Krawattennazis

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Krawattennazis
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Krawattennazis
Peter Langer


© April 2021 OCM GmbH, Dortmund

Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Personen.

Umschlagmotiv: Bildmaterial © Evgeni Tcherkasski auf Pixabay

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-87-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

1  Prolog

2  Kapitel 1

3  Kapitel 2

4  Kapitel 3

5  Kapitel 4

6  Kapitel 5

7  Kapitel 6

8  Kapitel 7

9  Kapitel 8

10  Kapitel 9

11  Kapitel 10

12  Kapitel 11

13  Kapitel 12

14  Kapitel 13

15  Kapitel 14

16  Kapitel 15

17  Kapitel 16

18  Kapitel 17

19  Kapitel 18

20  Kapitel 19

21  Kapitel 20

22  Kapitel 21

23  Kapitel 22

24  Kapitel 23

25  Kapitel 24

26  Kapitel 25

27  Kapitel 26

28  Kapitel 27

29  Kapitel 28

30  Kapitel 29

31  Kapitel 30

32  Kapitel 31

33  Epilog

34  Wahrheit, Dichtung und Dank

35  Über den Autor

Prolog

Der Traum kommt im Herbst wieder häufiger. Er kann die Männer auch dieses Mal nicht sehen. Er kann sie nie sehen. Aber ihre Schreie hören. Markerschütternde Schreie, die so gellend sind, wie nur ein Mensch schreien kann, der weiß, dass er stirbt. Schreie, die nicht zu dem sonst martialischen Auftreten der Fedajin der Hisbollah-Brigaden und ihrer ständig propagierten Todessehnsucht passen. Wenn der Zeitpunkt wirklich da ist, sieht doch manches anders aus. Wie ein letztes Aufbäumen, bevor alles schwarz wird. Er kann den Hubschrauber hören, das schwere, wuchtige Schneiden der Rotorblätter gegen den Luftwiderstand, das hohe Kreischen der Turbine, den blau auslackierten Davidstern am Heck, das Rattern der automatischen Bordwaffen und das Einschlagen der Projektile in die jahrhundertealten Sandsteinmauern des Dorfes. Für einen Augenblick, einen Bruchteil einer Sekunde, sieht er auf, sieht das dunkel glänzende Helmvisier des Bordschützen in der Sonne funkeln. Wie bei einem entmenschlichten Wesen. Er spürt sich laufen. Nur weg von hier. Ein hinter einem Mauervorsprung kniender Unteroffizier in der olivgrünen Felduniform der Zahal, der isrealischen Verteidigungsstreitkräfte, mit stumpfnasigem Sturmgewehr im Anschlag, Tarnnetz auf dem Helm und schwarz verschmiertem Gesicht schreit ihn an: „German! Keep your ass down!“ – doch er läuft weiter, atmet Staub, schmeckt Schweiß, Diesel, verbranntes Kerosin und den unverkennbaren Gestank von verbranntem Schießpulver. Er weiß, was als nächstes kommt. In parallelem Anflug zischen zwei Raketen über ihn hinweg mit bläulich weißen Flammenschwänzen auf ihr Ziel zu, einen baufälligen Schuppen etwa hundert Meter die Straße hinunter. Ein Blitz, der gewaltige Explosionsdonner nach der Hitzewelle, dann ein Feuerball, der für einen Augenblick sogar die Morgensonne verdunkelt. Die Druckwelle reißt ihn beinahe von den Füßen. Er stolpert nach vorne, Taubheit in den Ohren, ein durchdringendes Pfeifen scheint tief aus seinem Inneren zu kommen. Steine schlagen vor ihm auf dem Boden auf und noch etwas anderes, das beim Aufprall auf dem Boden ein klatschendes Geräusch verursacht. Er wird immer atemloser, das Herz scheint sich seinen Weg durch den Brustkorb und den Hals freizusprengen. Er weiß nicht mehr, was passiert ist. Er weiß gar nichts mehr. Dann ist alles vorbei.

Er wacht auf und sieht: Holzlatten an der Decke. Ein Raum, eine andere Zeit, fast scheint es ein anderes Universum. Am Abend zuvor hat er vergessen, die Heizung etwas höher zu drehen, sein Atem kondensiert in der kalten Luft zu feinem Dunst. Der Nachbar fährt gerade vom Hof. Autoscheinwerferlicht huscht über die Wand. Wochenendfrühschicht bei der Conti in Korbach, der nächsten Kreisstadt. Seit August ist die Kurzarbeitsregelung wieder aufgehoben. Ein Segen für die Familie mit der kleinen Tochter.

Er schlägt die Bettdecke zurück und steht auf, nachdem er minutenlang auf der Bettkante gehockt und darauf gewartet hat, wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Erst der Duft von frischem Kaffee bringt ihn zu klarem Verstand. Er wird diesen Traum nicht los. Ein Blick durch den Gardinenspalt nach draußen. Ein weiterer trüber Herbsttag bricht an. Die trübe Jahreszeit hat den Sommer in diesem Jahr früh abgelöst. Er hofft auf noch einige sonnige Oktobertage und einen späten Wintereinbruch.

Kapitel 1

Die hintereinander aufgereihten Einsatzfahrzeuge waren schon von Weitem zu erkennen. Die Blaulichter, noch eingeschaltet, überzogen die Böschung des Hangs mit flackerndem Licht. Unten im Tal, knapp hinter einer Hangwelle verborgen, auf der einige neugierig herüberschauende Kühe regungslos standen, lag der Diemelsee unter einer Nebelschicht. Die Morgensonne hatte Mühe, die dichten Schleier am Himmel zu durchdringen, doch ab Mittag würde es vielleicht ein schöner Tag werden.

Für Stefan Emde aber würde dieser Tag nicht schön werden. Der Hauptkommissar wusste es instinktiv und fluchte leise, als er aus seinem Wagen stieg. Wie ein Karnevalsumzug, dachte er mit Blick auf die fünf Polizeiautos. Für einen Sonntagmorgen hatten sie ganz schön aufgefahren. Da könnte man ja gleich eine schriftliche Einladung an die Presse senden. Eine Begrüßung an den nächsten, blau uniformierten Kollegen, der sich diensteifrig näherte, sparte sich der schlecht gelaunte Beamte des K10 der Polizeidirektion Waldeck Frankenberg dann auch. Ein gebelltes „macht die verdammten Lichter aus“ musste erst mal reichen. Für Höflichkeiten war es nie zu spät, oder? Er stapfte über die feuchte Wiese auf einen Hochsitz zu – unverkennbar der Fundort. Der Bereich ringsum war großräumig mit rot-weißem Flatterband und dem Hinweis „Polizeiabsperrung“ abgeriegelt. Emde hatte sich immer schon gefragt, ob das nun für die Polizei oder das abgesperrte Areal gelten sollte. Die weißen Papieroveralls der Kollegen von der Spurensicherung hoben sich deutlich vom Grün der Wiesen ab. Ein weiterer ihm nicht bekannter Beamter, ein Hauptmeister, wie Emde kurz mit Blick auf die vier blauen Sterne auf den Schulterklappen registrierte, hob ihm das Flatterband hoch und nickte kurz.

Jürgen Meistermann, Leiter der SpuSi, hatte ihn bereits entdeckt, stand wie herbeigezaubert neben Emde und schwieg zunächst. Fragen würde es später noch genug geben. Meistermann machte sich andächtig Notizen auf einem Klemmbrett. Emde blickte sich langsam um. Die Tatortgruppe war bereits zuvor eingetroffen und ohne viel Federlesens an die Arbeit gegangen. Markierungsfähnchen auf dem Erdboden standen in unterschiedlichen Abständen zum etwa vier Meter hohen Hochsitz – ein mit Teerpappe verkleideter Holzverschlag auf einem Holzgerüst mit Leiter. Ein Mitarbeiter Meistermanns, wie sein Chef ebenfalls in weißem Papieranzug, goss gerade einige Meter weiter eine Verbundmasse aus Gips und Silikat in eine Bodenvertiefung. Dort hatten sie offenbar einen Fußabdruck oder eine Reifenspur ausgemacht. Emde fragte sich nicht zum ersten Mal, ob diese Papieranzüge auch unter freiem Himmel überhaupt Sinn machten, aber anscheinend betrachteten die Kollegen diese Dinger als ihre Art von Uniform. Verdammt, waren sie damit nicht sogar mal zum Altweiberball im Präsidium erschienen?

 

Emde schaute wieder zum Hochsitz hinauf. Die ansonsten mit Riegel und Vorhängeschloss gesicherte Tür stand einen knapp handbreiten Spalt auf. Emde sah im Inneren an der gegenüberliegenden Wand aus rohen Holzlatten Blut in dünnen Schlieren herablaufen. Und noch etwas anderes, grau-weißliches, etwas zähflüssiger als Blut. Er warf dem Chef der SpuSi einen fragenden Blick zu, der antwortete sofort, den Blick instinktiv, durch lange Jahre der Zusammenarbeit geschärften Verstand, aufnehmend: „Carl Lieberknecht, 67 Jahre, ursprünglich aus Dortmund, dort noch Hauptwohnsitz, hielt sich aber lieber hier am Diemelsee auf. Hatte eine Jagdhütte drüben in Giebringhausen. Passionierter Jäger. Kopfschuss. Offenbar sofort tödlich. Die Schüsse kamen nach einem ersten Blick auf die Leiche, und wenn er aufrecht gesessen hatte, von dort.“ Meistermann wies mit seinem Kugelschreiber in der behandschuhten rechten Hand über ein Feld hinweg auf den knapp 400 Meter entfernten Waldrand. Dahinter erhob sich dichtes, scheinbar undurchdringliches Unterholz unter einem Tannenwald, der sich in Richtung Bergkuppe des Eisenbergs erhob, der höchsten Erhebung in der Region. „Genaueres müsste dann die Autopsie ergeben. Ein Jagdunfall war das jedenfalls nicht, Suizid ist auch ausgeschlossen, seine drei Schusswaffen, die er da oben hat, wurden nicht abgefeuert.“ Und nach einer Pause: „Da hat jemand genau gewusst, was er tut.“

Emde nickte mit ungläubigem Staunen. Das war nicht die Art von Fall, mit dem er eine Woche beginnen lassen wollte. Und genau genommen hatte er in seiner Karriere als Polizeiermittler noch nie eine Arbeitswoche so beginnen müssen. Nichts an dem Anruf, der knapp 25 Minuten zuvor bei ihm eingegangen war, hatte auf so etwas hingedeutet. Emde hatte eher auf einen Jagdunfall getippt. Und vielleicht auch etwas gehofft. „Willst du sagen, er wurde durch das geöffnete Visier des Hochsitzes erschossen?“ Meistermann nickte düster und blickte sich vorsichtig um. Musste ja nicht sein, dass direkt jeder Kollege diese Information mitbekam. Polizei und Dienstgeheimnis hin oder her, so etwas verbreitete sich schnell, war rasch im vertrauten Kreis Familien oder Freunden erzählt und dann nicht mehr einzuholen. „Aus dieser Distanz?“ Wieder ein Nicken.

Emde wurde blass. Auch das noch. Das Werk eines Profis. Wer sonst sollte so etwas hinkriegen? Was er immerhin wusste: Auftragsmorde dieses Kalibers waren äußerst selten in Deutschland. Er konnte sich nicht erinnern, dass es in Nordhessen jemals eine solche Tat gegeben hatte. Abgesehen vom Mord am Regierungspräsidenten in Kassel vor einigen Jahren. Die Tat wurde nie vollkommen aufgeklärt. Der Mörder war zwar verurteilt, die Zweifel an seinem Alleingang blieben jedoch – alle Untersuchungsausschüsse hatten keine Klarheit bringen können. Die Menschen rings um den beschaulichen Diemelsee, die in den abgelegenen Dörfern beinahe noch in dem Zeitalter verankert waren, in dem man die Kinder von der Straße holte, wenn ein fremdes Auto nahte, würden jedenfalls begeistert sein bei der Vorstellung, dass ein bezahlter Killer in der Gegend war. Was er andererseits nicht zuletzt aus abendlichen Fernsehkrimis wusste: Diese Art Klientel von angeheuertem Auftragsmörder kam, erfüllte den Job und verschwand dann in der Regel rasch, ohne weiteren Ärger zu machen. Um dann, vermutete Emde, in vielen Fällen selbst für immer zu verschwinden, wenn es wirklich ganz große Aufträge waren. Er hatte jedenfalls noch nie mit so etwas zu tun gehabt. Sie mussten nun schnell sein. Eine Sonderermittlungsgruppe würde gebildet werden müssen. Ermittler aus Kassel würden nach Korbach abkommandiert, wo es keine Mordkommission gab, er sah es bereits kommen. Emde schüttelte den Kopf.

Das mutmaßliche Mordopfer, Lieberknecht, war in der Region bekannt wie ein bunter Hund. Meistermann hätte ihn gar nicht vorzustellen brauchen. Dass der Tote der bekannte Bankvorstand war, hatte Emde schon während der Anfahrt kombiniert. Die Polizeistreife, die nach dem eingegangenen Anruf als erste vor Ort war, hatte von einem schweren Mercedes-Geländewagen mit Dortmunder Kennzeichen gesprochen, der auf einem Parkplatz in der Nähe gesichtet worden war. Metallic-Lackierung und Zusatzscheinwerfer auf der Stoßstange. Und so etwas, dachte Emde, fährt hier weit und breit nur einer: Carl Lieberknecht. Lieberknecht war reich. Keiner wusste, wie reich genau. Was aber dafür bekannt war und Inhalt vieler Thekengespräche in den umliegenden Orten: Sein Kapital stützte ein Unternehmen mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten, das es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, bisher unentdeckte Bodenschätze aufzuspüren und alte Erz- und Kohlegruben mit neuen Abbaumethoden zu reaktivieren. Seit knapp zwei Jahren wurde lebhaft und so manches Mal nicht nur mit Worten um eine mögliche Wiedererschließung einer stillgelegten Erzgrube ganz in der Nähe gerungen. Die Grube Christiane war bereits seit den achtziger Jahren ein Besucherbergwerk. Seit mehr als 50 Jahren wurde dort nicht mehr gefördert. Es gab noch einen Knappenchor ehemaliger Kumpel, ein Verein mit chronischen Nachwuchssorgen, weil die Dorfjugend anderes im Sinn hatte, als freitagsabends, auf runden Geburtstagen und Volksfesten das Kommen des Steigers zu besingen und regelmäßige Führungen an den Wochenenden anzubieten. Dem Mittvierziger Emde waren früher als Jugendlicher die regelmäßigen Schulausflüge in die feuchten Stollen unheimlich. Umso mehr verspürte er bis heute Achtung vor den Generationen von Bergleuten, die ihren kargen Lebensunterhalt in dieser Dunkelheit erschufften mussten. Noch heute gab es in den Dörfern ehemalige Kumpel der Grube Christiane, denen ihr hartes Arbeitsleben, aber auch ihr ungebrochener Geist, anzusehen war.

Vor allem die Naturfreunde und Gastronomen, die in den vergangenen Jahren viel Geld in die Belebung des Fremdenverkehrs und in den Auf- und Ausbau von Wanderwegen und Grill- und Spielplätzen gesteckt hatten, waren von dem Reaktivierungsplan des Bergwerks nicht gerade begeistert. Und die vielen Vereine, die sich liebevoll um die Instandhaltung der Freizeitanlagen kümmerten, ebenfalls nicht. Andererseits war die darbende Gegend dringend auf Arbeitsplätze angewiesen. Von der Gewerbesteuer einer prosperierenden Erzgrube ganz zu schweigen, zur Not auch auf Kosten der Steuereinnahmen durch den Fremdenverkehr, denn die ersteren Einnahmen stachen die letzteren locker aus – sofern der Weltmarkt nicht auf die nächste Rezession zusteuerte und die Nachfrage nach Eisenerz bestehen blieb. Lieberknecht, der streitbare Geist dieser Überlegungen, war nun also tot.

Emde löste sich von seinen Gedanken und registrierte, dass sich ein Leichenwagen im niedrigen Gang den Feldweg von Heringhausen hinauf quälte. Spätestens jetzt mussten die im Dorf unten vollends Bescheid wissen, dass oben auf den Wiesen nicht nur einige Stück Rotbunte gestohlen worden waren.

„Wissen wir etwas zur Tatzeit?“ Meistermann blickte wieder auf sein Klemmbrett. „Bis jetzt wenig. Laut Temperatur der Leiche dürfte der tödliche Schuss vor knapp zwei, eher zweieinhalb Stunden abgegeben worden sein. Schon kurze Zeit darauf wurde er entdeckt.“ Meistermann deutete zum Hochsitz hinauf. „Die Tür stand so offen wie jetzt und einem Landwirt ist die zusammengesackte Gestalt dort oben aufgefallen. Otto Bunse heißt der Mann. Dachte zuerst, ein Herzinfarkt hätte ihn dahingerafft. Dann ist er die Leiter hoch und hat sich das Ganze aus der Nähe angesehen.“

Emde sah etwas abseits einen Mann stehen, der offenbar dieser Landwirt war. Gott im Himmel, der Mann im Alter von knapp 60 Jahren sah wirklich so aus, wie man sich im Rest Deutschlands wohl einen Landwirt in der tiefsten Provinz vorstellen mochte: Cordhose, grobes Hemd, darüber eine Feldweste, zerfurchtes Gesicht und auf dem Kopf eine verschossene Wollmütze, wie man sie heute allenfalls noch bei den Gebirgsjägern findet – mit Metallabzeichen und zwei Knöpfen über dem Schirm. „Ein Herzinfarkt mit massivem Blutverlust, hm?“ Emde verkniff sich mit Mühe einen Anflug von spöttischem Grinsen. Er ging zu dem Mann hin, der sichtlich mitgenommen war. „Ich hab gedacht, der hätte einen Herzkasper“, begann der Landwirt zu stammeln und trat unsicher von einem Bein auf das andere. Emde machte mit beiden Händen eine Geste, die beruhigend wirken sollte und stellte sich kurz vor. Der Mann sah aus der Nähe noch erbärmlicher aus. Emde versuchte die emphatische Tour: „Fühlen Sie sich unwohl? Brauchen Sie ein Glas Wasser?“ Doch der Bauer schüttelte den Kopf. „Das an der Wand ist Hirn, nicht? Sieht beim Schlachten von Vieh genauso aus. Gütiger Herr Jesus!“ Emde sah Meistermann an, doch der schüttelte in instinktivem Verstehen den Kopf. Ein Arzt war offenbar nicht nötig. Bunse würde das Erlebte wohl durchstehen. Inzwischen trugen zwei Mitarbeiter der Gerichtsmedizin in Kassel in der Würde, die ihnen der steile Hang ließ, einen schmucklosen Zinksarg heran, öffneten ihn und schlugen Kunststoffplanen auseinander. „Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, bevor Sie den Toten entdeckten. Ein Wanderer, ein fremdes Auto vielleicht? Irgendetwas, das anders war als sonst?“ Doch Emde erntete nur ein Kopfschütteln. Der Landwirt konnte den Blick nicht von dem Geschehen lösen, das sich ihm da gerade bot. Eigentlich verständlich, dass es bis jetzt noch keine verwertbaren Spuren gab, dachte Emde. Wenn es wirklich ein Profi war und er vielleicht mit einem Mietwagen in die Gegend gekommen war, würde dieser sicher nicht in sichtbarer Nähe stehen. Der Ermittler hatte den Verdacht, der unbekannte Mörder könnte die letzte Strecke vielleicht sogar mit dem Bus gefahren sein. Getarnt als Wanderer. Mit einem sehr großen Rucksack. Vielleicht war später aus dem Zeugen noch etwas herauszukriegen. „Ich muss Sie jetzt bitten, meine Kollegen aufs Revier zu begleiten“, schlug Emde den freundlichsten Ton an, den er auf Lager hatte, und fischte eine Karte aus seiner Wachsjacke. „Rufen Sie mich an, wenn Ihnen darüber hinaus noch irgendetwas einfällt.“ Der Landwirt murmelte einen unverständlichen Abschiedsgruß und wandte sich den wartenden Uniformierten zu, die mit ihm nach Korbach aufs Revier zur Protokollierung einer Aussage fahren würden. Seinen Traktor würde ein weiterer Kollege zu seinem Hof nach Sudeck bringen. Traktor fahren, das können wir hier alle, dachte Emde nicht ohne einen Anflug von Hohn und Stolz gleichermaßen. Ihm fiel plötzlich noch etwas ein. „Herr Bunse?“ Der Landwirt wandte sich um. „Ich muss Sie bitten, über das hier nach Möglichkeit mit niemandem zu reden. Das Wichtigste ist, dass die Spekulationen nicht ins Kraut schießen, wissen Sie?“ Der Landwirt nickte, sagte aber nichts.

Unterdessen wurde die Leiche von Carl Lieberknecht aus ihrer unwürdigen Position befreit. Der Tote wurde von drei Mitarbeitern der Spurensicherung vorsichtig die Holzleiter des Hochsitzes hinuntergetragen und Emde erschrak für einen kurzen Augenblick: Der Hinterkopf des älteren Mannes war glatt weggesprengt, die entspannten Gesichtszüge schienen auf einen tiefen Seelenfrieden hinzudeuten. Der Mann musste sofort tot gewesen sein. „Jürgen, gibt es schon irgendeine Vermutung zur Tatwaffe? Was richtet so etwas an?“, flüsterte Emde und deutete auf die Blut- und Hirnmassespuren. Meistermann sah ihn an, kratze sich hinter dem Ohr und wog seine Antwort ab. „Da wollte jemand ganz sichergehen, schätze ich. Möglicherweise ein automatisches Sturmgewehr mit den entsprechenden Visierausstattungen für einen Präzisionsschuss. Ein belgisches FN, so etwas. Oder auch unser G36. Dann hast du noch einen zweiten schnellen Schuss, wenn der erste nicht sitzt. Es kann aber auch eine handelsübliche Jagdflinte gewesen sein. Auch damit kann ein guter Schütze diese Distanz überwinden. Allerdings müsste jemand einen Knall gehört haben, egal ob mit oder ohne Schalldämpfer. Normalerweise gibt es bei solchen Waffen einen scharfen Überschallknall, der lauter ist als der Mündungsknall. Ein Profi lässt den Schalldämpfer dann gleich weg und steckt sich Stöpsel in die Ohren.“ Emde pfiff leise durch die Lippen, auch angesichts der präzisen waffentechnischen Kenntnisse Meistermanns. Donnerwetter! Nicht unbedingt etwas für Sportschützen. Wer auf diese Weise aus der Distanz auf Menschen schoss, hat es in der Regel bei irgendwelchen Streitkräften gelernt. Hat auf den wirklich allerbesten Augenblick gewartet. Vielleicht sogar über Stunden Lieberknecht beobachtet. Und dann mit unglaublich ruhiger Hand abgedrückt. Gleichzeitig musste der Schütze aber auch damit rechnen, selbst gesehen und möglicherweise beschossen zu werden. Immerhin war Lieberknecht bewaffnet und hatte sich für die Pirsch mit einem Feldstecher ausgestattet. Und Emde konnte zwei und zwei zusammenrechnen, dass der alte Jäger keine Sekunde gefackelt hätte. Wie reagierst du, wenn du bei einem Rundblick durch dein Fernglas plötzlich siehst, dass eine Waffe auf dich gerichtet ist? Der Täter musste gewusst haben, wie er sich gut tarnt, wie er unsichtbar bleibt, bis er seinen Job erfüllt hatte. Seiner Meinung nach schieden damit auch die Jagdfreunde des Bankiers aus.

 

Emde wies auf die Baumreihe und den dunklen Wald dahinter. „Hat sich dort schon jemand umgesehen?“ Meistermann nickte. „Ohne Erfolg. Wir waren aber nur zu viert. Wir müssten eine Hundertschaft anfordern, die jeden Meter Waldboden nach Spuren durchsucht. Nadelholzboden mit feuchtem Untergrund ist so ziemlich das mieseste Terrain, das man durchsuchen kann, wenn du mich fragst. Durch die Elastizität der kaum verrottenden Nadeln gibt es, wenn überhaupt, nur wenig Spuren.“ Der Hauptkommissar wandte sich an den offenbar ranghöchsten uniformierten Polizisten, der während der ganzen Zeit wie ein gutmütiger Geist in einigem Abstand gefolgt war. Es war der Mann, den er zu Beginn angebellt hatte. „Leiten Sie das in die Wege?“ Ein weiteres Nicken. In Kürze würden zwei oder drei blau-silberne Kleinbusse durch Heringhausen und den Feldweg hinauffahren. Spätestens dann wäre auch die Presse hier.

Presse. Der Gedanke war gedacht. Emde zog sein privates Handy aus der Innentasche seiner Wachsjacke. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er hielt es so, dass der Chef der Spurensicherung es sehen konnte. „Hatte er auch ein Handy bei sich?“ Meistermann nickte und drehte sich mit fragendem Blick um, entdeckte dann den gesuchten Kollegen. „Jan, wo ist sein Kommunikationsknochen?“, fragte er einen seiner Mitarbeiter, der sich gleich darauf über eine Plastikwanne beugte, in der bereits mehrere Umschläge mit Klarsichthüllen lagen. Schließlich zog er eine Umhüllung heraus, in der sich ein Smartphone befand. Emde nickte zufrieden. „Ich möchte, dass ihr das Ding rasch den Technikern gebt, wenn ihr alles untersucht habt. Wir müssen wissen, mit wem er wann zuletzt gesprochen hat.“ Der Ermittler schaute wieder auf sein eigenes Telefon. Auch wenn er die Nummer abgespeichert hatte, tippte er sie immer wieder von Hand in die Tastatur. Er konnte sich die Telefonnummer von Paul Kleine gut merken. Gewohnheit ist ein zähes Biest. Emde setzte sich einige Meter von den restlichen anwesenden Personen ab. Musste ja nicht jeder wissen, was er da gerade zu telefonieren hatte. Es dauerte lange Sekunden, bis sich am anderen Ende eine gereizte Stimme meldete. Er hat wieder schlecht geschlafen, dachte Emde. Dennoch kam er direkt zur Sache. „Ein Mordfall. Toter Bankvorstand in einem Hochsitz oberhalb von Heringhausen, einige Hundert Meter vor dem Waldrand zum Eisenberg hoch. Lieberknecht, der Anteilseigner von Prospersoil. Dir sicher auch bekannt. Kannst du zur Not bei deinen Kollegen vom Lokalfunk den Adrenalinschwamm spielen?“

Es dauerte einen Augenblick, bis die Stimme am anderen Ende der Verbindung antwortete. „Wissen die schon etwas?“ „Noch scheinbar nicht. Aber der ganze Trachtenverein ist mit Musik und Blaulicht hier hinaufgezogen. Die Leiche wird gerade abtransportiert und in Kürze durchpflügt eine Suchmannschaft den Waldboden zum Hang hinauf. Kannste die Uhr nach stellen, bis einer auf die Idee kommt, beim Hessischen Rundfunk, einer Radiostation oder der Lokalpresse anzurufen.“

Emde verschwieg seine Vermutung, dass es sich um das Werk eines Profis handelte. Kleine würde noch früh genug darauf kommen. Paul Kleine am anderen Ende der Verbindung fuhr sich mit der Hand durch die vollen braunen Haare. Er war Journalist, vor zwei Jahren an den Diemelsee gezogen. Stefan Emde und er kannten sich bereits, seit sie Kinder waren. Schon damals wollte Emde Polizist werden – und Kleine zur Presse. Doch inzwischen hatte Kleine mit dem Medientrubel in seiner Heimatstadt Düsseldorf und dem permanenten Run auf die ultimative Nachricht endgültig gebrochen. Dieser ganze Zirkus der Eitelkeiten hatte ihn zuletzt nur noch angewidert. Seitdem fühlte er sich in seiner Holzhütte wohl und genoss die Ruhe – mit dem einen oder anderen kleinen Auftrag der regionalen Tageszeitungen, damit er über die Runden kam. Emde und er waren fast ein Jahrgang, da war es sicherlich noch viel zu früh für den Rückzug in eine Art selbstdefinierten Ruhestand. Doch das war Kleine egal. Was er verdiente, reichte – kombiniert mit einigen Rücklagen aus früheren Zeiten – für ein bescheidenes Auskommen. Der Journalist war mit sich im Reinen und fühlte sich wohl. Meistens jedenfalls, wenn ihn nicht die Vergangenheit durch die Nacht jagte.

Die enthirnten Jinglesprüche der üblicherweise in dieser Region gerne gehörten und eigentlich ansonsten ganz passablen Privatsender kamen ihm in den Sinn: Die besten Hits und neuesten Nachrichten! Sie hören Radio Nordhessen! Kaum vorzustellen, wie die Nachricht dort verbreitet werden würde: ‚Leute, echt Mega, was da gerade am Diemelsee abgegangen ist! Das ist der Hammer! Aber vorher noch den neuesten Hit von …‘ Er schaltete seinen Tablet-PC ein, dieser signalisierte seine Betriebsbereitschaft mit einem freudigen Fünfklang. Für 11 Uhr stand das Richtfest eines neuen Flügels der Seniorenresidenz in Bad Arolsen im Terminkalender. Die Organisatoren hatten es in ein nettes Erntedankfest mit Gottesdienst und Einsegnung verpackt. Er ahnte bereits, was ihm und allen geladenen Ehrengästen blühte. Bürgermeister Kalkhöfer würde Tränen der Freude vergießen angesichts der Abermillionen, die ein bundesweit agierender Pflegedienstleister für moderne Seniorenbetreuung in den neuen Gebäudeteil investiert hatte. Kleine schnaubte. Familien brachen auseinander, weil die Anforderungen von Beruf und eigener Karriereplanung nicht mehr kompatibel mit der Verwirklichung von Familienleben sind. Stattdessen werden Oma und Opa von einer Maschine gepflegt, wurden die Alten zur Last. Und sollte nicht heute tatsächlich ein Bespaßungsroboter vorgestellt werden, der mit leichtem Surren über die Gänge eilen, hundert Gesichter und die dazugehörenden Biografien voneinander unterscheiden und bei Bedarf die Vitalfunktionen überprüfen können sollte? Robbi, Tobbi und der Fliewatod! Nun gut, er würde schon die richtigen Worte finden und für die Lokalredaktion der Landeszeitung einen schönen Bericht schreiben.

Eine Stimme aus seinem Handy unterbrach seinen Gedankengang. „Bist du eigentlich noch da?“ Richtig, am anderen Ende wartete Emde auf eine Antwort. „Ich bin ab halb elf in Richtung Arolsen unterwegs. Vorher klingele ich bei einigen Vertrauensleuten mal durch, ob irgendetwas durchgesickert ist. Rückmeldung bekommst du dann sofort. Ich melde mich später.“ Kleine beendete das Gespräch ohne weitere Worte und holte tief Luft. Ein Sonntagmorgen kann eben auch mal so ruppig sein.

Emde auf der Wiese oberhalb des Diemelsees atmete ebenfalls durch. Er würde demnächst abends mal wieder bei seinem Freund in dessen kleinem Holzhaus vorbeischauen. Susanne würde es schon verkraften, sie wäre dann sowieso beim Yogatraining im Dorfgemeinschaftshaus. Vielleicht sollte er Kleine einen Whisky mitbringen, den er noch vorher in einem der beiden Supermärkte in Adorf kaufen würde. Irgendeinen Single-Malt. Verdammt, sie tranken einfach zu viel Alkohol in letzter Zeit. Einige Dinge würden sich wirklich ändern müssen. Emde blickte den Feldweg hinab, ließ dann den Blick hinüber zum Eisenberg gleiten. Was für eine Schussdistanz!

In seiner Hütte in Wirmighausen atmete Kleine ein weiteres Mal tief durch, schlug die Tageszeitung auf und versuchte erfolglos, sich auf die Titelstory zu konzentrieren. Lieberknecht! Man begegnet im Leben nur wenigen Menschen, denen man wirklich Schlechtes wünscht, wenn auch nicht direkt den Tod. Aber Lieberknecht, und da war sich der ehemalige Pressemann sicher, dass er nicht nur für sich selber sprach, war einer dieses Kalibers. Sie waren sich zwei, drei Mal begegnet, Kleine erinnerte sich nicht ohne ein gewisses Schaudern an diese Abende zurück. Lieberknecht hatte ihn während des kurzen Gesprächs abschätzend taxiert. Er erschien Kleine wie ein Mensch, der Stunde um Stunde damit zubringt, die Umgebung zu sondieren, die Lage zu checken, andere in Schubladen zu packen und sich dann selbst in das Ranking einzufügen – stets an oberster Stelle. Seine Eingaben im Gemeinderat waren von einer Arroganz und Eitelkeit geprägt, dass sich Kleine sicher war: Nicht nur ihm wäre beinahe übel geworden. Und dennoch: Der ehemalige Bankvorstand wurde hofiert, wurde scheinbar geschätzt. Dem großen Geld klopft man gerne auf die Schulter. Und findet immer Ausreden und Entschuldigungen. Lieberknecht war stets Ehrengast bei Schützen- und Feuerwehrfesten. Hatte er nicht sogar vergangenes Jahr drüben in Benkhausen den Schützenkönig bei den Ehrentänzen ausgebootet? Kleine erinnerte sich an fassungslose Blicke und trotzdem hatte niemand etwas gesagt, als der sprachlose Brauchtumsmonarch seiner Frau und dem Millionär beim Schneewalzer zugucken durfte. An Speichelleckern mangelte es nie, wenn Geld im Spiel war. Nun, das änderte nichts daran, dass er den Leuten hier am Diemelsee sagte, was sie gefälligst zu tun und zu lassen hatten und was der wahre Weg zu Glück und Zukunft ist. Und so etwas kommt nirgendwo besonders gut an, schon gar nicht in einer ländlichen, von Tradition und Brauchtum geprägten Region, auch wenn Lieberknecht es nicht direkt bemerkt haben sollte und es unter der Oberfläche brodelte. Also, dachte sich Kleine, den hatten ganz sicher einige auf der Rechnung. Seinem Freund standen harte Ermittlungen bevor, denn die möglichen Motive in diesem Fall würden eine Streuung haben wie der Schuss aus einer abgesägten Schrotflinte.