Loe raamatut: «Sag mir, was du wirklich meinst», lehekülg 5

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Präsenz ins Leben bringen

Sie haben die letzten Seiten wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten durchgelesen, doch diese Praktiken ins Leben zu integrieren dauert seine Zeit. Wählen Sie eine Methode aus, mit der Sie beginnen wollen, und probieren Sie die Praxis auf drei verschiedene Weisen aus: allein (formale Meditation), bei Übergängen (in der Warteschlange, auf dem Weg zur Arbeit) und in Gesprächen (zunächst während Sie zuhören).

Wenn Sie allein sind, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit hundertprozentig auf den Anker. Bei den Übergängen fokussieren Sie sich so sehr darauf, wie es Ihnen angebracht erscheint. Wenn Sie mit jemandem im Kontakt sind, richten Sie bloß zehn oder zwanzig Prozent Ihrer Aufmerksamkeit darauf. Zunächst mag Ihnen das in Gesprächen merkwürdig vorkommen. Es kann sich so anfühlen, als ob Ihre Aufmerksamkeit zwischen Ihrem Anker und dem Gespräch hin- und herspringt. Das ist ganz normal. Mit der Zeit wird Ihr Geist lernen, das, was von außen durch die Sinne hineinkommt, mit einer geerdeten inneren Präsenz auszugleichen, sodass Sie sich während eines Gesprächs nebenbei auch Ihres Körpers gewahr bleiben können.

Zu Beginn besteht die Arbeit vor allem darin, dass Sie sich daran erinnern, präsent zu sein. Eine Möglichkeit, sich darin zu unterstützen, ist es, sich jeden Morgen ein wenig Zeit zu nehmen, um eine Intention zu formulieren, und dann am Ende des Tages zu reflektieren, wie es gelaufen ist. Für diese Praxis reichen schon zwei Minuten. Sie können sich aber natürlich auch mehr Zeit dafür nehmen.

Übung: Den Tag bewusst beginnen und abschließen

Morgens: Nehmen Sie nach dem Aufstehen einige bewusste Atemzüge, um Ihren Geist zur Ruhe zu bringen und Ihren Körper zu spüren. Bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zu dem Bezugspunkt, mit dem Sie arbeiten wollen: Schwerkraft, Mittellinie, Atem oder ein Berührungspunkt. Nehmen Sie wahr, wie es sich jetzt gerade anfühlt, präsent zu sein. Formulieren Sie dann eine klare Intention, während des Tages zu diesem Bezugspunkt zurückzukehren, so oft es möglich ist, um Ihre Präsenz zu unterstützen. Stellen Sie sich die Situationen vor, in denen Sie praktizieren wollen: auf dem Weg zur Arbeit, in einer Besprechung oder im Beisein einer bestimmten Person.

Abends: Nehmen Sie sich am Ende des Tages etwas Zeit, um zu reflektieren. Haben Sie sich erinnert? Wann? Welche Wirkung hatte es? Machen Sie diese Reflexion in einer inneren Haltung von Neugier und Wärme, und achten Sie darauf, ob Sie sich selbst kritisieren. Was möchten Sie morgen anders machen? Haben Sie Ideen dazu, wie Sie sich daran erinnern können, mit Präsenz in den Tag zu starten?

Diese strukturierte tägliche Praxis kann enorm nützlich sein, um Ihren Geist zu schulen. Wenn Sie die Anregungen in diesem Buch ausprobieren möchten, können Sie diese Art von Reflexion für jede der drei Grundlagen der achtsamen Kommunikation und die dazugehörigen Methoden nutzen.

Resilient werden

Bei einem Workshop hob eine Teilnehmerin die Hand und fragte mit schmerzerfülltem Gesicht: »Was ist, wenn es wehtut, hier zu sein?« In die Präsenz zurückzukehren, kann sich manchmal so anfühlen, als ob man auf das falsche Ende einer Harke tritt: Völlig unerwartet bekommt man einen Schlag ins Gesicht. Wir sind die ganze Zeit mit Hochgeschwindigkeit unterwegs; wenn wir dann endlich entschleunigen und wieder mit uns selbst in Kontakt kommen, kann es sein, dass wir es erst mal mit einem Rückstau aus körperlichem Unwohlsein, Stress oder emotionalem Schmerz zu tun bekommen.

Oft versuchen wir, Schmerzhaftes oder Unangenehmes durch Ablenkung oder Vergnügen zu lindern. Tatsächlich kann das auch dabei helfen, ein überlastetes Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass die Suche nach Erleichterung zu einem chronischen Reflex auf alles Unangenehme wird. Dann kann es passieren, dass wir irgendwann nicht mehr in der Lage sind, auch nur den leisesten Schmerz auszuhalten, ohne sofort etwas zu tun, um es zu verändern.

Wenn man dem Schmerz jedoch mit authentischem Wohlwollen und Präsenz begegnet, kann etwas Tolles geschehen – nämlich Heilung. Geduldige, stete Aufmerksamkeit lindert emotionalen Schmerz. Denken Sie nur einmal daran, wie es sich anfühlt, wenn man Kummer hat und ein anderer Mensch einem mit Empathie und Präsenz begegnet.

Ich war neunzehn, als ich anfing, in einem Kloster am anderen Ende der Welt, in Indien, den Buddhismus zu studieren. Ich hatte ziemliches Heimweh, und der Leiter für Auslandsstudien ermutigte mich, mit einem der Meditationslehrer darüber zu sprechen, wie ich mich fühlte.

Godwin Samararatne war ein hochgewachsener Mann aus Sri Lanka mit sanften Augen und einem ausgelassenen Lachen. Seine tiefbraune Haut bildete einen deutlichen Kontrast zu seinem traditionellen weißen Gewand. Wir saßen einander in einem sonnigen Raum gegenüber, und Godwin hörte zu, während ich darüber sprach, wie sehr mir meine Familie und meine Freundin fehlten. Nach einer Weile neigte er leicht den Kopf und fragte: »Wo tut es denn weh?« Ich deutete auf die Mitte meiner Brust und fühlte den Schmerz nun ganz unmittelbar.

Die Tränen stiegen mir in die Augen, während der Schmerz von meinem Herzen in meinen Hals aufstieg. Godwin sah mir in die Augen und nickte langsam. Für einen Moment wurde der Schmerz noch intensiver, dann flaute er ab und verschwand. Ich strahlte ihn an und dankte ihm, in dem Glauben, er habe ein Wunder bewirkt. Es sollte noch lange dauern, bis ich verstand, was tatsächlich geschehen war: Sein Mitgefühl hatte mich in die Präsenz eingeladen, dazu, den Schmerz zu fühlen und ihn vorüberziehen zu lassen.

Wenn wir tiefer die Muster erforschen, die unsere Kommunikationsgewohnheiten antreiben, kann es sein, dass wir schwierige Gefühle oder schmerzhafte Erinnerungen entdecken. Präsenz ist eine ­essenzielle ­Ressource, um mit diesen Stellen umzugehen. Sie ist ein Weg in die Widerstandskraft, die Resilienz, und hilft uns, die uns innewohnenden heilsamen und selbstregulierenden Fähigkeiten von Geist und Körper zu aktivieren. So wie unsere Zellen wissen, wie sie einen Schnitt heilen, besitzt unsere Psyche die Intelligenz, emotionale Wunden heilen zu lassen. Mit Zeit, Unterstützung und liebevoller Präsenz können unsere Herzen genesen.

Eine positive Rückkopplung erzeugen

Während Sie dazu aufbrechen, mehr Präsenz in Ihr Leben zu bringen, bemerken Sie vielleicht, wie schwer das ist. Einer meiner ersten Meditationslehrer sagte gern: »Achtsamkeitspraxis ist einfach, aber nicht leicht.« Wir können einen ganzen Tag verleben, ohne uns auch nur ein einziges Mal daran zu erinnern, präsent zu sein! Und wenn wir uns doch erinnern, ist unsere Reaktion darauf oft selbstkritisch.

Mitunter haben wir so unrealistische Erwartungen an uns selbst, als ob wir von Tag eins an Experten sein müssten. Es ist völlig normal, es zu vergessen. Gehen Sie davon aus, dass Sie es sehr oft vergessen werden. Mit anderen Worten: Wenn Sie sich erinnern, ist das wirklich toll. Unsere Kommunikationsgewohnheiten haben viel Eigendynamik; denken Sie an die Metapher, ein Schiff auf hoher See zu wenden. Unsere Aufgabe ist es, das Ruder im »richtigen Winkel zu halten«. Selbst ein klein wenig mehr Präsenz in einem Gespräch wird mit der Zeit tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen.

Anstatt uns selbst dafür zu schelten, dass wir es vergessen haben, ist der Schlüssel zum Erfolg, es wertzuschätzen, wenn wir uns erinnern. Jeder Moment der Achtsamkeit stärkt das Gewahrsein. Das ist ein Anlass zum Feiern, nicht zum Verurteilen. Wir lernen mehr durch warmherzige Ermutigung als durch harsche Kritik. Wenn Sie einem Kind das Rechnen beibringen und jedes Mal wütend werden, wenn es einen Fehler macht, wie viel wird dieses Kind dann lernen? Wird es sich überhaupt mit Mathematik befassen wollen?

Wenn Sie sich diese Einsicht zu Herzen nehmen, werden Sie feststellen, dass die Achtsamkeit schneller und mit mehr Freude und Leichtigkeit zunimmt. Das Geheimnis ist geduldiges und freundliches Dranbleiben. Beginnen Sie mit Präsenz, sooft Sie sich daran erinnern, und lassen Sie sich den Rest natürlich entfalten.

Die Kraft der Präsenz

Wir können so wortgewandt sein, und doch reichen Worte oft nicht aus, um das auszudrücken, was in unserem Leben am bedeutsamsten ist. In Momenten tiefer Liebe und Intimität wie auch in Momenten großer Verluste und Tragödien sagt unsere einfache, beständige Präsenz am meisten.

Eine der schwierigsten Aufgaben in meinem Leben war es, mich von Safta zu verabschieden, der Mutter meines Vaters. Ich war vierzehn, als ihr Krebsleiden metastasierte. Ich begleitete meinen Vater auf seiner Reise zu ihr nach Israel.

Safta und ich hatten niemals die gleiche Sprache gesprochen, aber im Lauf der Jahre viele liebevolle Momente geteilt, während wir Karten spielten oder uns einfach an den Händen hielten und lachten. Sie hatte unglaubliche Hände. Sie waren klein und rau, Hände, die einem Huhn den Hals umdrehten, ebenso wie sie mir zärtlich übers Gesicht streicheln konnten. Die Haut an Saftas Händen schaffte es irgendwie, zugleich prall wie auch faltig zu sein. Ich kann die Lebendigkeit und Wärme dieser Hände noch heute spüren.

Mein Vater und ich besuchten sie jeden Tag im Pflegeheim. Bei unserem letzten Besuch verbrachten wir einige Zeit gemeinsam im Innenhof und gingen dann zurück in ihr Zimmer. Mir liefen die Tränen über die Wangen, als ich ihr in gebrochenem Hebräisch sagte, dass ich sie liebte und sie vermissen würde. Dann hielten wir uns für einen langen, stillen Moment an den Händen. Es war ein Abschied ohne Worte und der bedeutungsvollste, den ich mir je hätte wünschen können.

Manchmal ist es unsere Präsenz, die am meisten sagt.

Prinzipien

Präsenz schafft die Basis für die Verbindung von Mensch zu Mensch.

Beginnen Sie mit Präsenz. Gehen Sie mit Gewahrsein in das Gespräch hinein, kehren Sie zu diesem Gewahrsein zurück, und versuchen Sie, es aufrechtzuerhalten und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein in Hinblick auf das, was Sie gerade erleben.

Die wichtigsten Punkte

Präsenz hat uns viel zu geben:

 Sie gibt uns unser Leben zurück, sie macht uns wach für den gegenwärtigen Moment.

 Sie hilft uns, uns daran zu erinnern, die erlernten Kommunikationsmethoden auch anzuwenden.

 Sie liefert uns wichtige Informationen über uns und andere Menschen.

 Sie gibt uns frühe Warnsignale, wenn wir erregt oder verärgert sind.

 Sie gibt uns inneren Raum und Halt, um mit unseren Reaktionsmustern umzugehen.

 Sie hilft uns, emotionale Schmerzen oder Verletzungen zu heilen.

Präsenz ist unser natürlicher Zustand. Wir können Präsenz entwickeln, indem wir:

 uns auf wache und ausgeglichene Weise in unserer Umgebung orientieren,

 erkennen, was uns dabei hilft, mit der Präsenz verbunden zu bleiben, und was uns davon trennt,

 Achtsamkeit auf den Körper praktizieren und uns mithilfe eines Ankers erden: Schwerkraft, die Körpermittellinie, die Atmung, Berührungspunkte wie Hände oder Füße,

 den Tag mit einer Intention beginnen und abschließen,

 eine positive Rückkopplung erzeugen, indem wir es wertschätzen, wenn wir uns daran erinnern, präsent zu sein, anstatt uns zu verurteilen.

Fragen und Antworten

Manchmal fühle ich mich sehr präsent, wenn jemand anders spricht, aber ich bin mir dabei nicht unbedingt meines Körpers bewusst. Ist das trotzdem Präsenz?

Es gibt viele Möglichkeiten, präsent zu sein. Wir können mental und intellektuell im Hier und Jetzt sein, emotional mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen und somatisch mit unserem körperlichen Erleben. Wir versuchen, diese drei Bereiche zusammenzubringen. Wenn wir den Körper als Basis für unsere Präsenz nutzen, gibt uns das ein Gefühl der Ganzheit, und wir haben eine Grundlage, auf der wir andere Formen der Präsenz entwickeln können.

Ich habe versucht, präsenter und bewusster zu sein, wenn ich mit jemandem aus meiner Familie spreche. Aber das hat so viele Gefühle in mir ausgelöst, dass es mir schwerfiel, zu sprechen oder zuzuhören. Es schien fast so, als ob ich noch reaktiver würde. Was ist da los?

Es kann durchaus überfordernd sein zu fühlen, was in unserem Inneren los ist, besonders wenn es sich um ein schwieriges Gespräch handelt. Manchmal kann gesteigerte Präsenz Gefühle oder Dynamiken aufdecken, die bislang unter der Oberfläche verborgen waren. In anderen Situationen fühlen wir uns vielleicht eher offen und verletzlich. All das kann ein Gefühl der Desorientierung hervorrufen. Ich möchte Sie ermutigen, dennoch weiter möglichst präsent zu sein. Tun Sie Ihr Bestes, um im Gleichgewicht zu bleiben, egal, was hochkommt, denn die Alternative wäre, in den Autopilotmodus zu verfallen. Wenn Sie sich überfordert fühlen, können Sie jederzeit zu der anderen Person sagen: »Ich würde gern weitersprechen, aber ich bemerke, dass ich mich etwas überfordert fühle. Wäre es in Ordnung, wenn wir eine kurze Pause machen?«

Meistens fühle ich mich nicht sicher genug, um mich zu entspannen und präsent zu sein. Wie kann ich das üben, wenn ich mich nicht sicher fühle?

Es berührt mich sehr, diese Frage zu hören. Meiner Meinung nach verweist sie sowohl auf unsere Sehnsucht, uns von Mensch zu Mensch zu verbinden, als auch auf unsere Verletzlichkeit. So vieles in unserer Gesellschaft fördert nicht die Art von Entspannung, nach der sich unser Organismus sehnt: das Wohlgefühl warmer sozialer Kontakte und das Gefühl, einen Platz zu haben. Mir ist es wichtig, dass wir unsere individuelle Erfahrung im Kontext der größeren Strukturen unserer Gesellschaft verstehen, sonst neigen wir dazu, all unsere Herausforderungen zu persönlich zu nehmen und zu denken, dass wir irgendwie schuld daran seien.

Wenn wir bedenken, wie wenig unsere moderne Kultur durch ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit gekennzeichnet ist und wie wirtschaftlicher Druck die Zeit zum Aufbau einer gesunden Bindung zwischen Eltern und Kindern auf ein Minimum reduziert, ist es ganz klar, dass wir uns nicht entspannt und sicher fühlen! Vielleicht haben wir einen Mangel an Sicherheit aus negativen Erfahrungen internalisiert, die auf unserem Geschlecht, unserer sexuellen Orientierung, ethnischen Zugehörigkeit, sozialen Schicht oder einem anderen soziokulturellen Merkmal basieren. Es ist wichtig herauszufinden, an welchen Stellen wir Unterstützung brauchen, Ressourcen schaffen und daran arbeiten müssen, die strukturellen Ursachen dieser Probleme zu verändern.

Zudem ist es wichtig, unsere Annahmen zu überprüfen. Vielleicht suchen wir Sicherheit, indem wir uns an dem festklammern, was uns emotionale Geborgenheit vermittelt. Doch Sicherheit ist illusorisch. Wir können tun, was in unserer Macht steht, um Verletzungen zu vermeiden und eventuelle Misshandlungen zu ­beenden, und zugleich anerkennen, dass die Welt kein sicherer Ort ist, weder physisch noch emotional. Anstatt unsere Angst noch zu verstärken, kann diese Einsicht zu großer Lebendigkeit und Freiheit führen.

Die Methoden und Perspektiven, die ich hier mit Ihnen teile, können uns helfen, eine stabile Basis des Wohlbefindens und der Verbundenheit mit uns selbst zu schaffen, sodass unser Sicherheitsgefühl mehr von innen als von außen gestärkt wird. Hier ist das Prinzip, erst mal am »flachen Ende des Schwimmbeckens« zu üben, besonders wichtig. Halten Sie Ausschau nach Menschen oder Situationen, mit denen Sie sich eher sicher und eher entspannt fühlen, um mit dem Üben zu beginnen – und sei es mit Ihrem Haustier oder Ihrem Lieblingsbaum. Unser Nervensystem sehnt sich nach der beruhigenden Wirkung freundlicher sozialer Interaktion. Wir Menschen kennen sie seit Jahrtausenden, und unser Körper erinnert sich daran, wie wir uns untereinander verbinden, uns mitteilen und einander zuhören können, wenn wir nur die richtigen Umstände schaffen und alldem Gelegenheit geben.

12 Zwar unterscheiden viele Meditationsansätze zwischen den Begriffen »Achtsamkeit«, »Gewahrsein« und »Präsenz«, doch für unsere Zwecke gebrauche ich diese Begriffe synonym. Jede trägt eine etwas andere Konnotation der Erfahrung des bewussten Gewahrseins in sich.

13 Mir wurde auch klar, dass das unbewusste Ausleben der typischen Geschlechter­rollen – der Mann hat das Sagen, die Frau fügt sich – zu der Situation beigetragen hatte.

3
Gewahrsein in Beziehungen

»Alles wahre Leben ist Begegnung.«

Martin Buber

Die Macht unserer Gewohnheiten und der soziale Druck in manchen Situationen kann es ausgesprochen schwierig machen, in Gesprächen präsent zu bleiben. Hier dient uns unsere innere Praxis als Basis. Wir betrachten das Gespräch als Übungsgelände für Präsenz, nutzen Techniken, um die Aufmerksamkeit zu verankern und mehr Gewahrsein in Beziehungen zu entwickeln.

Als ich nach fünf Jahren engagierter Achtsamkeits- zur Kommunikationspraxis kam, stellte ich fest, dass sich bestimmte Verhaltensweisen veränderten. Ich fing ganz natürlich an, bewusster zu sprechen und zuzuhören. Ich begann auch, kleine Veränderungen in meinem Sprechfluss vorzunehmen, Pausen zu machen oder die Geschwindigkeit ein wenig zu ändern, um mein Nervensystem zu regulieren. Schließlich lernte ich, mein Gewahrsein von meinem eigenen Körpergefühl ausgehend so weit werden zu lassen, dass es mein Gegenüber, unsere Verbindung und den Raum um uns herum umfasste.

Entscheidungspunkte: Sprechen oder zuhören?

Bewusst zu entscheiden, wann wir sprechen und wann wir zuhören, ist wesentlich für ein sinnvolles Gespräch. In mancherlei Hinsicht ist das die grundlegendste Kommunikationsfertigkeit. Wie oft haben Sie schon etwas gesagt und sich dann, nur wenige Augenblicke nachdem die Worte Ihrem Mund verlassen hatten, gewünscht, sie zurücknehmen zu können? Oder in einer E-Mail auf »Senden« gedrückt, obwohl es besser gewesen wäre, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen? Und ebenso wichtig ist es, Mut zu fassen und zu sagen, was wir zu sagen haben. Wenn das unterbleibt, kann es sich so anfühlen, als hätten wir uns selbst oder die Menschen, die wir lieben, im Stich gelassen.

Ein Gespräch ist ein dynamisches Zusammenspiel zwischen der Entscheidung zu sprechen und der Entscheidung zuzuhören. Werden diese Entscheidungen bewusst und respektvoll getroffen, ist das Gespräch meistens produktiver und angenehmer. Fallen sie unbewusst oder impulsiv, ist das Gespräch weniger produktiv und stressiger.

Ich nenne diese Weggabelung den »Entscheidungspunkt«. Wenn wir präsent sind, gibt es in jedem Moment eine Entscheidungsmöglichkeit. Einer meiner Kollegen, der ebenfalls Gewaltfreie Kommunikation lehrt, verwendet das Akronym WAIT, um sich daran zu erinnern: »Warum spreche ich?« (»Why am I talking?«) – eine Frage, die darauf verweist, wie schnell und unüberlegt wir oft zu sprechen beginnen. Und mit der Frage »Was denke ich?« können wir uns den mentalen Prozess bewusst machen, der unsere Worte hervorbringt.

Ein Entscheidungspunkt ist ein Moment des Gewahrseins, in dem wir uns entscheiden, ob wir sprechen oder zuhören wollen.

Die Fähigkeit, an dem Entscheidungspunkt präsent zu sein, erfordert Übung. Manchmal fliegt er an uns vorbei wie ein Straßenschild, während wir mit Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn fahren. Der Impuls, uns mitzuteilen, kann so stark sein, dass er uns dazu treibt, etwas auszusprechen, bloß um inneren Druck abzulassen. Wenn wir hingegen eher zu den stilleren Gemütern gehören, mag es uns so vorkommen, als ob diese Gelegenheiten vorübergezogen sind, bevor wir unsere Stimme erheben konnten.

An dieser Stelle kommt Achtsamkeit ins Spiel. In der Meditation lernen wir, unangenehme Empfindungen zu beobachten (Knieschmerzen, Verspannungen im Rücken), ohne direkt darauf zu reagieren. Wir entwickeln die Fähigkeit, uns eines Impulses bewusst zu sein, ohne auf ihn zu reagieren.

Die Angst, die wir in Gesprächen empfinden, wurzelt meist in tieferliegenden Bedürfnissen, wie etwa gesehen oder gehört zu werden, Bedürfnissen nach Sicherheit, Akzeptanz, Zugehörigkeit und Ähnlichem mehr. Je weniger zuversichtlich wir sind, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden, desto mehr Druck verspüren wir, etwas zu sagen beziehungsweise lieber weiter zu schweigen. Wenn wir nicht jetzt sofort etwas zur Sprache bringen, so fürchten wir vielleicht, werden wir nie mehr die Gelegenheit dazu haben. Oder aber: Wenn wir etwas sagen, wird darauf sicherlich eine Katastrophe oder eine Trennung folgen.

Je mehr Möglichkeiten wir finden, diese Bedürfnisse zu erfüllen (und gut mit ihnen umzugehen, wenn sie nicht erfüllt sind), desto weniger Druck verspüren wir, zu sprechen oder weiter zu schweigen; wir können uns in den Fluss einer Unterhaltung hinein entspannen. Es ist nicht gefährlich, wenn wir unsere Meinung sagen, und es gibt keine Eile, alles auf einmal mitteilen zu müssen. Wenn es wichtig ist, werden wir den richtigen Zeitpunkt und die richtige Art und Weise finden.

Diese Fähigkeit entwickelt sich langsam. Indem wir üben, unsere Bedürfnisse zu achten, lernen wir, uns selbst zu vertrauen. Wenn wir jedem noch so kleinen Erfolg Beachtung schenken, hilft das unserem Nervensystem, zur Ruhe zu kommen und sich neu auszurichten. Weil es sich an ein grundsätzliches Wohlbefinden gewöhnt, muss es nicht immerzu falschen Alarm schlagen, der uns dazu antreibt oder davon abhält zu sprechen, und wir können immer öfter eine bewusste Wahl treffen. Dann können wir entscheiden, was am hilfreichsten für den Fortgang des Gesprächs ist und wie die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt werden können.