Körper des Mannes, die ihm ein muskulöseres Aussehen verliehen hatten.

Obwohl er so etwas schon häufig gesehen hatte, war Slang fasziniert von dieser simplen Technologie. Das Bedürfnis, sich zu verstecken und zu verkleiden, war bei den Menschen sehr ausgeprägt. Daher nutzten sie diese gummiartigen Oberflächen, die mithilfe mikroskopisch kleiner Motoren das Verhalten von echter Haut simulierten. Der Körper des Mannes, der früher mal ein Agent der Europäischen Union gewesen war, sah dürr und ausgemergelt aus. Wahrscheinlich hatte er an einer Strahlenkrankheit gelitten, die seine verbliebenen Nanobots nicht heilen konnte.

Slang betrachtete die Maske nachdenklich. Sie war eine perfekte Kopie des Gesichtes des Mannes, verbarg ihn also keinesfalls. Was also war ihr Zweck?

Plötzlich verzogen sich ihre Züge zu einer aggressiven Miene, ihr Mund formte ein Wort: Ausschaltung!

Slangs Sensoren schrillten, als sie einen rasanten Energieanstieg registrierten. Bevor er reagieren konnte, explodierten die Maske und die Muskelattrappen.

In dem Moment, in dem sich die grellen Flammen mit Wucht in sein Nanogewebe gruben, wurde Slang klar, dass er eine Materialanalyse hätte durchführen müssen. Eine Standardprozedur, die er vernachlässigt hatte, weil er von seinen Emotionen abgelenkt gewesen war.

Sein Körper wurde gegen den Beton des Gebäudes geschleudert, ein Teil der Wand brach über ihm zusammen. Für einen Augenblick versagte sein Bewusstsein, dann formierten sich Nanobots und sammelten sich um die zerstörten Bereiche seines Körpers. Während zertrümmerte Bots entsorgt und neue geschaffen wurden, lief die Analyse der Maskenfetzen, die im Betonstaub herumlagen.

Slang runzelte die Stirn. Sprenggelatine der neuesten Generation. Das gab es fast ausschließlich nur in den reichen südeuropäischen Staaten und dort auch nur beim Militär. Wie kam es in eine Maske, die unverkennbar in einer der zahlreichen lokalen Werkstätten hergestellt wurde?

Slangs Körper war vollständig wiederhergestellt, als sein Analysealgorithmus ein weiteres Detail in den Resten der Maske identifizierte: Adaptive DNS.

Verblüfft wiederholte Slang die Analyse und schüttelte dann den Kopf. Es gab nur eine Erklärung. Ein Top-Agent musste die Maske vor Kurzem angefasst haben. Vielleicht hatte er sie sogar gebaut.

Die Top-Agenten waren eigentlich als Erstes ausgeschaltet worden, die primären Ziele. Laut den Aufzeichnungen wurden viele innerhalb der ersten Stunden nach dem Nano-Schock eliminiert.

Slang befreite sich aus den Trümmern und betrat die Reste des kleinen Raums, in dem sich der Agent versteckt hatte. Gierig saugten seine Sensoren alle Informationen auf. Er ließ sich noch nicht einmal stören, als vor dem Gebäude Polizeiautos stoppten und blau-rotes Licht durch die Trümmerspalten auf ihn fiel.

In einem Hohlraum fand er eine Datenkarte. Er knackte die primitive Entschlüsselung mit Leichtigkeit und saugte die Informationen auf, die enthalten waren. Er lächelte, als er die Liste der Kontakte des Agenten durchging.

Lichtkegel stachen jäh durch Staubschwaden und näherten sich seinem Schatten. Vorsichtig schlich er sich an den Polizisten vorbei. Dann befand sich Slang wieder auf der Straße und bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menschenmenge.

Er seufzte leise. Auch wenn er die ganze Liste abarbeiten musste, er würde den Top-Agenten finden.


Der Mann starrte mein Gesicht an. Ich wusste, dass meine tiefen Falten mich als schmerzmittelabhängig kennzeichneten, als Person, mit der man nur Geschäfte machte, wenn man sich vorsah.

»Hast du genug Coins?«, knurrte er und spuckte auf den regenfeuchten Asphalt vor mir.

Obwohl ich sein Misstrauen verstand, spürte ich Ärger in mir aufsteigen. Ich zückte eine Karte mit dem Logo von Insomnias Organisation – eine Welle hinter dem Konterfei eines Mannes – und sagte: »Ich habe mehr als genug. Oder soll ich dir diese hier in den Hintern reinschieben, wo dein Gehirn sitzt?«

Er zog die Mundwinkel hoch und entblößte schwarze, von Drogenkonsum gekennzeichnete Zähne. »Ist schon gut, Schätzchen. Wir kommen ins Geschäft.« Er bedeutete mir, zu folgen, und führte mich zu einer Nebengasse. Dort, fernab von dem grellen Reklameleuchten des Rotlichtviertels, blieb er vor einer Stahltür stehen, die er mit einem Zahlencode entriegelte.

Ich konnte seine Finger nicht sehen, aber die dilettantische Art, in der er den Arm bewegte, verriet mir die Zahlenkombination. Eine Jahreszahl, die wahrscheinlich seinem Geburtsjahr entsprach.

Der Raum hatte nur eine Notbeleuchtung, Reihen von alten Transportkisten ragten bis an die Decke. Der Mann öffnete eine Kiste und schob Kartons mit Computerspielen beiseite. Graue Kunststoffblöcke stapelten sich darunter.

»’ne Runde Tetris gefällig?«, fragte er mit verschmitztem Lächeln, während er die Spielboxen auf den Boden legte.

Tetris, Manic Miner, Ant Attack. Alles neu aufgelegte Klassiker, die wieder in Mode gekommen waren, seit die auf Nanotechnologie basierenden Computer nicht mehr funktionierten und Rechner genutzt werden mussten, die vor hundert Jahren aktuell waren.

Er deutete auf die grauen Blöcke. »Der beste Kunststoff, den man außerhalb des Netzes kaufen kann. Feinste Südware. Genauso gut wie das zertifizierte Zeug.«

Ich trat an die Kiste, wischte den Dreck fort. Wir beide wussten, dass das gelogen war. Zertifizierter Kunststoff war besser, weil er gegen Mikroabrieb geschützt war, er war auch robuster und witterungsbeständiger als Schwarzmarktware. Allerdings auch teurer und die Regierungen konnten seine Herkunft ermitteln.

Ich kramte mein Analysewerkzeug hervor, ein Blechkasten mit Monochrom-Display.

Ich lachte, als ich die fluoreszierenden Symbole entzifferte. »Made in PorIugal. Da hat sich ein Meisterfälscher aber wirklich ins Zeug gelegt. Tolle Arbeit!«

Er runzelte die Stirn und starrte auf das kleine Display. Verärgert schüttelte er den Kopf. »Kann gar nicht sein. Dein Gerät ist Müll. Meines zeigt da Portugal an.« Er fing an in den Taschen zu wühlen.

»Ist schon gut, Schätzchen«, sagte ich und äffte seinen Tonfall nach. »Da wir beide wissen, dass du keine echte Portugalware anbietest, können wir uns das ganze Geplänkel sparen und sofort über den Preis sprechen, oder?« Der Mann schnaubte wütend und wollte widersprechen, doch ich hob das Analysegerät hoch. »Ich kenne Insomnia. Er traut diesen Geräten mehr als solch einem Schlitzohr wie dir! Also, ich würde sagen … fünfundzwanzigtausend für dreißig Kilo?«

Der Mann hatte eine schlechte Ausgangsposition, das wusste er, doch anstatt eine neue Strategie zu finden, versuchte er weiter, die Qualität seiner Ware hervorzuheben, indem er sagte: »Das Zeug ist besser als alles, was du in den Nordstaaten legal bekommst. Und dafür läppische achthundert Coins pro Kilo? Da könnte ich es auch gleich auf die Straße kippen.«

»Achthundertdreiunddreißig Coins pro Kilo habe ich geboten. Mir scheint, du hast ein Problem mit Details. Oder kannst du einfach nicht rechnen?« Ich nahm einen Karton mit Manic Miner und fuhr mit dem Zeigefinger über die Schriftzüge. »Aber ich will mal nicht so sein. Achthundertfünfzig Coins pro Kilo und eines dieser Spiele hier. Letztes Angebot.«