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Loe raamatut: «Memoiren einer Grossmutter, Band I», lehekülg 9

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Sonntag verreiste dieser verehrte, populäre Prediger, von vielen Bewohnern des Städtchens ein Stück Weges begleitet.

In der Neustadt

I.
Es war ein schönes Bild …

Es war ein schönes Bild, als Kaiser Nicolaus I. inmitten einer glänzenden Suite stand. Seine von Gesundheit strotzende, hohe Figur ragte über seine Umgebung hoch hervor. Seine militärische Paradeuniform, der fest anliegende Frack mit hochrotem Tuchbesatz und Manschetten, die Brust mit vielen Ordenssternen dekoriert, die massiven Epaulettes, die blaue, breite Schärpe quer über der Brust, das Portepee mit dem Degen an der linken Seite, der quer auf dem Kopf sitzende Dreispitzhut mit dem wuchtigen, weißen Federbusch verlieh der martialischen Gestalt ein ganz außergewöhnliches Aussehen. Sein Gesicht mit den regelmäßigen Zügen, dem glattrasierten Doppelkinn, mit dem vollen, blonden Backenbart drückte eine wohlwollende, ja eine freudige Erregung aus, auch die energisch blitzenden, grauen Augen leuchteten, während die stramme militärische Haltung das hohe Selbstbewußtsein ausdrückte. Zu seiner Rechten stand der Kronprinz Alexander II., der damals, im Jahre 1835, noch ein junger Mann war. Er war von hohem, massigen Körperbau und hatte im Gegensatz zu Kaiser Nicolaus I., der lichtblondes Kopf- und Barthaar hatte, rabenschwarzes Haar, einen schmalen schwarzen Lippenbart und Augen von gleicher Farbe. Sein ganzes Wesen umleuchteten Milde und Freundlichkeit; keine Spur von dem Selbstbewußtsein seines kaiserlichen Vaters! – Der Kronprinz hatte schon damals, wie ich mich noch jetzt gut erinnern kann, alle Herzen der umstehenden Menschenmenge für sich gewonnen. Und diese Sympathie rechtfertigte er 1861 als Befreier der Leibeigenen.

Umgeben von zahlreichen Generälen, Adjutanten, Ingenieuren, standen die Fürsten auf dem sogenannten Tatarischen Berge. Der glatte, grüne Rasen lag wie ein Samtteppich vor ihren Füßen; und die dunkelblaue Himmelskuppel überwölbte dieses imposante Bild. Die Sonne übergoß es mit einem Meer von Licht, das sich in den Brillantenorden der goldgestickten Beamtenuniformen in tausend Regenbogenfarben brach.

Dieses glänzende Schauspiel erschien uns Kindern wie ein Luftgebilde, da wir neben unserem elterlichen Hause, etwa hundert Faden von dem obengenannten Berge entfernt, standen. – Der Kaiser Nikolaus I. zeigte mit seiner rechten Hand nach verschiedenen Richtungen. Aus den eifrigen Debatten der Herrschaften konnte die umstehende Menge ahnen, daß eine wichtige Frage besprochen wurde: bald wurde ein General, bald ein Adjutant vom Berge heruntergeschickt, der unser Haus beschaute und musterte, die grüne Wiese, die um Haus und Garten lag, mit einem Saschen (russisches Maß = 1 Faden) maß und dann zum Rapport auf den Berg zurückeilte.

Die gaffende Volksmenge erschöpfte sich in tausend Vermutungen und gab jeder Handbewegung des Kaisers tausend Bedeutungen, – nur nicht die richtige. Endlich erfuhr man, daß das ganze Terrain der alten Stadt Brest für eine Festung erster Klasse von Kaiser Nicolaus I. bestimmt worden war! Die ganze Tragweite dieses Projektes sollte jedem Stadtbürger bald klar werden.

Wenige Monate nach der oben geschilderten Begebenheit wurden die Hausbesitzer der Stadt Brest-Litauen durch einen kaiserlichen Ukas benachrichtigt, daß alle durch eine eigens zu diesem Zwecke eingesetzte Kommission ihre Häuser abschätzen lassen sollten. Die Regierung würde eine Abstandsumme zahlen und außerdem ein Terrain vier Werst, das ist 1,5-2 englische Meilen, von der Altstadt entfernt zur Verfügung stellen. Die Nachricht wurde mit Schrecken aufgenommen. Eine gewisse Ahnung schlich sich in die Gemüter der Bürger, daß ihr Ruin bevorstand! – Für meine Eltern wurde dieses Projekt zur Katastrophe!… Denn nicht nur unser prächtiges Haus, sondern auch die große Ziegelfabrik, die zwei Werst hinter der Stadt stand, sollte niedergerissen werden. Diese Ziegelei warf jeden Sommer große Summen ab, da mein Vater die Lieferung vieler Millionen Ziegelsteine für die schon begonnenen, großen Kasernenbauten übernommen hatte. – Nur schwer konnte mein Vater den ersten Schreck über den neuen Befehl verwinden. Aber er beruhigte sich wie die übrigen Hausbesitzer der Stadt bei der kaiserlichen Versicherung, daß die Regierung für alle Schäden aufkommen würde. – Die Abschätzungskommission, welche die Regierung einsetzte, sollte den Wert aller Häuser der Stadt Brest-Litowsk bestimmen, und die Regierung versprach sehr ehrlich und gut zu bezahlen. – Da schickte der Teufel einen seiner Höllenboten in Gestalt eines Winkeladvokaten. Jude von Geburt, war er sehr befähigt, Prozesse zu führen, Bittschriften in russischer Sprache abzufassen, was in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in dem noch vorwiegend polnischen Litauen nur wenige Begnadete vermochten. Bei diesen guten Eigenschaften aber war dieser Mensch ein Ausbund der gemeinsten Gewissenlosigkeit. Dieses Subjekt wußte bald das Vertrauen der gesamten Hausbesitzer, wie auch der Schatzkommission zu gewinnen, und alle beeilten sich, ihr Hab und Gut, das zumeist in dem Besitz ihres Hauses bestand, in seine Hände zu legen, damit er ihre Interessen vor der Kommission vertreten sollte. – Es dauerte jedoch nicht lange, so entzweite er sich mit beiden Parteien und denunzierte bei einer höheren Instanz, daß alle Schätzungen der Kommission falsch seien! Daß in dieser Denunziation ein Kern Wahrheit lag, bezweifle ich nicht. Die Interessen meiner armen Eltern aber wurden durch diesen Racheakt unschuldigerweise schwer getroffen. Da mein Vater seine Sache vor der Abschätzungskommission selbst vertrat, und der Winkeladvokat nicht auf seine Kosten kam, so wurde auch mein Vater ein Opfer der Angebereien. Es dauerte nicht mehr lange, als von einer höheren Regierungsinstanz der Befehl erging, die Abschätzung der Häuser einzustellen, bis eine neue Untersuchungskommission kommen würde! Da erhob sich ein allgemeines Jammern! Ein jeder Hausbesitzer wußte nun schon, daß er seine Besitzung verlieren würde. Und jetzt hörten wir Kinder kein anderes Gespräch mehr im Hause, sei es unter den Familienmitgliedern oder mit Gästen, als über das bevorstehende Niederreißen unseres prächtigen Hauses und der Ziegelei. Und jedes Wort war getränkt mit der Wut über den verruchten Winkeladvokaten David, »den Schwarzen«, der über die Stadt Brest-Litauen so schwere Not heraufbeschworen hatte. Infolge der Denunziation von Rosenbaum (das war sein Familienname) kam nach kurzer Zeit ein zweiter Befehl, daß jeder Hausbesitzer sein eigenes Haus auf eigene Kosten demolieren sollte, um noch schneller Platz zu schaffen, andernfalls würde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Man setzte einen sehr nahen Termin an, bis zu dem die Häuser niedergerissen sein mußten. Die Zeit reichte kaum aus, eine Wohnung in der Neustadt zu beschaffen. Von Neubauten konnte natürlich nicht mehr die Rede sein. Die Reichen waren nicht weniger ratlos als die Armen. Wer bares Geld auftreiben konnte, beeilte sich und zahlte das Dreifache, um sich eine neue Wohnung zu mieten. Aber ihrer waren nur ein Vierteil der großen Zahl Einwohner der alten Stadt Brest-Litauen; die große Masse blieb tatsächlich ohne Obdach!

Die Beratungen über den Kauf eines Hauses in der Neustadt Brest-Litauen und der bevorstehende Umzug gaben uns Kindern viele Anregungen und Beschäftigung. Mich fror bei dem Gedanken, daß ich mich bald von meinen getreuen Gespielinnen im Cheder und in unserer Nachbarschaft aus der Vorstadt (Samuchawicz) trennen müsse, mit denen wir so traulich gespielt, und daß ich nun die trauten Winkel in ihren Häusern und dem unsrigen verlassen sollte. Ich hatte so stark wie jeder Erwachsene in unserem Hause das Gefühl, daß das ganze Leben meiner geliebten Eltern eine totale Umwälzung erfahren müsse. Wir hofften jedoch, daß, wenn die Untersuchung die Verlogenheit der Denunziation erwiese, alle Schäden ersetzt würden.

Allein diese Untersuchung dauerte nicht mehr und nicht weniger als fünfzehn Jahre!… Zeit genug, einen Teil der Hausbesitzer aus ihren eigenen Wohnungen zu verjagen, zu berauben und ins größte Elend zu stürzen!

Viele wurden zu Bettlern, viele wanderten aus!

Noch jetzt steht mir eine herzzerreißende Szene jener traurigen Zeiten vor Augen, die mich mit Schauder erfüllt! Es war an einem Herbsttage jenes schrecklichen Jahres 1836, als der bewölkte Himmel wie zerschmolzenes Blei über der Erde und über den Seelen der Stadtbürger von Brest-Litauen hing. Der Nordwind blies kalt und jagte den Straßenstaub, der die gelben, abgefallenen Blätter der Bäume wirbelnd vor sich her trieb, den Fußgängern in die Augen. Ich befand mich gerade mit meiner Mutter auf dem Heimwege nach der Vorstadt (Samuchawicz). Wir mußten die kleinen, armseligen Häuschen der Nachbarschaft passieren. Da hörten wir ein Durcheinandersprechen von Jüdisch und Russisch, ein Zanken in Russisch, ein Schimpfen in jüdischem Jargon und ein lautes Weinen. Meine Mutter trat, mich an der Hand führend, näher. Es war eine ergreifende Tragödie, die sich vor uns abspielte. Der festgesetzte Termin für die Räumung war abgelaufen. Da aber die Einwohner des Hauses noch kein Obdach gefunden hatten, so glaubten die Unglücklichen, daß sie noch in ihrem alten Heim würden bleiben können. Aber sie irrten sich. Die Polizei schickte ihre Beamten mit dem Befehl, auf die Räumung zu drängen und im Falle des Widerstandes die Hausbesitzer buchstäblich aus ihren Häusern zu verjagen! Dieser harte Befehl wurde gerade ausgeführt, als wir in das Häuschen eintraten. Die Wirtin, eine kranke, abgehärmte, magere Frau mit verzerrtem Gesicht packte ihr Hab und Gut in einen alten, grün angestrichenen Kasten. Ihr hochbetagter Mann hielt das kleinste Kind auf seinem Arm. Neben ihm standen noch zwei Kinder, ein Junge von etwa neun Jahren und ein Mädchen von sechs Jahren, deren Händchen und nackte Füße blaurot gefroren zitterten, denn die dürren Leiber waren nur mit Lumpen bedeckt. Auf dem Tische lag ein halber Laib Brot. Im Ofen brannten, vielmehr räucherten, einige Holzscheite, auf denen das armselige Mahl kochte. Die Familie wollte gerade essen, da erschien der Höllenbote und erklärte, daß hier für die Einwohner kein Raum mehr sei. Ja selbst diesen einen Tag sollten sie nicht wagen, hier zu bleiben.

Da war keine Zeit mehr für das Mahl, und rasch ging es an das Zusammenpacken und Zusammenraffen! Selbst in der ärmsten Wirtschaft haben so manche Stücke, so lange sie von ihrem Fleckchen nicht entfernt werden, noch ihren Wert. Wenn man sie aber von ihrem Orte rückt, zerfällt, zerbricht das abgenutzte Zeug. Und wohin sollten diese Armen ihre armselige Habe bringen, wenn sie noch kein Obdach hatten? Waren sie doch jetzt kaum imstande, eine kleine Komerne (Schlafstelle) zu mieten.

Die Frau füllte unter Seufzern, Klagen, Schreien und Fluchen ihren Kasten zur Hälfte mit ihren Armseligkeiten und nahm dann die Kleine vom Arm ihres Mannes. Der Alte aber begann nun, seine Schätze einzupacken – die großen und kleinen Folianten des Talmuds, die Gebetbücher, die damals jeder Jude, mochte er noch so arm sein, besaß – und dieser Mann war ein Hausbesitzer! Bald kam die Chanukalampe an die Reihe, die vier messingnen Sabbathleuchter der Frau, der Hängeleuchter, die Schabbeskleider, der lange Kaftan, der seidene Gürtel und der Streimel (Pelzmütze). Das übrige Hausgerät, das Wasserfaß, der wurmstichige Eßtisch, hölzerne Bänke, mehrere Holzstangen usw. wurden auf die Diele geworfen, und die Armen stolperten einmal über das andere darüber. Es war furchtbar! – Meine Mutter stand mit mir an der Tür und sprach diesen Unglücklichen Mut und Gottvertrauen zu und suchte auch die Wut des Polizisten zu dämpfen, der dann auch bald fortging.

Meine Mutter erinnerte an die Bilder, die, im Trubel vergessen, an der Wand hingen. Da waren Moses mit den heiligen Tafeln auf dem Berge Sinai, Jacob mit seinen zwölf Söhnen, die zwölf Stämme des jüdischen Volkes, und ein Bild der Menorah, jenes siebenarmigen Leuchters, der im Tempel zu Jerusalem stand. »Misrach« war dem Bilde aufgedruckt (auf deutsch Osten), denn nach Osten gerichtet stand jeder Jude beim Gebet. In ähnlichen Bildern suchte der damalige Jude seine Tradition, seine einstige Glanzperiode seiner Nachkommenschaft zu erhalten! – Der Wirt erhob bei dieser Ermahnung seine Augen, wollte die Bilder herunternehmen, aber die Wirtin schrie mit tränenerstickter Stimme zu ihm hinüber: »Sollen sie hier bleiben, diese Bilder!! Wozu haben wir sie schon nötig in der Komerne? Es ist aus mit uns! Ich bin nicht mehr Wirtin; du nicht mehr Wirt; wir haben kein eigenes Winkelchen mehr; sollen auch diese Bilder zum Teufel gehen, wie unser Hab und Gut! O Gott, warum hast du mich diesen Churben (Zerstörung) erleben lassen!«

Der Alte packte geduldig weiter. Und als er seine traurige Arbeit zu Ende gebracht hatte, holte er einen Bauernwagen und lud seine Habe auf: den grüngestrichenen Kasten, der das wichtigste Gerät in sich barg, die langen hölzernen Stangen und das Bettzeug, worin man die drei vor Kälte zitternden Kinder bettete. Eine zerlumpte, wattierte Decke wurde über den Plunder geworfen. – Der Mann, als der stärkere Teil, hatte noch den Mut, sich in den wüsten Räumen umzuschauen, fand aber nichts mehr, das fortzubringen sich gelohnt hätte; dann hob er mit Fassung und beherzt die Fenster, die Türen und Fensterläden aus den Angeln und trug sie auf den Wagen. »Dafür werde ich doch einiges Geld bekommen«, sagte er.

Verlassen stand das Haus ohne Türen, ohne Fenster da – wie eine Witwe. Ein Anblick, noch viel packender als der einer Brandstätte. Die Wolken schauen hoch hinein, und der Herbstwind jagt heulend durch die toten Räume.

Und langsam führte über die ungepflasterte Landstraße das bis zu den Rädern in den Kot eingesunkene Gefährt die gebrochenen, verzweifelten Insassen in eine hoffnungslose Zukunft nach der Neustadt.

Meine Mutter rief den Armen ein inniges »Gotthelf« auf den Weg. Die Wirtin gab ein »Seid gesund« zurück. Der Mann weinte. Die Kinder aber begleiteten mit lautem Geschrei diese Szene, keiner dachte daran, sie zu beruhigen, denn die Trauer dieses Momentes umschnürte alles Sinnen. Auch ich fühlte, daß hier sich ein furchtbares Geschick vollzog, und Träne um Träne quoll mir aus den Augen.

Daheim erzählte meine Mutter die eben erlebte Szene, und Schwermut legte sich auf alle Hausgenossen. Ein jeder hatte das schmerzhafte Empfinden, daß uns bald, vielleicht schon morgen, ein ähnliches Schicksal kommen könnte.

Meine verheirateten Schwestern wußten wohl, daß sie fernerhin nicht mit den Eltern zusammen wohnen konnten, da der Vater sein ganzes Vermögen mit den liegenden Gütern verlieren würde. Sie mußten daran denken, sich selbst Wohnungen einzurichten. Eine neue Aufgabe, die ihnen bis jetzt fremd und unbekannt war, trotzdem eine jede schon eine Familie, einige Kinder hatte. So sorgenlos, so gemütlich war hier im Elternhause das Leben mit Mann und Kinderchen. Und nun sollte alles anders werden! – Die Sorge legte sich wie zentnerschwerer Stein auf aller Herzen, obwohl die Behörde im Vergleich zu den anderen Stadtbürgern meinen Vater in dieser schrecklichen Zeit ohne jede Strenge behandelte. Von Zeit zu Zeit nur fragte man ihn, wann er nach der Neustadt ziehen würde, worauf er nur sagen konnte, daß er noch kein Haus gekauft hätte. Aber auf die Dauer konnten uns die Beamten selbst beim besten Willen nicht in der Altstadt wohnen lassen.

Eines Morgens kam mein Vater aus der Neustadt und erklärte, er wolle vorläufig nur eine Wohnung mieten. Er hatte auch eine gefunden; die Mutter solle sie sich ansehen. Wenn sie ihr gefiele, so könnten wir schon in kurzer Zeit nach der Neustadt übersiedeln. Ich hörte mit größtem Interesse zu. Trotz der traurigen Szenen bei der Übersiedelung unserer Nachbarn empfand ich doch eine gewisse, frohe Erregung bei dem Gedanken an die großen, bevorstehenden Veränderungen. Wo die Erwachsenen schaudernd an die Mühe und Unbequemlichkeit eines Umzuges denken, hat es für Kinder besonderen Reiz und Behagen, in eine neue Wohnung zu ziehen. Vor den leeren Räumen möchte der Große fliehen, indessen jedes Kind mit Lust darin umherspringt und lustig auf das Echo seiner lauten Worte lauscht.

Meine Mutter begab sich mit einer der älteren Töchter auf die Neustadt und besah die Wohnung. Sie mußte ihr gefallen.

Und bald ging es ans Packen und Zusammenräumen. Viele Stücke unseres reichen Mobiliars mußten verkauft werden, da die kleinen Räume in der Neustadt sie nicht alle hätten aufnehmen können. An einem Dienstag sollte der Umzug nach der Neustadt vor sich gehen. Zuerst sollten meine verheirateten Schwestern mit ihren Familien übersiedeln.

Der festgesetzte Tag kam heran. Wir frühstückten noch alle beisammen – zum letzten Male! – am elterlichen Familientische. Alle schwiegen beredt, übermannt von Gefühlen, die sich durch Worte schwer ausdrücken lassen! Die Trauer dieses Momentes war inhaltsreich. Die neue Situation war schwerer als ein Feuerschaden zu ertragen. Hier waltet die Wucht der Elemente – die Hand, die wir anbeten, auch wenn sie zerstört! Aber Haus und Hof in dem besten Zustande zu verlassen und aus trauter Heimlichkeit der Ungewißheit einer dunkeln Zukunft entgegen zu gehen, ist die Qual aller Qualen!…

Nach dem Frühstück wurden die Wagen aufgeladen mit den Möbeln meiner Schwestern. Meine ältere Schwester, Chenje Malke Günzburg, wurde behutsam auf die Straße geführt, da sie erst vor kurzem ein Töchterchen geboren hatte. Das kleine, zarte Wesen wurde in Polsterchen, Deckchen eingebettet und in den Wagen gebracht, wo noch die zwei älteren Kinderchen saßen. Als wäre es gestern gewesen, steht mir das Bild vor Augen, wie die alte Kinderwärterin Raschke das Kindchen in den leeren Zimmern aus der Wiege hob, um es meiner Schwester in den Wagen zu bringen; viele heiße Tränen liefen ihr die gerunzelten Wangen herunter....

Von diesem Tage an hörte das patriarchalische Leben im Hause meiner geliebten Eltern auf! Es löste sich ein Glied des Hauses nach dem anderen ab.... Es kamen weit andere Zeiten, als wir bis jetzt gelebt hatten und niemals wieder kamen wir Kinder so alle unter des Vaters unumschränkter Leitung zusammen.

In jenen Tagen war es auch, da der jüdische Friedhof nach der Neustadt überführt wurde. Mit Bestürzung und Entsetzen vernahm die jüdische Gemeinde in Brest, daß die Erde, in der viele Tausend Menschengebeine seit Jahrhunderten ruhten, für die projektierten Festungsbauten verwendet und daß der alte Gottesacker mit seinen uralten Gedenksteinen demoliert werden sollte. War die Zerstörung der Altstadt von Brest ein finanzieller Ruin, so wirkte diese Kunde von der Entweihung der Gräber geradezu vernichtend auf die Gemüter. Vergebens waren alle Bemühungen, Bittschriften, das Flehen, man möge die Toten ruhen lassen. Umsonst, die Behörde blieb unerbittlich wie das Schicksal und befahl die Räumung des Friedhofes.

Und es geschah.

Die ganze jüdische Bevölkerung mit dem Rabbiner, Reb L. Katzenellenbogen an der Spitze, vermehrte ihre Gebete und die Fasttage. Es half alles nichts. Man mußte sich schließlich dem grausamen Befehl fügen. Es wurde ein Tag festgesetzt, an dem dieses noch nie erlebte Leichenbegängnis von vielen Tausenden vorsichgehen sollte. Die ganze Judengemeinde, jung und alt, reich und arm, fastete an diesem Tage. Jeder wollte an der schweren Arbeit teilnehmen. Nachdem die Männer, auch viele Frauen, in der Synagoge in der frühen Morgenstunde – es war an einem Montag, wie ich mich entsinne – mit zerknirschtem Herzen gebetet hatten und der Abschnitt in der heiligen Rolle vorgelesen war, begab sich die Gemeinde auf den alten Gottesacker und verrichtete auch da Gebete. Man las Psalmen, bat die Toten um Vergebung, wie es sonst bei Bestattungen üblich und ging an das traurige Werk.

Einer der schrecklichsten Flüche bei den Juden lautete: »Die Erde soll deine Gebeine herauswerfen!« Und so sah man den furchtbaren Fluch an diesen Gebeinen sich vollziehen!…

Schon einige Tage vorher hatte man Säckchen aus grauer Leinwand angefertigt, die dazu bestimmt waren, die Überreste der Toten aufzunehmen. Und diese kleinen Säckchen genügten vollkommen, den ganzen Menschen zu bergen, der einst im Leben so stolz, so selbstbewußt, so unersättlich, so unermüdlich im Wünschen und Begehren war – das alles wurde nun zu einem Häuflein Staub, kaum eine Last für eine Hand.

Die ganze Gemeinde beteiligte sich daran, den Inhalt der aufgeschaufelten Gräber in die Säckchen zu schütten, mit einem dicken Bindfaden zu verschnüren und dieselben auf die bereitstehenden Wagen zu schichten. Hier gab es keinen Unterschied, Rang und gesellschaftliche Stellung kamen nicht in Betracht. Alle waren gleich. Die ganze Volksmenge war bei dieser Handlung tief ergriffen. Hier trauerte nicht eine Familie um einen Angehörigen, sondern eine ganze Bevölkerung um ihre geschändeten Toten.

Endlich waren alle Gräber ausgehoben, viele Wagen mit dem leichten und doch zentnerschweren Inhalt beladen und mit schwarzen Tüchern bedeckt. Der Kantor stimmte ein Gebet an, sagte Kadisch (das übliche Totengebet), und der große Kondukt setzte sich in Bewegung. Viele folgten dem Zuge den langen Weg von der Altstadt in die Neustadt barfuß. Ein solches Leichenbegängnis war noch nicht dagewesen. Die Regierung hatte Militär gestellt als Ehreneskorte, zum Teil vielleicht auch darum, weil unter den ausgegrabenen Leichen sich viele Opfer einer großen Epidemie befanden. Die Soldaten schritten mit geschultertem Gewehr dicht neben den Wagen; die Bürgerscharen folgten in tiefem Schweigen.

Auf dem neuangelegten Friedhof, bei dem Dorf Bereswke – sechs Werst von der Altstadt – wurden die Säckchen mit den Gebeinen derjenigen, auf deren Gräbern man keine Leichensteine vorgefunden hatte, in Massengräber versenkt, während die Überreste der anderen in einzelnen Gräbern beerdigt wurden, auf die man die alten Steine wieder setzte. Da kann man noch heute die hebräischen Inschriften lesen, die einige Jahrhunderte zurückführen. Der Grabstein des Rabbiners Abraham Katzenellenbogen lautet in der Übersetzung:

»Hier ruht der große Rabbi, unser Gaon und Lehrer Abraham ben David des gewesenen Rabbiners in Brest, Litauen, gestorben 1742.«

Auf einem anderen Leichenstein liest man:

»Öffnet die Tore und lasset den Gerechten eintreten! Hier ruht der berühmte Gaon, der heimgegangene Josef ben Abraham, sein Andenken sei gesegnet. Möge seine Seele im Reiche des Ewig-Lebenden aufgenommen sein!«

Die Jahreszahl ist verwischt. Auf einem anderen Steine steht:

»Hier ruht der außerordentlich tugendhafte Rabbi und Prediger, unser Lehrer und Leiter, Kiwe's Sohn Moses, verschieden Montag, am Vorabend des Versöhnungstages 5591 nach Erschaffung der Welt. Er ist hingegangen, wo das Licht seiner Weisheit ewig leuchten wird.... Er spricht zu uns in seinen Werken und lebt nach seinem Tode fort.... Der Duft seiner blumenreichen Sprache ist unvergänglich.«20

Es dunkelte bereits, als die Massen-Beerdigung auf dem neuen Friedhof zu Ende war. Nach dem vollbrachten Werk zerstreute sich die Menge wieder lautlos.

An diesem Abend herrschte in unserem Hause große Trauer. Meine Eltern standen unter dem tiefen Eindruck dieses schweren Tages.

Im Innersten bewegt, waren sie stumm und in sich gekehrt. Es wurde nicht gesprochen, man hörte keinen Laut. Alle waren mit ihren Gedanken über den Tod und die Vergänglichkeit des irdischen Lebens beschäftigt.

Die Stadt Brest konnte an diesem Tage viele Heilige aufzählen, die alles Irdische vergaßen und dessen Vergänglichkeit erkannten.

Vielleicht, daß dieser schwere Tag sich lähmend auf die Schwungkraft meines teuren Vaters legte. Er hat sich eigentlich von dem schweren Schlage, der ihn von seiner Scholle riß, nie recht erholt.

Nach fünfzehn Jahren vieler schwerer Prozesse bekam mein Vater von der Regierung eine ansehnliche Summe Geldes für seine liegenden Güter. Aber er war ein alter Mann, seinen Geschäften entfremdet und ein rechter Bankdrücker geworden – ein Gelehrter, dessen Tätigkeit nur in seinem Studierzimmer an Talmudfolianten fruchtbar werden konnte.

Es gab wohl noch mancherlei Aufträge für den Festungsbau. Aber es war, als wäre der Vater aus seiner Wurzelerde herausgerissen – es wollten keine Früchte mehr reifen.

20.Die Inschriften der Grabsteine sind dem Werke von Mayer Jechiel Halter: »Die berühmte Stadt Brest« entnommen.