Loe raamatut: «Eine Studentin», lehekülg 4
6
Institut
Warum zum Teufel geht er nicht mit mir ins Bett?, dachte sie. Etwa wegen des Gelübdes zur Ehelosigkeit?
Dominikaner versprachen nach der Ordenslehre eigentlich nur Gehorsam, schloss das auch Keuschheit ein?
In der Vorlesung am Vormittag schien er sie kaum noch zu kennen. Ein kurzer Gruß, unmerkliches Kopfnicken. Hollando trug ein Sommerjackett und wirkte noch gebräunter als sonst; was eigentlich um diese Jahreszeit nur per Kurztrip in die Karibik möglich war – oder mittels Sonnenbank.
Irgendwie komische Vorstellung, dass er sich unter einem UV-Strahler rekelte …
Mit einem Mal wurde ihr Verlangen unwiderstehlich, sich endlich Klarheit darüber zu verschaffen, was genau er eigentlich trieb. War er mit seiner Assistentin Anna Schwartz zusammen?
An diesem Tag blieb sie so lange in der Cafeteria, bis Hollando das Universitätsgebäude verließ. Sie folgte ihm vorsichtig am Sekretariat entlang über den Vorplatz – immer in ausreichender Entfernung – und dann über die Fußgängerbrücke zum Einkaufs-Center. Hollando steuerte zielstrebig auf eine kleine Trattoria zu.
Das ist also ihr Liebesnest, dachte sie.
Es war ein italienisches Spezialitätenlokal. Rote Lederpolster, gemütliches Ambiente, trotzdem exklusiv. Die einfachste Methode, um Frauen zu imponieren.
In der Steinzeit hatten Jäger mit reicher Beute punkten können, jetzt brauchte man weder Pfeil und Bogen noch Muskeln, sondern nur noch ein ausreichendes Bankkonto und die Information, wo ein Platz zum Stelldichein zu finden war, der Eindruck machte …
Hollando nahm an einem Tisch weit von der Theke Platz. Doch zu ihrer Verblüffung bestellte er nur eine Karte. Keine Spur von Anna Schwartz.
Carolin wechselte sicherheitshalber zum Geschäftseingang gegenüber, weil es zu riskant war, dauernd durch das Seitenfenster des Lokals zu blicken.
Er bestellte nur ein kleines Gericht ohne Beilage und sah während des Essens kein einziges Mal auf die Uhr – merkwürdig …
Carolin hatte angenommen, dass er danach mit Anna ein Taxi nehmen würde, wohin auch immer. Aber stattdessen kehrte Hollando auf demselben Weg zur Universität zurück.
Was hatte das zu bedeuten?
Hollando fuhr hinauf zum Research Department of Neuroscience, wo auch ihr Arbeitskreis tagte. Durch das Oberlicht in den Türen sah sie vom Fahrstuhl aus, dass Licht im Institut brannte.
Aber nicht lange, dann verlöschte es wieder …
Hatte er sich etwa im Institut schlafen gelegt? Gab es dort überhaupt so etwas wie eine Couch? Nach ihrer Erinnerung nicht. Oder war er jetzt im hinteren Bereich, wo sich der Magnetresonanz-Tomograph befand?
War dort ihr Liebesnest?
Carolin öffnete die Außentür eines der nur fußbreiten Balkone im Treppenhaus, eigentlich nur ein steinerner Vorsprung, und beugte sich so weit übers Geländer, dass sie seitlich in die Fenster des Instituts sehen konnte.
Nirgends Licht …
Was, zum Teufel, stimmt hier nicht?
Er konnte auf gar keinen Fall die Etage verlassen haben, ohne dass sie es bemerkt hätte.
Wie alle Studenten und Mitarbeiter im engeren Arbeitskreis – und wohl auch seine Assistentin Anna Schwartz – besaß Carolin einen Schlüssel zum Institut, für den Fall, dass dort ohne Professor Hollando gearbeitet wurde.
Was, wenn sie jetzt trotz der späten Stunde einfach hineinging? Und behauptete, sie habe irgendetwas vergessen, falls sie ihn dort antraf? Ihren Hausschlüssel oder ihr Portemonnaie? Eine Seminararbeit?
Carolin schloss auf und schob vorsichtig – Zentimeter um Zentimeter – die Tür nach innen. Ihre Hand suchte nach dem Lichtschalter.
Vor ihr befand sich der runde Tisch, an dem ihr Arbeitskreis tagte. Die Durchgänge zu den beiden hinteren Räumen waren offen und besaßen keine Türen.
Sie zuckte unwillkürlich zusammen – doch dann hatte sie sich auch schon wieder in der Gewalt.
Nein, der schattenartige Umriss im hintersten Raum war kein menschlicher Körper, sondern nur die gewaltige Trommel des Magnetresonanz-Tomographen.
Sei nicht albern, Carolin … wir sind hier nicht im Kabinett des Doktor Mabuse …
Im hinteren Raum gab es keine Fenster, auch keine weiteren Türen.
An den glatt verputzten Wänden neben dem Tomographen hingen Schautafeln für die Bedienung des Geräts und Aufnahmen von ehemaligen Patienten. Rechts vor den Kleiderschränken und Regalen der Mitarbeiter standen zwei Arbeitstische mit Stühlen.
Ihr Blick wanderte nachdenklich zur Decke … nirgends eine Klappe, nicht einmal ein Umriss davon, auch keine Leiter wie in manchen Obergeschossen.
Der Tomograph wog über fünf Tonnen. Sie erinnerte sich, dass er seinerzeit wegen seiner ungewöhnlichen Größe und Schwere per Kran durch eine provisorische Öffnung in der Decke oder Außenwand gehievt worden war. Es hatte sogar in den Zeitungen gestanden, samt Foto der spektakulären Aktion.
Professorchen hat sich anscheinend in Luft aufgelöst, dachte sie ratlos.
Carolin nannte das Mädchen, das sie vor Robert in der kleinen fensterlosen Kammer hinter ihrem Schlafzimmer versteckte, Lena, weil es sich immer noch nicht an seinen Namen erinnerte. Dafür war es so anhänglich, als sei sie ihre leibliche Mutter. Es musste ein fürchterliches Gefühl sein, nicht zu wissen, was mit einem passiert war und woher man kam …
Die andere „Lena“ war die Tochter der Haushälterin ihrer Eltern gewesen. Das gleiche hellblonde Haar, dieselben wasserblauen Augen. Wenn die jüngere Lena in der Küche am Tisch saß und Sonnenlicht durchs Fenster fiel, war Carolin immer erstaunt über ihre Ähnlichkeit.
Was, wenn es einfach nur eine Tochter der älteren Lena ist?, dachte sie. Das wäre allerdings ein unglaublicher Zufall. Aber es würde erklären, wieso sie das Mädchen bei ihrem morgendlichen Lauftraining am Stauwehr entdeckt hatte. Lenas Eltern waren irgendwann auf die andere Seite des Sees gezogen, weil sie dort ein kleines Haus geerbt hatten.
„Wenn du in deinem Zimmer bist und in der Wohnung eine Männerstimme hörst, dann schließ dich ein und gib keine Antwort“, schärfte Carolin ihr ein. „Das ist dann mein Bruder Robert. Er wohnt unter uns und arbeitet bei der Kriminalpolizei. Robert müsste dich ausfragen und in ein Heim stecken, wenn man deine Eltern nicht findet. Hast du mich verstanden?“
Lena nickte zwar, aber Carolin war nicht ganz sicher, ob sie wirklich begriff, worum es ging.
„Vielleicht finde ich ja bald deine Familie.“
„Und wenn ich gar keine Familie habe?“, fragte Lena.
„Das ist unwahrscheinlich, oder?“
„Deine Eltern leben ja auch nicht mehr.“
„Aber du bist viel jünger. Irgendjemand muss schließlich für dich gesorgt haben. Ich schaue jeden Tag in die Vermisstenanzeigen.“
Lena stand vom Tisch auf und umarmte sie wieder. „Ich weiß gar nicht, ob ich hier weg will …“
„Schon gut“, sagte Carolin und strich ihr übers Haar. „Alles wird gut. Wenn wir deine Eltern gefunden haben, kommst du mich jeden Tag besuchen, versprochen?“
7
Arbeitskreis
„Religiöser Glaube ist eine Form irrationaler Gefühlsgewissheit, über deren Wahrheitswert wir keine Informationen besitzen“, sagte Professor Hollando.
Er blickte fragend in die Runde …
Ihr Arbeitskreis bestand aus dreizehn Studenten, allerdings fehlte Anna Schwartz.
Deutete das schon auf das Ende ihrer Beziehung hin? Wegen der Blamage in der Diskussion um Willensfreiheit? Weil sie eigentlich ein Dummerchen war?
Dann gehörten nur noch zwölf Mitarbeiter zum harten Kern – wie die zwölf Apostel … dachte Carolin. Und Cesare Hollando war ihr Jesus Christus.
Hollando hatte einige der begabtesten Köpfe um sich gescharrt – den bleichgesichtigen Computerfreak Lars Oberbaum, Paul den „Roboter“ mit dem Gedächtnis eines Autisten und ein ewig hüstelndes Bürschchen namens Sigmund Reck, dem Hollando eine steile Karriere in der Neurologie voraussagte.
Reck hatte gerade die Frage aufgeworfen, was wohl die Kirche von Hollandos bahnbrechender Entdeckung hielt, schon wegen der Erbsünde. Und wo blieb die christliche Moral in einer Gesellschaft, die sich von der Geißel des negativen Fühlens befreit hatte?
Christus am Kreuz ohne Schmerzen?
Stellte das nicht eine zentrale religiöse Tradition in Frage?
Carolin hätte eigentlich lieber mehr darüber erfahren, wie man den Aversio-Genetic-Toggle-Switch steuerte – das Thema des heutigen Arbeitskreises. Und gab es dabei gesundheitliche Risiken?
„Fräulein Meyers …?“, fragte Professor Hollando. „Irgendwelche Einwände?“
Carolin schüttelte unmerklich den Kopf.
„Heute ganz ohne Kommentar?“ Hollando blickte belustigt in die Runde. „Ein Datum, das wir uns womöglich notieren sollten.“
„Ihre Charakterisierung religiösen Glaubens als irrationale Gefühlsgewissheit dürfte bei strenggläubigen Dominikanern aber zu Irritationen führen“, sagte Carolin.
„Dominikaner zu sein bedeutet, dass man über unerschütterlichen Glauben verfügt?“
„Oder Zweifel für sich behält.“
„Auch eine Antwort, Carolin … meine Gewissheit begann in dem Augenblick zu schwinden, als ich entdeckte, dass ich ein Sünder wie alle anderen bin. Und dass nirgends ein Schalter für Indeterminismus zu finden ist. Wie steuert man seine Motivationen? Wie befreit man sich von den Verlockungen des Lebens?“
„Hatten Sie denn nicht kürzlich noch die Meinung vertreten, man solle aus praktischen Gründen alle Vorbehalte der neueren Hirnforschung gegen menschliche Willensfreiheit ad acta legen?“
„In der Tat hilft uns der Glaube manchmal weiter. Aber sind wir deshalb schon frei? Schauen wir uns doch nur mal genauer die Realitäten an“, fuhr Hollando fort. „Als Kettenraucher fällt es uns unendlich schwer, mit dem Rauchen aufzuhören. Und die Lust des Kinderschänders ist so stark, dass er selbst um den Preis, bestraft und gesellschaftlich geächtet zu werden, nicht von ihr lassen will.“
„Wäre denn dann nicht gerade Ihre Entdeckung des genetischen Schalters, der negative Gefühle abschaltet, ein wahrer Segen für die Menschheit?“
„Aber so bleibt immer noch die Abhängigkeit von der Lust? Als ich das entdeckte, war es der Beginn einer langen Suche nach Möglichkeiten, auch jene Gefühle abzuschalten, die so viel Leiden schaffen.“
Professor Hollando ging in den Kreis innerhalb der Tische und fuhr fort:
„Ich verrate Ihnen ein Geheimnis … meine eigentliche Suche war anfangs ein Gen-Schalter, der Sucht durch überstarke Lust abschaltet. Ich gelangte also eher zufällig zur Entdeckung des Aversio-Genetic-Toggle-Switchs.“
„Aber die Abschaltung von Suchtgefühlen blieb später auf der Strecke?“, erkundigte sich Carolin.
„Ein solcher Schalter wurde im Gehirn bisher nicht gefunden. Vielleicht befindet sich ja hier im Arbeitskreis ein künftiger Nobelpreisträger, der uns auch von dieser Geißel der Menschheit befreit? Sigmund, was halten Sie davon?“
Reck nickte hüstelnd und griff nach seinem Pferdeschwanz. Es wirkte nicht so, als wenn ihm die Herausforderung eine Nummer zu groß erschien.
„Es wäre ein wichtiger Fortschritt“, sagte Hollando.
„Ich arbeite daran …“
„Dabei denken Sie an alle Arten von positiven Gefühlen, die uns schaden, Professor Hollando?“, erkundigte sich Carolin. „Nicht nur sexuelle Perversion, sondern auch Habgier, Mordlust, Niedertracht, Lust am Bösen?“
„Genau das – und nicht weniger. Ich bewundere immer wieder Ihre Fähigkeit, Probleme auf den Punkt zu bringen, Fräulein Meyers.“
„Danke, immer aufgeschlossen für Komplimente. Besonders, wenn sie berechtigt sind …“
Gelächter in der Runde.
Ich hätte dir die Flasche Grappa doch lieber an den Kopf werfen sollen, dachte Carolin.
„Aber nun zum eigentlichen Thema unseres heutigen Arbeitskreises“, sagte Hollando. Er erhob sich und schaltete den Projektor ein.
Auf der Videoleinwand erschien ein Käfig, in dem ein Rhesusäffchen stand, die Arme ausgebreitet, den Körper fixiert.
Das Metallgerippe glänzte blauviolett wie Stahl, der geschweißt oder zusätzlich bearbeitet worden war, wohl, um ihm mehr Stabilität zu verleihen. Der Käfig konnte beliebig angeschrägt und in die Senkrechte oder Waagerechte gebracht werden. Das Tier steckte in einem Gewirr aus Infusionsschläuchen, Kathetern und Kabeln, die mit Apparaten verbunden waren. Aus dem beweglichen Arm über ihm ragte eine Bohrvorrichtung zum Auffräsen von Knochen, wie Carolin sie aus der Neurochirurgie kannte.
In seinen Kopf war eine Metallröhre einoperiert, vermutlich, um bei Untersuchungen des Gehirns weitere Schädelöffnungen zu vermeiden.
Die Augen des kleinen Affen waren geweitet vor Angst. Trotzdem wirkte sein Blick trübe und abwesend. Wäre es ein verängstigtes Kind, hätte man ihm tröstend über den Kopf streichen wollen …
Er hängt dort mit seinen ausgebreiteten Armen so hilflos wie Christus am Kreuz, dachte Carolin entsetzt.
In Brusthöhe hing ein schwarzer Kasten mit ausziehbarer Antenne, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Die Beschriftung auf der Blechwand lautete:
IMPULSGEBER
Unter dem Brustbein des Affen befand sich ein röhrenartiger Drehverschluss mit Schlauchverbindungen zu einem Ständer, an dem mit Flüssigkeiten gefüllte Beutel hingen.
Eine Vorrichtung, deren Zweck Carolin zunächst nicht verstand – bis sie begriff, dass der Rhesusaffe künstlich ernährt wurde …
„Schauen wir uns einmal den Nucleus accumbens im Affengehirn an“, sagte Hollando.
Er deutete mit dem Zeigestock auf seine Stirn oberhalb der Brauen, da wo gläubige Hindus einen roten Punkt tragen, das sogenannte energetische „dritte Auge“.
„Wie bei uns Menschen ist dieses nur erbsengroße Organ neben den Mandelkernen ein zentraler Bereich der Emotionen. Die Vermutung liegt also nahe, dass Eingriffe sowohl positive wie negative Gefühle beeinflussen könnten.
Unsere ersten Versuche waren noch recht primitiv. Wir injizierten Dopamin – im Volksmund auch Glückshormon genannt. Indem ich dabei die jeweils aktiven Bereiche per Bildschirmanalyse immer genauer identifizierte und einengte, entdeckte ich nahe beim Nucleus accumbens dann die Gen-Struktur des Toggle-Switchs.
Tatsächlich lässt sich dieser Schalter durch Dopamin und Stresshormone beeinflussen.
Doch die Wirkung ist zu ungezielt. Wie bei einer manisch-depressiven Reaktion geraten wir, je nachdem, einmal in Ekstase mit überbordenden Glücksgefühlen oder in tiefste Depression und Verzweiflung …“
Hollando schwieg und blickte fragend in die Runde, ob ihm alle folgen konnten.
„Mein zweiter Versuch bestand darin, den Schalter mittels sogenannter optogenetischer Methoden zu beeinflussen, wie sie unter anderem von meinem amerikanischen Kollegen Deisseroth entwickelt wurden.
Optogentik befasst sich mit der Kontrolle von Zellen durch Licht. Ihre Aktivität kann mit blauen Laserblitzen anregt und mit gelbem Licht gedrosselt werden.
Blaues Licht führt zu mehr Dopamin – also auch positiven Gefühlen – und höherer Aktivität im Nucleus accumbens. Gelbes Licht erzeugt weniger Dopamin.
Nur reagierte der Gen-Schalter nicht wie erhofft mit einer Reduzierung negativer Gefühle. Weniger Dopamin über Inaktivierung durch gelbe Lichtimpulse führte nicht auch zu weniger Suchtverhalten.
Sie erinnern sich? Das war meine ursprüngliche Intention! Sucht wird durch Lernvorgänge in realen Belohnungssituationen so stark verfestigt, dass schon der bloße Gedanke an das Sucht auslösende Objekt wieder zu einer Steigerung von Dopamin und zwanghaften Motivationen führen kann …“
„Ähnlich, wie bei starken Rauchern?“, fragte Reck.
„Ja, der Zwangsmechanismus ist bei jeder Sucht der gleiche. Ob Sex oder Esslust, Alkoholismus, Drogen oder Neigung zum Sadismus.“
„Sind Versuche an Rhesusaffen denn überhaupt vergleichbar mit Ergebnissen im menschlichen Gehirn?“, erkundigte sich Carolin.
„Meine erste menschliche Versuchsperson war eine chronisch Schmerzkranke, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch leidend, die sich freiwillig zur Verfügung stellte“, sagte Hollando. „Sozusagen als letzte Möglichkeit, um ohne dauernde Schmerzmedikamente von ihrem Leidenspegel herunterzukommen. Also eigentlich wie geschaffen für unsere Experimente mit dem Gen-Schalter. Und das Ergebnis war frappierend …
Leider genügt es nicht, wenn man die wirksamste Variante finden will, nur bestehende Schmerzen herunterzufahren. Dazu ist es erforderlich, auch künstlich starke Schmerzen zu erzeugen, um das genau Maß der Grenzwerte zur die Kontrolle von Schmerzen zu ermitteln.“
„Aber dafür wird sich kaum jemand freiwillig zur Verfügung stellen?“, fragte Carolin.
„Das ist ein Manko unserer Forschung“, bestätigte Hollando. „Ein fast unüberwindliches Manko sogar. Wir verfügen nun einmal nicht über genügend Versuchspersonen. Man kann Menschen verständlicherweise nur schwer dazu bringen, sich die Schädeldecke öffnen zu lassen, um ihr Gefühlszentrum zu manipulieren.“
„Weil die Angst vor starken Schmerzen zu groß ist?“
„Auch wegen unkalkulierbarer Risiken.“
„Aber positive Gefühle durch Dopamin fallen nicht darunter?“
„Glücklicherweise entdeckte ich bei meinen Versuchen an Affen einen anderen Weg. Der entscheidende Schritt war, anstelle von hormonellen Injektionen oder Lichtbeeinflussung elektrische Signale einzusetzen. Allerdings nicht wie bei der alten Elektroschocktherapie. Wir wollen keinen Krampfanfall auslösen, sondern beeinflussen mit minimalen Stromimpulsen unseren genetischen Schalter.
Dazu wird ein winziger Impulsgeber, nur etwa doppelt so groß wie eine Linse, ins Gehirn implantiert. Stellen Sie sich die Technik ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher vor. Je nach Impulsstärke lässt sich so beeinflussen, ob der Gen-Schalter aktiv oder inaktiv ist.
„Handelt es sich um ein ähnliches Verfahren wie bei der Transkraniellen Magnetstimulation?“, fragte Carolin.
„Nein, einfache Magnetfelder haben sich nicht als präzise genug erwiesen.“
„Und lässt sich die negative Emotionalität nur herunterfahren oder auch verstärken?“
Professor Hollando hielt inne und warf ihr einen überraschten Blick zu.
„Gute Frage, Carolin – ja, wenn wir durch unseren Impulsgeber die Aktivität negativer Gefühle zunächst auf Null absenken und dann extrem schnell auf einen höheren Wert hochfahren, entsteht proportional zur Höhe des Impulses auch mehr Negativität.“
„Also mehr Angst oder Schmerz?“
„Auch Unbehagen, Verstimmung, Depression. Der Kern des negativen Fühlens ist immer gleich, dabei wird sogar derselbe Bereich im Gehirn genutzt, wie man aus der Hirnforschung weiß.“
„Und wieso lassen sich negative Gefühle überhaupt verstärken? Ich meine, das ist doch kaum im Sinne der Evolution?“
„Unser Limbisches System hat bei diesem künstlichen Eingriff Probleme mit der Datenübermittlung. Auf so schnellen Wechsel ist es nicht eingerichtet.
Aber warum sollte man eine solche Funktion ohne Not aktivieren?“, fragte er. „Es sei denn, weil wir später im Experiment künstlich starke Schmerzen erzeugen, um das genaue Maß der Grenzwerte zur Kontrolle von Schmerzen zu ermitteln. Allerdings nur bei Bedarf.“
„Es wäre ein perfektes Werkzeug zur Folter“, gab Carolin zu bedenken. „Geheimdienste, Verbrecher, auch Perverse, könnten es missbrauchen.“
„Dazu muss man erst einmal über die erforderliche Technik verfügen.“
„Das hat man bei der Erfindung der Atombombe auch geglaubt. Aber dann bauten die Russen die stärkste jemals gezündete Wasserstoffbombe, die Zar-Bombe. Ihre Druckwelle umrundete zweieinhalb Mal den Globus.“
„Auch wenn der Vergleich – bedenkt man, worum es im Leben eigentlich geht, nämlich um Glück und Leiden – nicht ganz abwegig ist – es ehrt mich, Carolin, dass Sie meine Entdeckungen in der Neurologie mit einer theoretischen Meisterleistung wie die der Kernspaltung gleichsetzen …“
„Schauen Sie sich nur die Augen dieses armen Rhesusaffen an“, sagte Carolin. „Ist es nicht entsetzlich, wie schrecklich Tiere für unsere menschliche Hybris leiden müssen?“
„Die Regierungen haben leider Versuche an Menschenaffen verboten.“
„Forschung an Affenhirnen erlaubt oft nur Aussagen über die Funktion des Affenhirns. Will man etwas über das menschliche Gehirn erfahren, muss der Mensch untersucht werden, nicht irgendein Tier. Die menschliche Hirnrinde ist meines Wissens zehnmal so groß wie die des Affen.“
„Wegen ihrer genetischen Nähe zum Menschen wären Menschenaffen allerdings geeigneter …“
„Auch, wenn sie leiden?“, fragte Carolin.
„Das ist zunächst einmal ein moralisches Problem. Wie überhaupt die generelle Frage, was uns zu Versuchen an Tieren berechtigt. Schauen Sie in meine Publikationen, falls Sie die Frage beschäftigt.“
„Sie waren schließlich mal Vorsitzender der Ethikkommission, Hollando …“
Schweigen …
Man konnte in den Gesichtern im Arbeitskreis lesen, dass dies in den Augen einiger Studenten womöglich das Aus für Carolins Mitarbeit bedeutete.
„Menschenaffen stehen Menschen in ihren Gefühlen aller Wahrscheinlichkeit viel näher als niedere Tiere“, sagte Carolin. „Ihr Leiden könnte ähnlich problematisch sein. Schließlich finden Sie ja auch keine menschlichen Versuchspersonen für Ihre Experimente.“
„Nun, bei meinen gegenwärtigen Untersuchungen geht es ja um nichts Geringeres, als Leiden zu vermindern“, sagte Professor Hollando.
„Auf Kosten unschuldiger Lebewesen.“
„Aber wir verspeisen doch auch Tiere?“
„Wenn möglich, ohne sie zu quälen.“
„Moral ist nun einmal letztlich subjektiv, Carolin, auch wenn das dem überzeugten Moralapostel nicht gefällt. Moralische Grundsätze sind keine Beschreibungen objektiver Eigenschaften oder Prozesse, sondern lediglich Wünsche und Meinungen und hängen von individuellen Gefühlen ab. Aus dem Sein folgt niemals ein Sollen, wie ein kluger Kopf schon vor über zweihundert Jahren erkannt hat.“
„Und es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger – ja, David Hume.
Aber mit solchen Argumenten aus der Moralphilosophie arbeiten Sie auch politischen Verbrechern wie Hitler, Stalin und Mao in die Arme …“
Hollando warf ihr einen überraschten Blick zu. Schwer zu sagen, ob wegen ihres Widerspruchs oder ihrer Hartnäckigkeit.
„Wären denn nicht nach allem was wir wissen Menschen als Studienobjekte viel besser geeignet? Gingen wir damit nicht wissenschaftlich eher auf Nummer sicher?“, fragte sie.
Hollando schüttelte unwillig den Kopf.
„Was mich eher interessieren würde – neben solchen ethischen Spekulationen“, meldete sich Sigmund Reck, „wäre die Stromversorgung des Implantats, weil es so klein und unscheinbar ist.“
„Gute Frage, Sigmund. Sehen wir uns die Technik einmal genauer an … falls Sie einverstanden sind, Carolin?“
Auf der Videoleinwand erschien das Bild eines winzigen metallischen Körpers, abgeflacht wie eine Linse. Daneben der elektrischer Impulsgeber mit ausziehbarer Antenne, etwa halb so groß wie eine Zigarettenschachtel, den sie auch schon am Käfig des Rhesusaffen bemerkt hatte.
„Unser äußerer Impulsgeber funktioniert über Funk“, erklärte Professor Hollando. „Das heißt, wir benötigen keine Eingriffe ins Gehirn, weder durch Operationen, Injektionen noch Katheter.
Die Aufladung des Akkus in der Linse – die übrigens wegen ihrer sparsamen Impulse nur alle drei Jahre nötig ist – erfolgt nicht mittels elektrischer Leitungen, sondern über elektromagnetische Felder, wie wir es von kontaktlosen Ladegeräten kennen. Der Impulsgeber wird für kurze Zeit auf den Stirnknochen aufgesetzt.“
„Heißt das, jeder von uns könnte demnächst so einen Abschalter oder Gefühls-Schrittmacher in der Tasche tragen, wenn es ihm mal wieder richtig dreckig geht?“, erkundigte sich Reck. Seinem Gesicht war anzusehen, dass ihn der Gedanke begeisterte.
„In der Tat, ja – berücksichtigen Sie aber, dass negative Gefühle wie Angst, Trauer, Depression und selbst starke Schmerzen auch wichtige Funktionen im Leben haben.
Die Evolution hat sich zwar nichts dabei gedacht. Schon deswegen, weil sie gar nicht denken kann und über kein planendes Bewusstsein im teleologischen Sinne verfügt wie Gott, sondern nur determiniert ist aus den jeweiligen Fakten und potentiellen Möglichkeiten der Materie und den Kräften, also Keimen der Entwicklung sozusagen, die in den Elementarteilchen, den Schwachen und Starken Kräften – wohl auch in der Dunklen Energie und Materie –, also im gesamten Seienden, bereits angelegt sind.“
Reck nickte verstehend … aber nach Carolins Eindruck sah er nicht sehr glücklich aus über Professor Hollandos Ausflug in die Philosophie des Universums.
„Der klügere Umgang mit dem Gen-Schalter“, fuhr Hollando fort, „wäre also, ihn erst dann zu nutzen, wenn uns das Leiden über den Kopf zu wachsen droht.
Andererseits wissen wir inzwischen aus der Stressforschung, dass negative Gefühle Entzündungen und Ablagerungen begünstigen, die ihrerseits die Gefahr von Schlaganfall oder Herzinfarkt erhöhen.
Stress ist nicht einfach nur, wenn man erregt ist, sich anstrengt und belastet fühlt, wenn das Herz schneller schlägt. Wichtiger – und schädlicher – ist die permanente Alarmreaktion im Körper, durch die Entzündungen entstehen, vor allem in den Blutgefäßen.“
Carolin hatte das Gefühl, dass Hollando sich um einen wesentlichen Teil ihrer Frage drückte.
Wenn Versuche an Menschenaffen nicht ausreichten, waren dann seine Erkenntnisse überhaupt vollständig auf den Menschen übertragbar?
Aber kein Mensch – nicht einmal Studenten, die dringend Geld brauchten – würde sich leichtfertig Hollandos Experimenten aussetzen und seine Gefühle und Emotionen manipulieren lassen. Man konnte schließlich nie wissen, was dabei herauskam. Ob es bleibende Schäden hinterließ.
Woher nahm er dann seine Versuchspersonen für weitere Forschungen?
Tasuta katkend on lõppenud.