Loe raamatut: «Bildungsphilosophie für den Unterricht»

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Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht

Kompetente Antworten auf große Schülerfragen

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: Mentale Kraft-Konzept. DrAfter123 © iStock


Prof. Dr. Philipp Thomas lehrt Philosophie/Ethik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

utb-Nr. 5706

ISBN 978-3-8252-5706-4 (Print)

ISBN 978-3-8463-5706-4 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer:in werden! Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter:in für unsere Kultur zu werden! Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft: Weshalb gehört das Lehramtsstudium an die Universität?

  Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? 1.1 Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können, denn die Wahrheit ist nie fertig 1.2 Selbstdenken ist ein Menschenrecht (Kant) 1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft (Weber) 1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren

  Ist Vernunft wirklich so wichtig? 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist 2.2 Epikur: Das richtige Leben beginnt, wenn wir innerlich unabhängig werden 2.3 Auch Epiktet sieht in der inneren Unabhängigkeit und Freiheit das eigentliche Ziel 2.4 Vernunft ist großartig. Aber es gibt im Menschen auch noch anderes Großartiges

  Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? 3.1 Das gute Leben und die Unterscheidung zwischen dem für uns Guten und dem an sich Guten 3.2 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige (Jonas, Levinas) 3.3 Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht (Kant) 3.4 Das Gute tun, weil wir damit ein Gleichgewicht zwischen dem Guten und dem Unrecht, zwischen Liebe und Tod immer wieder neu erkämpfen (Camus)

  ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ – wieso gilt der Satz als weise? 4.1 Was ist gemeint mit den Grenzen des Wissens? 4.2 Sokrates bevorzugt Bescheidenheit 4.3 Unser sicheres Wissen ist begrenzt wie eine Insel (Kant) 4.4 Lyotard denkt Kants Kritizismus postmodern weiter 4.5 Nichtwissen kann etwas sehr Gutes sein, auch im ethischen Sinn: einige Beispiele

  5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? 5.1 Die Grenzen des reinen Denkens und der berechtigte Ruf nach der Wissenschaft 5.2 Wie können wir mit Szientismus und dem naturalistischen Fehlschluss umgehen? 5.3 Bildung, in die wissenschaftliche Ergebnisse eingehen

  Wozu soll intuitives Wissen gut sein? 6.1 Was heißt Intuition? 6.2 Platons Höhlengleichnis und was es heißt, etwas von innen heraus zu verstehen 6.3 Zhuangzi: Intuitives Wissen in der daoistischen Philosophie 6.4 Intuitives Wissen in unserem Alltag: Beispiele

  Kann ich durch Bildung ich selbst werden? 7.1 Die eigenen Interessen und den eigenen Willen entdecken (Humboldt, Herbart) 7.2 Meine eigenste Perspektive entwickeln (Nietzsche) 7.3 Die moderne Kultur überfordert uns und lässt Selbstwerdung durch Bildung nicht mehr zu (Simmel) 7.4 Eine Mischung aus Verschiedenem und zugleich etwas Neues sein (Anzaldúa)

  Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? 8.1 Der Kulturprozess braucht jede Stimme 8.2 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist (Foucault) 8.3 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist: Das Beispiel der ‚neuen Deutschen‘

  Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? 9.1 Marx und die materialistische Pädagogik 9.2 Klasse bestimmt über Lebensstil (Bourdieu) 9.3 Frau sein – Frau sein? (Butler)

  Weshalb sollen wir politisch sein? 10.1 Politik ist mühsam und eine milde despotische Versorgung durch den Staat erscheint bequem (Tocqueville) 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt (Arendt)

  Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? Ein großes Potenzial für jeden Unterricht: die Werte unserer Kultur besser zu verstehen (Taylor) 11.2 Die Moderne ist eine Kultur unter anderen 11.3 Wofür man die moderne Kultur kritisieren kann 11.4 Der gute Kern der modernen Werte hinter den verflachten Praktiken 11.5 Weshalb wir über unsere Werte sprechen, sie pflegen und verteidigen sollten 11.6 Die Werte der Moderne verlebendigen: eine Aufgabe für alle Lehrpersonen

  Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? 12.1 Dekolonisieren wir uns! 12.2 Miteinander fürsorglich verbunden sein: die afrikanische Ubuntu-Philosophie 12.3 Sein Leben nähren und nicht dem Glück hinterherjagen: Selbstkultivierung bei Zhuangzi 12.4 In der Liebe etwas Göttliches erfahren: Ibn Arabi und die islamische Liebesmystik

  Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren 13.1 Was ist das Gegenteil von Zynismus und Unernst? (James) 13.2 Post-Critical Pedagogy 13.3 Die Tiefe des Lebens erfahren und resonant werden für die Welt (Rosa)

  Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? 14.1 Was ist mit Herzensbildung gemeint? 14.2 Wir Menschen haben einen Sinn dafür, was anderen guttut, den Moral Sense (Hume) 14.3 Was können wir aus wissenschaftlichen Ergebnissen zur Empathie lernen? 14.4 Es kommt darauf an, unseren Sinn für das Gute auszubilden und auszudehnen auf die ganze Welt (Menzius, Wang Yangming) 14.5 An einen Menschen glauben. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben (Scheler)

  15 Statt eines Nachworts

  16 Literaturverzeichnis

Vorwort

Dieses Buch ist entstanden aus einer Wahlpflicht-Vorlesung im Modul Grundfragen der Bildung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Das Modul ist Pflicht für die Studierenden aller Lehramtsstudiengänge. Alternativ zu meiner Vorlesung zur Bildungsphilosophie kann auch eine Vorlesung zu den Grundfragen der Bildung aus theologischer oder politikwissenschaftlicher Sicht besucht werden. Das Modul umfasst noch weitere Elemente, etwa Bildungssoziologie.

Das Buch behandelt bildungstheoretische und bildungsphilosophische Fragen. Im nächsten Kapitel möchte ich veranschaulichen, worum es sich bei diesem ganz eigenen Gebiet der Lehramtsausbildung handelt: weder Fachwissenschaft noch Fachdidaktik ist das Thema, weder Erziehungswissenschaft noch Psychologie – und doch sind die Grundfragen wesentlich. Kurz gesagt geht es nicht um Fragen vom Typ: Wie gelingt der Unterricht? Und wie erreichen wir bestimmte Bildungsziele am besten? Sondern es geht um Fragen vom Typ: Welche grundsätzlichen Werte und Ziele stehen hinter unserer Arbeit im Bereich der Bildung insgesamt? Worauf kommt es unserer Kultur eigentlich an – was zählt? Es geht also um Orientierung. Es geht darum, für die Werte unserer Gesellschaft zu werben: für Werte der Freiheit und der Menschlichkeit.

Am Ende jedes Kapitels werden Möglichkeiten für die weitere Auseinandersetzung vorgeschlagen, auch für Hausarbeiten oder Bachelorarbeiten.

Das Buch ist nicht disziplin-, sondern professionsbezogen. Nicht um die Disziplin Bildungsphilosophie geht es, sondern um den Lehrberuf. Hinter dem Text stand nicht die Überlegung, von welchen ‚Ansätzen‘ Lehramtsstudierende unbedingt einmal etwas gehört haben sollten, sondern leitend war die Frage: Wie können spätere Lehrpersonen kompetent antworten auf Fragen von Schüler:innen zu den großen kulturellen Themen? Wie können sie Bildungsexpert:innen für Orientierung durch Bildung werden? Thematisch fiel die Beschränkung auf 14 Themen in kurzen Kapiteln schwer. Viele weitere Themen wären interessant gewesen, auch hätte alles mehr Tiefe verdient. Ich habe mich um Anschaulichkeit, Klarheit und Kürze bemüht – ständig begleitet von der Furcht, zu stark zu vereinfachen.

Allen meinen eigenen Lehrer:innen, Schüler:innen, allen meinen früheren und heutigen Studierenden und Kolleg:innen möchte ich in diesem Buch sagen: danke!

Hinweis für Dozierende

Das Studienbuch umfasst 14 Kapitel und kann gut die Grundlage für die Arbeit eines Semesters sein. Es ist einsetzbar in jenen Anteilen der verschiedenen Lehramtsstudiengänge, in denen es um sehr grundsätzliche Fragen geht: um Bildungsphilosophie und Bildungstheorie, um die Grundfragen unserer Kultur und um Orientierung. Die einzelnen Kapitel sind teilweise umfassender, als es für eine Doppelstunde sinnvoll ist. Dies gibt Dozierenden oder auch Studierenden die Möglichkeit, aus dem Stoff auszuwählen. Wenn die Lehrveranstaltung wiederholt angeboten wird, lässt sich so der Lehrinhalt von Semester zu Semester variieren. Dies kann auch mit Blick auf eine Abschlussklausur sinnvoll sein.

Weingarten, im August 2021 Philipp Thomas

Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer:in werden!

… wenn wir wüßten, wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen …

HÄUPTLING SEATTLE

(http://www.humanistische-aktion.de/seattle.htm)

Worum geht es?

Wie könnten wir dem Häuptling Seattle unsere Kultur erklären? Wie können wir duch Bildung Orientierung geben?

Zwar hat Häuptling Seattle (Eingangszitat) 1854 bei einer Anhörung vor dem Gouverneur des Washington-Territoriums (die Stadt Seattle ist nach ihm benannt) tatsächlich eine kritische Rede gegen die weißen Siedler gehalten. Doch die heute bekannte Version ist eine Nachdichtung aus der Ökologiebewegung der 1970er Jahre, die unseren Umgang mit der Natur kritisiert, der von Macht und Gier geprägt ist. Hat die westliche Kultur mehr zu bieten?

Auch darum geht es in diesem Buch. Doch der erste Schritt sind Ihre kritischen Fragen an Ihr Studium: Reicht es nicht, wenn Sie einfach die Fächer studieren, die Sie später unterrichten, sowie Fachdidaktik, Erziehungswissenschaft und Psychologie? Weshalb zusätzlich zu all dem noch Bildungsphilosophie? In diesem Kapitel erhalten Sie darauf eine Antwort, genauer geht es um Folgendes:

 In welchen konkreten Situationen in der Schule nützt Ihnen Bildungsphilosophie?

 Inwiefern gehört Bildungsphilosophie zur Profession Lehrer:in?

 Um welche Art von Wissen geht es in der Bildungsphilosophie – im Vergleich zu Fachwissenschaft und Fachdidaktik Ihrer Fächer und im Vergleich zum Wissen in Erziehungswissenschaft und Psychologie?

 Wie können Sie Ihren Schüler:innen Orientierung geben? Wie können Sie einführen in die Hoffnungen, Visionen und Werte unserer Kultur – die der Häuptling Seattle (Eingangszitat) nicht spüren kann?

Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter:in für unsere Kultur zu werden!

Meine Kollegin, die Kulturbotschafterin. Als ich Lehrer war, hatte meine Kollegin mit dem Fach Spanisch einen eigenen Unterrichtsraum. Alle Spanischlerngruppen mussten zu diesem Raum kommen, und sie war die Gastgeberin. Ihren Raum hatte sie nicht nur mit spanischsprachiger Lektüre ausgestattet, sondern auch mit schönen Bildern aus Spanien und Südamerika dekoriert. Ich kann mich noch an Flamenco-Kostüme erinnern, die etwas wild, aber schön an den Wänden hingen. Die Kollegin verstand sich als Kulturbotschafterin. Sie wollte ihren Schüler:innen nicht nur die Sprache beibringen, sondern auch für die spanische Kultur werben.

Nicht nur für eine Fachkultur, sondern für unsere Kultur als Ganzes werben. Egal, welches Fach Sie später unterrichten, auch Sie sind sozusagen Kulturbotschafter:innen. Zum einen vermitteln Sie Ihre Fächer und begeistern für diese. Genauso wie meine frühere Kollegin für ihr Fach Spanisch. Doch daneben haben alle Lehrpersonen noch eine weitere Aufgabe und um die geht es in diesem Buch. Ähnlich wie Eltern ihre Kinder in unsere Welt einführen, führen auch Sie Kinder und Jugendliche in unsere Welt, in unsere Kultur ein. Weshalb ist das so wichtig? Weil Kultur das ist, wovon wir träumen, wofür wir leben und was uns wichtig ist. Weil Kultur die großen Erzählungen umfasst, all das Bedeutende, wofür das Leben lohnt, und all die großen, ewig ungelösten Fragen, die wir der nächsten Generation doch weitererzählen. Der indianische Häuptling Seattle sagt im Eingangszitat, dass er den weißen Mann nicht versteht, der im Amerika des 19. Jahrhunderts Land von ihm kaufen will. Er spürt immer nur Macht und Gier und Ausbeutung der Natur. Er spürt nicht, wofür das alles gut ist: Welche Hoffnungen und Visionen gibt der weiße Mann seinen Kindern weiter? Dies Ihren Schüler:innen zu erklären, auch das gehört zu Ihrer Aufgabe.

Sie sollen Fachleute werden – auch für sehr allgemeine Fragen. Für die erste Aufgabe (für Ihr Fach begeistern) müssen Sie Expert:innen Ihrer Fächer werden. Für die zweite Aufgabe (Werbung für die Kultur als Ganzes) sollen Sie Fachleute für diese allgemeine Kulturbotschaftsaufgabe werden. Im Fachstudium erarbeiten Sie sich fachliches und fachdidaktisches Wissen. Außerdem erwerben Sie pädagogisch-psychologisches Wissen, z.B. über Themen wie Heterogenität oder Motivation. All dieses Wissen brauchen Sie für Ihren täglichen Unterricht. Doch daneben gibt es noch einen weiteren Bereich Ihrer Lehramtsausbildung und das ist die Bildungsphilosophie oder Bildungstheorie. Hier werden Sie Expert:innen für sehr allgemeine Fragen, die aber auch zur Bildung Ihrer Schüler:innen gehören und die hier, etwas vereinfacht, als Kulturbotschaftsaufgabe bezeichnet werden.

Um welche Orientierungsfragen geht es? Und was heißt das, Ihre Schüler:innen in unsere Kultur einzuführen? Die Antwort fällt leichter, wenn wir zu den Flamenco-Kostümen zurückkehren. Angenommen, auch Sie würden später einen eigenen Unterrichtsraum bekommen, so wie damals meine Spanisch-Kollegin. Wie würden Sie diesen Raum einrichten und dekorieren, um für Ihr Fach zu begeistern? Als Geographielehrer:in würden Sie allerlei Landkarten und einen Globus haben, als Kunstlehrer:in vielleicht künstlerische Objekte. Doch wie würden Sie Ihren Raum für jene andere Aufgabe schmücken, nämlich die, Ihre Schüler:innen in die großen Orientierungsfragen unserer Kultur einzuführen? Wie können Sie das veranschaulichen, wovon unsere Kultur träumt und was ihr wichtig ist? Hier kommt dieses Buch ins Spiel. Um seine Aufgabe zu veranschaulichen, dient folgendes Bild: Sie könnten große Bilderrahmen aufhängen und in diese jeweils ein großes Thema schreiben. In einem stünde Selbstdenken!, in einem anderen Vernunft! In einem besonders großen Rahmen stünde Moralisch gut sein! und in einem besonders bunten Rahmen Durch Bildung man selbst werden!

Wie soll ich diese Themen unterrichten? Vielleicht nicht so sehr als eigene Unterrichtsstunden. Orientierungsfragen gehen über Ihren Fachunterricht meist hinaus. Doch ‚zwischen den Zeilen‘ kommen diese großen Themen in Ihrer Arbeit mit den Lerngruppen laufend vor. Auch in Ihrem Verhalten, in dem, worauf Sie Wert legen und auch in den Hoffnungen und Visionen, die Sie Ihren Schüler:innen weitergeben. Daher die fiktiven Bilderrahmen. In einem stünde Ich weiß, dass ich nichts weiß, in einem anderen Die Werte unserer Kultur verlebendigen! und in einem besonders schönen stünde Herzensbildung. Jedes Orientierungsthema an der Wand Ihres fiktiven Unterrichtsraums ist ein Kapitel in diesem Buch. Und jedes Kapitel können Sie für die tägliche Unterrichtspraxis verwenden.

Ihre Schüler:innen werden nicht gleich begeistert sein. Das waren die meiner früheren Spanisch-Kollegin auch nicht. O je, so mögen sie geklagt haben, jetzt sollen wir uns auch noch für Flamenco begeistern, was denn noch alles! Und ebenso werden die Kinder und Jugendlichen kritisch sein, wenn es um die großen Orientierungsfragen geht. Ist das nicht alles bloß bildungsbürgerlicher Ballast? Werde ich durch diese ganze Kultur nicht allzu brav? Sollte ich nicht stattdessen wild und gefährlich leben? Doch wir Lehrpersonen werden jeden Tag unser Bestes geben, um unsere Schüler:innen einzuführen in die großen Fragen und Themen der Kultur. Es gilt, junge Menschen zu begeistern.

Menschliche Kultur ist etwas Kostbares. Etwas, das sich nicht von selbst versteht, etwas, das von vielen Voraussetzungen abhängt, das verletzlich ist und immer wieder erneuert werden muss. Leider auch etwas, das ganz leicht zerstört werden kann und das dann lange Pflege braucht, um wieder zu gedeihen. Sie werden später vielleicht keinen eigenen Unterrichtsraum bekommen wie meine Spanisch-Kollegin damals. Und Sie werden für die schönen, fiktiven Bilderrahmen mit den großen Orientierungsthemen keinen Platz an den Wänden haben, weil diese schon voll sind. Und dennoch: Wenn Sie und wenn alle Lehrer:innen zusammen jeden Tag nicht nur für unsere Fächer, sondern auch für die großen kulturellen Themen und Werte begeistern, dann können wir den Staffelstab später einmal an die neue Generation weitergeben. Denn dann haben wir den Kindern und Jugendlichen erzählt, „wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen“, wie es im Eingangszitat hieß (www.humanistische-aktion.de/seattle.htm). Bildung ist mehr als Information und Wissen und Kompetenz, Bildung ist mehr als Ausbildung. Nur wenn wir groß und weit denken, wird unsere Arbeit wirklich sinnvoll.

Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft: Weshalb gehört das Lehramtsstudium an die Universität?

Aber geht die Lehramtsausbildung nicht auch eine Nummer kleiner? Sollte die Ausbildung von Lehrpersonen nicht einfach an einem Lehrer:innenseminar erfolgen? Die Kluft zwischen dem, was Sie im Studium lernen und wie Sie an der Hochschule wissenschaftlich arbeiten einerseits und andererseits dem Schulstoff und seiner konkreten Vermittlung, ist sehr groß. Viele Lehramtsstudierende fragen sich, weshalb sie so viel und so grundsätzlich studieren müssen, ob in der Fachwissenschaft, ob in der Bildungsphilosophie.

Die unbedingte Universität. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004) formuliert in seiner Schrift Die unbedingte Universität: Nur die möglichst ganz frei gelassene Universität kann der Gesellschaft ein Geschenk machen, nämlich das Geschenk, auf dem Weg zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit voranzuschreiten, indem neue Lösungen zu neuen Problemen frei debattiert und immer wieder neu gefunden werden.

Hintergrund: Wahrheit heißt hier, keinem anderen Ziel oder Interesse verpflichtet zu sein, als die ursprünglichen Zusammenhänge der Dinge herauszubekommen. Wahrhaftigkeit bedeutet, das Leben der Wahrheit zu widmen und zu leben und zu handeln, wie es der Wahrheit oder der eigenen Überzeugung entspricht.

Es geht um einen Forschritt nicht nur an instrumentellem und pragmatischem Wissen. Sondern es geht um Orientierung im Bereich der ganz grundsätzlichen Fragen der Kultur. Derrida fordert,

[…] daß die moderne Universität eine unbedingte, daß sie bedingungslos, von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte. […] Was diese Universität beansprucht, ja erfordert und prinzipiell genießen sollte, ist über die sogenannte akademische Freiheit hinaus eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt. […] Die Universität macht die Wahrheit zum Beruf – und sie bekennt sich zur Wahrheit, sie legt ein Wahrheitsgelübde ab. Sie erklärt und gelobt öffentlich, ihrer uneingeschränkten Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nachzukommen. (Derrida 2016, 9f., Hervorhebung i. O.)

Die Freiheit und das Neue. Es gibt einen guten Grund, weshalb das Lehramtsstudium an Universitäten und Hochschulen stattfindet. Die Gesellschaft stattet die Universitäten und Hochschulen mit einer besonderen Freiheit aus. Der Fachbegriff lautet Freiheit von Forschung und Lehre.

Hintergrund: Im deutschen Grundgesetz, Art. 5 (3), heißt es: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Diese wird im Grundgesetz garantiert. Auf die universitäre Forschung und Lehre soll kein äußerer, etwa ideologischer Zwang wirken. Damit verbindet sich auch eine Hoffnung, nämlich dass die Universität in dieser Freiheit immer wieder neue Ideen hervorbringt. Die Freiheit ist Voraussetzung für das wirklich Neue. Die Lehrer:innenbildung soll auch deshalb an Universitäten und Hochschulen stattfinden, damit neue Impulse aus den Fachwissenschaften, aus der Fachdidaktik, aus den Bildungswissenschaften, der Psychologie und aus der Bildungsphilosophie in die schulische Bildung gelangen.

Wahrheit. Derrida sagt, die Universität sei der Wahrheit verpflichtet. Das ist ein großes Wort. Sie als Lehrpersonen arbeiten an den fachlichen und sozialen Kompetenzen der Jugendlichen, welche diesen ein gutes berufliches und privates Leben ermöglichen soll. Zugleich sollen Sie auch in der Lage sein, allgemeine Werte und Ziele zu vermitteln. Und das bedeutet, diese ins Bewusstsein zu heben, sie immer wieder neu zu diskutieren, zu kritisieren und zu verlebendigen – und dabei vielleicht auch neu zu denken. Was soll gelten? Was ist das Gute? In welche Richtung soll es weitergehen? Diese Fragen sind der Wahrheit verpflichtet. In Ihrem Beruf geht es nicht nur um Methodik, nicht nur um Praxis. Sie fragen nicht nur: Wie bringe ich meine Schüler:innen am besten von A nach B, von der noch nicht vorhandenen Kompetenz zur vorhandenen Kompetenz? Sondern Sie fragen auch: Weshalb überhaupt diese oder jene Kompetenz, weshalb ist sie das richtige Ziel, weshalb soll es gelten, weshalb erscheint es uns als wahr? Deshalb studieren Sie an Universitäten und Hochschulen.

Dieses Buch vermittelt Ihnen die Kompetenz, auf große Fragen Ihrer Schüler:innen reflektiert zu antworten. Als Lehrperson haben Sie neben Ihrem Fachunterricht auch die Aufgabe, kritisch in die Kultur als Ganzes einzuführen: in ihre Werte und großen Themen. Sie studieren an Universitäten und Hochschulen, deren Forschung und Lehre frei ist – im Dienste der Wahrheit.

Weshalb Bildungsphilosophie?

Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer:in werden!

 Bildungsphilosophie gehört zu Ihrer Professionalität als Lehrer:innen. Sie hilft Ihnen in konkreten Unterrichtssituationen: Wenn Ihre Schüler:innen kritisch nachfragen, etwa nach bestimmten Werten unserer Kultur, dann können Sie Orientierung geben und den Jugendlichen neue Türen öffnen.

 Als Expert:innen für Bildung müssen Sie auch auf diesem Gebiet kompetent sein – durch ein spezielles und vertieftes Wissen vom Allgemeinen.