Land des Geldes

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Land des Geldes
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Zum Buch

Von heruntergekommenen Städten an der sibirischen Grenze über Steueroasen in der Karibik bis zu den Verbrechervillen in London und Manhattan – irgendwas läuft falsch in dieser Welt. Dieses Buch zeigt Ihnen, was.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte ein Amtsträger, der sich aus der öffentlichen Kasse bediente, nicht ganz so viel mit seinem Geld anfangen. Er konnte sich ein neues Auto kaufen oder sich ein schönes Haus bauen, es vielleicht noch an Freunde und Familie verschenken, aber das war es im Großen und Ganzen dann auch. Wenn er weiter stehlen würde, würden sich die Geldscheine nur in seinem neuen Haus stapeln, bis alle Zimmer voll wären oder es die Mäuse auffressen würden.

Dann hatten ein paar Banker in London eine geniale Idee …Begleiten Sie den investigativen Journalisten Oliver Bullough auf eine Reise ins »Land des Geldes« – einen grenzenlosen Staat der Superreichen. Erfahren Sie, wie die Institutionen Europas und der USA zu Geldwäscheinstituten wurden, die die Fundamente westlicher Stabilität untergraben. Entdecken Sie die wahren Kosten einer Geschäftspolitik, die weder Korruption noch Gefahr scheut. Treffen Sie die Kleptokraten und ihre schrecklichen Kinder. Und finden Sie heraus, wie heroische Aktivisten sich auf der ganzen Welt zur Wehr setzen.

Dies ist die Geschichte von Geld und Macht im 21. Jahrhundert. Es ist noch nicht zu spät, sie umzuschreiben.

Über den Autor

Oliver Bullough ist Journalist, u.a. für den »Guardian« und »The New York Times«, und Autor zweier Bücher über russische Geschichte und Politik. Er lebt in London.

Oliver Bullough

LAND DES
GELDES

MONEYLAND

Warum Diebe und Betrüger

die Welt beherrschen

Aus dem Englischen

von Jürgen Neubauer

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

1 Aladins Räuberhöhle

2 Unter Piraten

3 Die Königin der Karibik

4 Sex, Lügen und Offshore

5 Das Geheimnis der Harley Street

6 Stille Post

7 Krebs

8 Fies wie eine Klapperschlange

9 Der Passverkäufer

10 Diplomatische Immunität!

11 Die Unbeschreiblichen

12 Dunkle Materie

13 Der Atomtod klopft an die Tür

14 Ja zum Reichtum

15 Luxusimmobilien

16 Unter Plutokraten

17 Die Zerschlagung der Schweiz

18 Steuerparadies USA

19 Der Kampf gegen Moneyland

Quellen

Dank

Register

KAPITEL 1
ALADINS RÄUBERHÖHLE

DIE FRANZOSEN BEGANNEN IHRE REVOLUTION 1789 mit dem Sturm auf die Bastille, einem Symbol für die Grausamkeit ihrer Herrscher. Und die Ukrainer begannen ihre Revolution 2014 mit dem Sturm auf den Präsidentenpalast Meschyhirja, einem Symbol für die Selbstbereicherung ihrer Herrscher. Auf dem weitläufigen Gelände des Anwesens befanden sich Wasserspiele, ein Golfplatz, eine pseudoantike Tempelruine, ein Marmorpferd, das mit einer Landschaft der Toskana bemalt war, ein Straußengehege, ein Gelände zur Wildschweinjagd sowie ein fünfstöckiges Landhaus, in dem der gestürzte Präsident Wiktor Janukowytsch seiner vulgären Prunksucht frönte.

In der Ukraine wussten alle, dass Janukowytsch korrupt war, doch bis zu diesem Moment hatte sich niemand eine Vorstellung davon gemacht, wie korrupt. Zu einer Zeit, als die gewöhnlichen ukrainischen Bürger den Gürtel ein Loch ums andere enger schnallen mussten, hatten er und seine Spießgesellen Vermögen von Hunderten Millionen von Euro angehäuft. Er hatte mehr Geld, als er jemals würde ausgeben können, und mehr Schätze, als er in seinem Palast zur Schau stellen konnte.

Alle Staatsoberhäupter haben ihre Paläste, doch in der Regel befinden sich diese im Eigentum des Staats. Wenn sie sich denn einmal in Privateigentum befinden, wie der Trump Tower von Donald Trump, dann wurden sie meist vor Amtsantritt erworben. Janukowytsch hatte sich seinen Palast jedoch erbaut, während er von Steuergeldern lebte, und deshalb wollten ihn die Demonstranten sehen. Staunend liefen sie um das Hauptgebäude, die Brunnen, die künstlichen Wasserfälle, die Statuen und die exotischen Fasane. Es war ein Tempel der Geschmacklosigkeit, eine Kathedrale des Kitschs, der Inbegriff der Extravaganz. Geschäftstüchtige Anwohner vermieteten Fahrräder an die Besucher, denn das Gelände war so groß, dass man es zu Fuß gar nicht erkunden konnte, und die Revolutionäre brauchten Tage, bis sie auch in den letzten Winkel vorgedrungen waren. Die Garagen erinnerten an eine Räuberhöhle aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, hier türmten sich Goldschätze von unvorstellbarem Wert. Die Revolutionäre ließen die Schätze später von Experten des Nationalen Kunstmuseums von Kiew abtransportieren, damit sie keinen Schaden nahmen und dem Volk erhalten blieben.

Hier stapelten sich die vergoldeten Kerzenständer, an den Wänden hingen riesige Porträts des Präsidenten, neben einer aus Elefantenstoßzähnen geschnitzten Elfenbeinpagode standen griechische Götterstatuen, Dutzende orthodoxe Ikonen, dazu historische Gewehre, Schwerter und Streitäxte. Eine Urkunde feierte Janukowytsch als »Jäger des Jahres«, aus anderen Dokumenten ging hervor, dass je ein Stern nach ihm und seiner Frau benannt worden war. An einigen der Gegenstände klebten noch die Kärtchen der Günstlinge, die sie dargebracht hatten. Es waren ihre Tributzahlungen an den Herrscher, mit denen sie sich das Wohlwollen Janukowytschs erkaufen und sicherstellen wollten, dass sie sich auch weiterhin mit ihren Gaunereien bereichern durften.

Die Ukraine ist vermutlich das einzige Land der Welt, das jahrelang von raffgierigen Ganoven ausgeplündert wurde und deren Beutestücke schließlich als Konzeptkunst ausstellte: Fundstücke aus der Rumpelkammer des Präsidenten. Die Menschen, die zusammen mit mir vor dem Museum Schlange standen, schienen unschlüssig, ob sie Stolz oder Scham empfinden sollten.

In einer der Vitrinen des Museums wurde ein altes Buch ausgestellt, das auf einer Hinweistafel als kleine Aufmerksamkeit des Finanzamtes beschrieben wurde. Es war ein Exemplar des Apostol, des ersten in der Ukraine gedruckten Buchs, von dem heute in aller Welt bestenfalls hundert Exemplare existieren. Wie kam man im Finanzamt auf den Gedanken, dass es sich um ein geeignetes Präsent für den Präsidenten handeln könnte? Wie konnte sich die Behörde so etwas leisten? Wieso kam man im Finanzamt überhaupt auf den Gedanken, dem Präsidenten Geschenke zu machen? Wer hatte das bezahlt? Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.

Unter einem Berg von kitschigen Vasen befand sich eine erlesene Keramik von Picasso, Herkunft unbekannt. Unter den Ikonen war wenigstens eine aus dem 14. Jahrhundert mit der typischen zweidimensionalen Darstellung. An einer anderen Wand, neben einem Porträt Janukowytschs aus Bernstein und einem anderen aus ukrainischen Getreidesamen, hingen russische Landschaftsgemälde aus dem 19. Jahrhundert im Wert von vielen Millionen Euro. In einer Vitrine war das stählerne Symbol von Hammer und Sichel zu bewundern, das Stalin einst der Kommunistischen Partei der Ukraine überreicht hatte. Wie war es in Janukowytschs Garage gekommen? Vielleicht hatte der Präsident keinen anderen Platz mehr dafür gefunden?

Die Menge schob mich durch die Räume. In einem hingen überall Gemälde von mehr oder weniger unbekleideten Frauen, die im Freien herumstanden und von bekleideten Männer umringt waren. Am Ende hatte ich nicht mehr die Kraft, die Krokodilshaut an der Wand genauer in Augenschein zu nehmen oder die Gewehre, Schwerter, Pistolen und Speere in den Schaukästen zu bestaunen. Meist sind es meine Füße, die mich bei Museumsbesuchen im Stich lassen; diesmal war es mein Gehirn.

Doch die Massen strömten unaufhörlich weiter ins Museum, tagelang standen lange Schlangen vor dem Eingang. Heiter schoben sich die Wartenden voran und verschwanden schließlich durch das Tor im Museum. Mit fahlen Gesichtern kamen sie am anderen Ende wieder heraus. Am Ausgang lag ein Gästebuch, in dem sie ihre Kommentare hinterlassen konnten. Jemand hatte geschrieben: »Wie viel Zeug braucht ein einzelner Mensch? Entsetzlich. Mir ist schlecht.«

 

Und das war erst der Anfang. Die Tage nach der Revolution waren im besten Sinne eine gesetzlose Zeit, keine Uniformierten hinderten die Bürger daran, ihre Neugierde zu befriedigen. Ich nutzte die Situation, um mich in möglichst vielen der abgelegenen Paläste der früheren Elite umzusehen. Eine Fahrt führte mich nach Sucholutschtschja inmitten eines Waldes vor den Toren Kiews. Die Sonne stach vom Himmel herab, die Luft waberte über dem Teer, während die Straße immer tiefer in den Wald hineinführte. Mein Begleiter Anton, der selbstständiger IT-Unternehmer gewesen war, ehe er sich der Revolution angeschlossen hatte, hielt an einem Tor, stieg aus und verschwand im Unterholz. Kurz darauf kam er zurück und hielt etwas in die Höhe: »Der Schlüssel zum Paradies!«, rief er grinsend. Er schloss das Tor auf, setzte sich wieder ans Steuer, und wir fuhren weiter.

Zu unserer Rechten glitzerte ein See, hier wurde das Wasser des Dnjepr aufgestaut. Wir fuhren über einen Damm, vorbei an einem Steg mit einem kleinen Bootshaus. Auf schwimmenden Inseln hockten Enten vor ihren Holzhäuschen. Schließlich hielten wir vor einem zweistöckigen Jagdhaus. Hierher war Janukowytsch mit alten Freunden und neuen Freundinnen gekommen, um auszuspannen.

Anton war zum ersten Mal im Februar 2014 hierhergekommen, wenige Stunden nachdem der Präsident aus der Hauptstadt geflohen war. Er hatte vor dem Tor gehalten und den Wachleuten gesagt, die Revolution habe ihn geschickt. Sie hatten ihm den Schlüssel ausgehändigt und ihn durchgewunken. Dann hatte er das Anwesen mit seinem alten Baumbestand erkundet. Es gab eine Kapelle und ein Sommerhaus mit überdachtem Grillplatz. Das Gelände neigte sich sanft hinunter zum Seeufer und einer Anlegestelle für Jachten. Die Angestellten waren herausgekommen und hatten Anton gefragt, was er im Jagdschloss des Präsidenten zu suchen habe. Anton hatte erwidert, die Revolution habe gesiegt, und das Jagdschloss gehöre jetzt dem Volk.

Anton öffnete mir die Tür und führte mich hinein. Er hatte nichts angerührt: Der lange Esstisch mit seinen achtzehn Polsterstühlen stand noch so da, wie er ihn vorgefunden hatte, genau wie der beheizbare Massagetisch aus Marmor. An den Wänden hingen pseudo-impressionistische Aktgemälde, wie sie Renoir hätte malen können, wenn er in Softporno gemacht hätte. Der Fußboden war ein Parkett aus tropischen Harthölzern, die Wände waren mit rustikalen Brettern verkleidet. Bücher waren keine zu sehen.

Anton führte mich durch die Räume und zeigte mir eine Karaoke-Maschine, ein Schwimmbad und Kinoräume. Den tiefsten Eindruck hinterließen allerdings die Toiletten. Gegenüber den Kloschüsseln waren in Sitzhöhe Fernsehapparate angebracht. Es war eine persönliche Note der ganz besonderen Art: Präsident Janukowytsch war ein passionierter Fernsehkonsument und offenbar hatte er einige Zeit auf der Schüssel verbracht. Während die Bürger seines Landes für miserable Gehälter malochten und jung starben, und während die Infrastruktur des Landes verfiel und sich Beamte und Politiker die Taschen vollstopften, hatte der Präsident Sorge getragen, dass seine Verstopfung ihn nicht am Fernsehgenuss hinderte. Für mich wurden diese Fernsehapparate zum Sinnbild all dessen, was schiefgelaufen war, und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern in sämtlichen ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen ich als Journalist gearbeitet habe.

Als die Sowjetunion zerfiel, war ich dreizehn und neidisch auf alle, die diesen Moment miterleben durften. Im Sommer 1991, während die Hardliner in Moskau einen letzten Versuch unternahmen, ihrem Land die alte Sowjetordnung aufzuzwingen, verbrachte ich mit meiner Familie die Ferien in den schottischen Highlands und versuchte verzweifelt, im Funkschatten der Hügel einige Radiosignale zu erhaschen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Als die Ferien zu Ende waren, war der Putschversuch gescheitert und ein neues Zeitalter war angebrochen. Der an sich eher zurückhaltende Historiker Francis Fukuyama rief das Ende der Geschichte aus. Die Welt war frei. Die Guten hatten gesiegt.

Ich interessierte mich brennend dafür, was in Osteuropa vor sich ging, und verschlang Hunderte Bücher von Autoren, die vor mir da gewesen waren. Während meines Studiums streifte ich jeden Sommer durch die Länder des früheren Warschauer Paktes, die einst unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang gelegen hatten, und freute mich an der Vereinigung Europas. Nach dem Studium wartete eine Anstellung auf die meisten meiner Kommilitonen, doch ich hatte anderes vor. Im September 1999 zog ich nach St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Russlands, überwältigt von Begeisterung, trunken von den Möglichkeiten des demokratischen Wandels und der Blüte einer neuen Gesellschaft. In meinem Freudentaumel bemerkte ich gar nicht, dass ich den Moment verpasst hatte, und dass er längst vorüber war, wenn es ihn denn jemals gegeben haben sollte. Drei Wochen vor meiner Ankunft auf dem Flughafen Pulkowo war ein undurchschaubarer ehemaliger KGB-Agent namens Wladimir Putin zum Premierminister ernannt worden. Statt über Freiheit und Freundschaft zu schreiben, berichtete ich während der nächsten zehn Jahre über Kriege und Missbrauch, erlebte Paranoia und Schikane. Die Geschichte war keineswegs zu Ende. Im Gegenteil, sie nahm gerade an Fahrt auf.

Als ich 2014 den präsidialen Abort in Augenschein nahm, hatte ich bereits zwei Bücher über die ehemalige Sowjetunion veröffentlicht. Der Anstoß für das erste war das Elend, das ich in und um Tschetschenien gesehen hatte, und handelte von den Kaukasusvölkern und ihren wiederholten und wiederholt fehlgeschlagenen Bemühungen um Selbstbestimmung. Das zweite Buch beschrieb die Russen und die Aushöhlung ihres Landes durch Alkoholismus und Verzweiflung. Auch wenn es mir damals nicht ganz klar war, stand hinter beiden Büchern die unausgesprochene Frage: Was ist da nur schiefgegangen? Warum ist der Traum des Jahres 1991 nicht Wirklichkeit geworden? Vor dem Thron des gestürzten Präsidenten der Ukraine drängte sich mir diese Frage mit Macht auf: Warum hatten diese Staaten nicht Freiheit und Wohlstand bekommen, sondern Politiker, denen mehr an einem gepflegten Stuhlgang gelegen war als am Wohl ihrer Bürger?

Ein wenige Hundert Meter vom Kreml entfernt gelegener Bentley-Händler verkauft Karossen im Wert von vielen Hunderttausend Euro, und die russischen Zeitungen prahlen damit, dass diese Filiale mehr von diesen Luxusschlitten verkauft als jede andere auf der Welt. Wenige Stunden entfernt lernte ich – wohlgemerkt mitten im iPhone-Zeitalter – einen Mann kennen, der mir für mein altes Nokia-Handy sein gesamtes Vermögen anbot. In Aserbaidschan beauftragte Präsident Ilham Alijew die Stararchitektin Zaha Hadid – seinerzeit die glamouröseste Vertreterin ihrer Branche – mit dem Bau eines spektakulären Museums zu Ehren seines verstorbenen Vaters (und Amtsvorgängers), und zwar in teuerster Lage in der Hauptstadt Baku. Tausende seiner Bürger leben seit dem Krieg gegen Armenien vor zwei Jahrzehnten in improvisierten Flüchtlingslagern. In Kirgisistan ließ sich der Präsident eine dreigeschossige Luxusjurte bauen (Jurten sind Zelte und haben als solche nur eine Etage), um dort als Reiternomade des Goldenen Zeitalters zu posieren, während viele Hauptstadtbewohner ihr Wasser noch am Gemeindebrunnen holen.

In der Ukraine zogen Janukowytsch und seine Clique einen Parallelstaat auf. Sie regierten nicht, sie stahlen. Wo Steuern zu zahlen waren, konnte man sich per Bestechung bei ihnen freikaufen. Wo Genehmigungen erteilt wurden, hielten sie die Hand auf. Wo Unternehmen florierten, schickten sie Polizisten, um Schutzgeld zu kassieren. Beamte und Politiker gingen ihrer lukrativen Tätigkeit in diesem Parallelstaat nach und vernachlässigten darüber ihre eigentlichen Aufgaben. Die Ukraine beschäftigte sage und schreibe 18.500 Staatsanwälte, die nichts anderes waren als die Schlägertruppe eines Mafiapaten. Wenn sie Anklage erhoben, kamen die Richter ihren Wünschen nach. Mit der Justiz auf ihrer Seite konnten die Politiker nach Belieben absahnen.

Zum Beispiel im Gesundheitswesen. Der Staat war laut Verfassung verpflichtet, bedürftige Bürger kostenlos mit Medikamenten zu versorgen, und diese Medikamente kaufte er auf dem freien Markt ein. Dabei konnte er Aufträge an jeden Anbieter vergeben, der die entsprechenden Voraussetzungen erfüllte. Tatsächlich jedoch fanden Politiker endlose Möglichkeiten, Anbieter auszuschließen, die kein Schmiergeld zahlen wollten. Mal waren die Angebote in der falschen Schriftart eingereicht worden, mal war die Unterschrift auf dem Dokument zu groß oder zu klein – was immer den Beamten gerade einfiel. Ausgeschlossene Anbieter konnten zwar Widerspruch einlegen, doch dazu mussten sie vor ein Gericht gehen, aber das war natürlich Teil des korrupten Systems und forderte ebenfalls Tribut, sodass sich die Unternehmen erst gar nicht um die Aufträge bemühten. Wenn sie Ärger machten, liefen sie Gefahr, bis ans Ende aller Zeiten von einer der ungezählten Behörden schikaniert zu werden, die Betriebsinspektionen durchführen konnten, zum Beispiel von der Brandschutzbehörde oder dem Gesundheitsamt. Daher wurde der Markt von zwielichtigen und im Ausland registrierten Briefkastenunternehmen der Freunde der Politiker beherrscht, die sich absprachen, um die Preise nach Gutdünken in die Höhe zu treiben. Der Handel hielt sich an das Gesetz, und die beteiligten Unternehmer und Politiker machten satte Gewinne.

So kam es, dass der Staat für Aids-Medikamente mehr als das Doppelte des Weltmarktpreises bezahlte, und das obwohl die Aids-Epidemie in der Ukraine schneller um sich greift als irgendwo sonst in Europa. Als nach der Revolution internationale Organisationen den Einkauf übernahmen, konnten sie die Ausgaben für Krebsmedikamente um fast 40 Prozent senken, ohne minderwertige Produkte einzukaufen. Das Geld, das sie einsparten, war früher in die Taschen der Politiker und Beamten geflossen.

Und das war nur ein winziger Ausschnitt. Der Staat musste schließlich alles von irgendjemandem kaufen, und jedes Geschäft eröffnete einem Staatsdiener die Möglichkeit zur Selbstbereicherung. Man geht davon aus, dass Betrug dieser Art den Staat bis zu 12 Milliarden Euro pro Jahr gekostet haben könnte. Im Jahr 2015 erkrankten zwei ukrainische Kinder an Kinderlähmung, obwohl diese Krankheit in Europa als ausgerottet gilt. Schuld war ein mangelhaftes Impfprogramm, ausgehöhlt von korrupten und zynischen Politikern. Was ist da nur schiefgegangen?

Glauben Sie nicht, dass diese Frage allein für die Ukraine und die übrigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion gilt. Die groß angelegte Korruption, die Janukowytsch reich gemacht und sein Land in den Ruin gestürzt hat, provoziert in vielen Teilen der Welt Wut und Unruhen, von den Philippinen im Osten bis nach Peru im Westen. In Tunesien nahm die Raffgier der Beamten und Politiker solche Ausmaße an, dass sich ein Straßenhändler selbst verbrannte und damit den Arabischen Frühling auslöste. In Malaysia plünderten junge Investoren einen staatlichen Gesundheitsfonds und verprassten das Geld für Drogen, Sex und Hollywoodstars. In Äquatorialguinea kaufte sich der Sohn des Präsidenten von seinem offiziellen Monatsgehalt von 4000 Dollar eine 35 Millionen Dollar teure Villa in Malibu. In aller Welt greifen Staatsdiener in die öffentlichen Kassen, horten das gestohlene Geld im Ausland und finanzieren damit ihren ausschweifenden Lebenswandel, während ihre Heimatländer kollabieren.

Als wir das Jagdhaus von Sucholutschtschja verließen, grübelte ich noch immer über die Toiletten, die Fernsehapparate und die schmerzlichen Fragen, die sie aufwarfen. Wie hatten Anton und seine Mitbürger das zulassen können? fragte ich ihn. Hatten sie denn nicht bemerkt, was ihre Politiker anstellten? »Von den Einzelheiten hatten wir keine Ahnung«, erwiderte er frustriert. »Das Land, auf dem wir stehen, gehört nicht mal der Ukraine. Es gehört England. Schau’s nach.«

Er hatte recht. Wenn Sie hätten wissen wollen, wem dieses 30.000 Hektar große ehemalige Naturschutzgebiet gehörte, und warum es überhaupt privatisiert wurde, hätten Sie dies einfach im Katasteramt nachschlagen können. Dort hätten Sie dann erfahren, dass der Eigentümer ein ukrainisches Unternehmen namens Dom Lesnika war. Wenn Sie nachgeforscht hätten, wem Dom Lesnika gehörte, wären Sie in einem anderen Archiv auf den Namen eines britischen Unternehmens gestoßen, und ein Blick in ein weiteres Archiv hätte Ihnen verraten, dass dieses Unternehmen einer anonymen Stiftung in Liechtenstein gehörte. Für Außenstehende hätte dies wie eine unschuldige ausländische Investition gewirkt, wie sie in allen Ländern der Welt gern gesehen werden. Wenn Sie besonders hartnäckig gewesen wären und diese Investition selbst in Augenschein hätten nehmen wollen, dann wären Sie am Schlagbaum im Wald von Polizisten angehalten worden. Das hätte Sie vielleicht stutzig gemacht, doch das war noch lange kein Beweis, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Der Diebstahl war gut getarnt.

 

Die Ermittler hatten Glück, denn Janukowytsch hatte genauestens Buch über seine Gaunereien geführt. Sein Palast Meschyhirja stand in einer Parklandschaft am Dnjepr, am Ufer des Flusses befanden sich ein Jachthafen und eine Bar in Form einer spanischen Galeone. Auf der Flucht hatten die Schergen des Präsidenten zweihundert Aktenordner mit Finanzunterlagen in den Hafen geworfen, in der Hoffnung, dass sie untergehen würden. Den Gefallen hatten sie ihnen allerdings nicht getan. Die Demonstranten hatten die Papiere aus dem Wasser gefischt und in der Sauna getrocknet. Damit erhielten sie einen Einblick in die Finanztricks, mit denen Janukowytsch das Land ausgeplündert hatte.

Nicht nur Janukowytschs Jagdhaus lief auf den Namen von im Ausland registrierten Firmen, sondern auch dieser Palast. Genau wie seine Kohleförderunternehmen im Donbass und seine Villen auf der Halbinsel Krim, deren Eigentümer in der Karibik registriert waren. Janukowytsch war auch nicht der Einzige, der von solchen Offshore-Konstrukten Gebrauch machte: Die Medikamentendealer saßen in Zypern, die Waffenschieber wurden bis nach Schottland zurückverfolgt, und der größte Händler mit gefälschten Markenartikeln operierte von den Seychellen aus. Ermittler, die den Filz der offiziellen Korruption durchkämmen wollten, mussten sich daher mit Anwälten und Politikern in zahllosen Steueroasen und mit Kriminalbeamten in Dutzenden Ländern herumschlagen.

»Diese Politiker sind alle im Ausland gemeldet, in Monaco, Zypern, Belize oder den Britischen Jungferninseln«, erklärte mir der ukrainische Ermittler, der die gestohlenen Vermögen zurückholen sollte. »Wir schreiben diese Länder an, und dann müssen wir uns drei oder vier Jahre gedulden, wenn wir überhaupt etwas hören. Die Britischen Jungferninseln rühren sich grundsätzlich nicht, mit denen haben wir kein Abkommen. Und das war’s, damit ist der Fall erledigt. Während wir auf eine Antwort warten, wird das Vermögen fünfmal umgemeldet. Inzwischen läuft alles auf andere Namen, und das ist unser Hauptproblem, wir müssen diese Dokumente sämtlich durchgehen und überprüfen.«

Mir wird schwindelig wie vor einer komplizierten Mathematikaufgabe, und ich spüre, wie sich zu meinen Füßen ein Abgrund auftut. Diese Immobilien und Unternehmen gehören der Ukraine, aber rein juristisch gehören sie dem Ausland, wohin man ihnen nicht folgen kann. Kein Wunder, dass die Ganoven diese komplizierten Strukturen so lieben: Sie sind undurchschaubar. Und die Ukraine ist nicht das einzige Land, das betroffen ist.

Auch Politiker aus Nigeria, Russland, Malaysia, Kenia, Äquatorialguinea, Brasilien, Indonesien, den Philippinen, China, Afghanistan, Libyen, Ägypten und Dutzenden anderen Ländern haben ihr Vermögen im Ausland versteckt, wo die Bürger ihres Landes keinen Einblick und keinen Zugriff haben. Schätzungen gehen davon aus, dass in Entwicklungsländern märchenhafte Summen gestohlen werden: Die Rede ist von 20 Milliarden bis einer Billion Dollar pro Jahr. Über verschwiegene Offshore-Verbindungen landet dieses Geld schließlich in einigen wenigen Städten des Westens: Miami, New York, Los Angeles, London, Monaco, Genf.

Es gab eine Zeit, da hätte ein Beamter oder Politiker nicht viel mit dem Geld anfangen können, das er in seinem Heimatland gestohlen hatte. Er hätte sich ein neues Auto kaufen oder das Geld unter Freunde und Verwandte verteilen können, aber das war es auch schon. Zu Hause konnte er keine unbegrenzten Summen ausgeben. Irgendwann hätten sich die Geldscheinbündel einfach bei ihm zu Hause gestapelt, bis sie zu den Fenstern hinausquollen.

Mit Offshore-Banken ändert sich das. Briefkastenfirmen werden gelegentlich als Fluchtautos für Schwarzgeld bezeichnet, doch im modernen Finanzwesen sind sie eher so etwas wie magische Teleporter. Wer Geld stiehlt, muss es nicht mehr im Safe verstecken, wo es die Mäuse auffressen. Mithilfe des Teleporters kann er es per Knopfdruck außer Landes schaffen und an jedem beliebigen Ort deponieren. Das ist so, als könnte man so viel in sich hineinfressen wie man will, ohne sich jemals satt zu fühlen. Kein Wunder, dass Politiker unersättlich geworden sind: Sie können Geld unbegrenzt stehlen und ausgeben. Wenn sie eine Jacht wollen, dann überweisen sie das Geld nach Monaco und kaufen sich dort eine auf der jährlichen Messe. Wenn sie eine Villa wollen, dann überweisen sie das Geld nach London oder New York und suchen einen Makler, der keine Fragen stellt. Wenn sie Kunstwerke wollen, dann überweisen sie das Geld an ein Auktionshaus. Offshore heißt, dass man nie genug haben muss.

Aber das ist längst nicht alles. Wenn der wahre Eigentümer eines Vermögenswerts (zum Beispiel einer Villa, eines Flugzeugs, einer Jacht oder eines Unternehmens) geschickt hinter zahlreichen verschachtelten Konstruktionen und in verschiedenen Ländern versteckt wird, lässt er sich kaum noch ausfindig machen. Selbst wenn, wie in der Ukraine, die korrupte Regierung gestürzt wird, ist es schwierig bis unmöglich, die gestohlenen Summen zu finden, zu konfiszieren und zurückzuholen. Vielleicht haben Sie gelesen, dass Abermillionen nach Nigeria, Indonesien, Angola oder Kasachstan zurücküberwiesen wurden, doch in jedem dieser Fälle kommt auf jeden gestohlenen Euro bestenfalls ein zurückgezahlter Cent. Die korrupten Herrscher verstecken ihr Vermögen inzwischen derart geschickt, dass einmal gestohlenes Geld für immer verloren ist. Selbst wenn sie ihre Ämter verlieren, behalten sie ihre luxuriösen Anwesen im Westen von London, ihre Superjachten in der Karibik und ihre Villen in Südfrankreich.

Der Schaden für die betroffenen Länder ist enorm. Die Regierung von Nigeria hat die Kontrolle über den Norden des Landes verloren und Millionen Menschen sind auf der Flucht. Libyen ist als Staat kaum noch zu erkennen, bewaffnete Banden kämpfen um die Vorherrschaft und lassen den Menschenschleppern freie Bahn. Die Korruption der afghanischen Politiker verhindert den Kampf gegen den Opiumanbau, die Schmuggler können das billige Heroin nach Belieben ins Ausland verfrachten. In Russland, einem der Hauptabnehmer des Heroins, sind mehr als eine Million Menschen mit dem HI-Virus infiziert, doch das Gesundheitswesen hat kein Geld, und die Regierung interessiert sich mehr für kurzfristige Propagandaerfolge als dafür, ihren Bürgern zu helfen.

Und die Ukraine ist eine Ruine. Die Landstraßen zwischen den größeren Städten befinden sich in miserablem Zustand, während die zwischen den Dörfern kaum noch instand gehalten werden. Eine Fahrt durch das Land ist eine Qual, die noch unerträglicher wird, weil man ständig von Verkehrspolizisten angehalten wird, die nach kleinsten Verstößen gegen die komplizierte Straßenverkehrsordnung Ausschau halten oder sie wenn nötig auch erfinden.

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahr 1991 waren die Einwohner der Ukraine mehr oder weniger gleich arm oder reich, da die Sowjetunion ihre Misswirtschaft gerecht auf alle verteilt hatte. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten hat sich die Situation vollkommen verändert. Am Vorabend der Revolution des Jahres 2013 befand sich die Hälfte der Volkswirtschaft in der Hand von nur 45 Personen. Auch dies hat die Ukraine mit zahlreichen von der Korruption zerfressenen Entwicklungsländern gemeinsam. Die Tochter des langjährigen Präsidenten Angolas ist die reichste Frau Afrikas und stöckelt durch den Westen wie ein Filmstar, während der Rest der Bevölkerung in einem gescheiterten Staat ums Überleben kämpft. Die Tochter des Präsidenten von Aserbaidschan produziert Filme und verlegt Hochglanzmagazine, und die Söhne des Notstandsministers unterhielten bis vor Kurzem ein Lobbyunternehmen in der Londoner City. Es ist kaum vorstellbar, wie Länder mit einer derart zerrütteten Wirtschaft ein gesundes Gemeinwesen und eine funktionierende Demokratie auf die Beine stellen sollen, von der Landesverteidigung ganz zu schweigen.

Was das heißt, wurde kurz nach der ukrainischen Revolution auf der Krim deutlich. Die Krim gehört zur Ukraine, doch als russische Truppen – in nicht gekennzeichneten Uniformen, aber in Fahrzeugen mit russischen Militärkennzeichen – in die Städte der Halbinsel einfuhren und Militärstützpunkte blockierten, waren die Verantwortlichen derart demoralisiert, dass sie keine ernsthafte Gegenwehr leisteten. Ein Admiral ergab sich den Russen nicht nur, sondern händigte ihnen auch gleich die ukrainische Flotte aus, obwohl er angeblich seinem Land den Treueeid geschworen hatte. Im Flughafen stempelten die Grenzbeamten den ukrainischen Dreizack in meinen Pass, doch das Land, dem sie dienten, war verschwunden. Im Osten der Ukraine wiederholte sich das Spiel: Kaum jemand war bereit, die Ukraine gegen die von Russland unterstützten, gut bewaffneten und gut ausgebildeten Separatisten zu verteidigen. Die Korruption hatte den Staat derart ausgehöhlt, dass er zu einem Apparat der kriminellen Selbstbereicherung der Politiker verkommen war. Warum sollte jemand etwas verteidigen, das nur dazu da war, ihm das Leben schwer zu machen? Die Korruption hatte dem Staat jegliche Legitimität genommen.