Täler voller Wunder

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Täler voller Wunder
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Philipp Zwyssig

Täler voller Wunder

Eine katholische Verflechtungsgeschichte der Drei Bünde und des Veltlins (17. und 18. Jahrhundert)

Band 5 der »Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit«,

herausgegeben von Arndt Brendecke, Peter Burschel, Ulrike Gleixner und Daniela Hacke

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

© 2018 by Didymos-Verlag, Affalterbach

www.didymos-verlag.de · info@didymos-verlag.de

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Coverabbildung: Frontispiz von Wilhelm Gumppenbergs Atlas Marianus (Ingolstadt 1657). Stiftsbibliothek St. Gallen, SGST 1409

Gestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: Böckmanns Medienproduktion, Waiblingen

ISBN 978-3-939020-46-2 (Buch)

ISBN 978-3-939020-92-9 (E-Book)

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

1.1. Täler voller Wunder? Thematische Annäherung

1.2. Lokale Religion, hybride Glaubensformen und der »lange Arm Roms«: Erkenntnisse und Perspektiven der Forschung zum frühneuzeitlichen Katholizismus

1.3. Katholische Verflechtungsgeschichte: Entwurf eines integrativen Erklärungsmodells

1.4. Der rätische Alpenraum als Fallbeispiel: Inhalt, Quellengrundlage und Aufbau der Studie

2. Translokaler Katholizismus: Akteure und kommunikative Praktiken

2.1. Translokaler Katholizismus: Begriffliche Annäherung

2.2. Intensivierte Verflechtung: Die grenzüberschreitenden Beziehungsgeflechte von Bündnispolitik und rätischer Mission

2.2.1. Politisch-symbolische Verflechtung: Königliche Stifter und Schenker

2.2.2. Finanzielle Verflechtung: Die rätische Mission

2.2.3. Kulturelle Verflechtung: Ländliches Schulwesen und volkssprachliche Schriftkultur

2.2.4. Institutionelle Verflechtung: Missionsfakultäten und Bruderschaftsprivilegien

2.2.5. Fazit: Intensivierte Verflechtung

2.3. Verdichtete Kommunikation: Akteure und Praktiken der grenzüberschreitenden Informationsbeschaffung

2.3.1. Informanten und Agenten

2.3.1.1. Netzwerke der römischen Amtskirche

2.3.1.2. Ordensnetzwerke

2.3.1.3. Landsmannschaftliche Netzwerke und Agenten in Rom

2.3.2. Diskurse und Semantiken

2.3.2.1. Vormauer und Einfallstor nach Italien: Semantiken des konfessionellen Grenzraums

2.3.2.2. Häretische Seuche und Hexerei:Semantiken der religiösen Vielfalt

2.3.2.3. Das Schisma der Bündner Katholiken: Semantiken lokaler katholischer Kirchlichkeit

2.3.3. Fazit: Verdichtete Kommunikationszusammenhänge

2.4. Segen und Fluch der Verflechtung: Neue Handlungsspielräume, neue Konflikte

2.4.1. Alte Freiheiten, neue Handlungsspielräume: Konfessionelle Argumentationslogiken im Dienste der gemeindekirchlichen Autonomie

2.4.2. Verfluchte Verflechtung? Blutige Konflikte um fremde Kapuziner und heimische Weltpriester

2.4.3. Fazit: Zwischen Autonomie und Abhängigkeit

2.5. Der translokale Katholizismus an der Grenze zu Italien: Ein Fazit

3. Barocke Gnadenlandschaften: Aneignungen und Deutungen eines konfessionellen Grenzraums

3.1. Barocke Gnadenlandschaften: Begriffliche Annäherung

3.2. Praktiken der Sakralisierung: Sakrale Durchdringung von Raum und Zeit

3.2.1. Bau und Ausstattung von Kirchen

3.2.1.1. Mit den eigenen Händen: Akteure des Kirchenbaus

3.2.1.2. Mit Almosen und fremden Geldern: Lokale und grenzüberschreitende Mobilisierung von Kapital für den Sakralbau

3.2.1.3. Gott als Architekt? – Sakralisierung durch Kirchenbau

3.2.2. Transfers von Reliquien, Gnadenbildern und Heilsmitteln

3.2.2.1. Wege in die Alpentäler: Grenzüberschreitende Bezugssysteme sakraler Objekte

3.2.2.2. Das Ausgreifen in die Lebenswelt: »Fremde« Objekte als Mittel der Sakralisierung

3.2.3. Die Erforschung einer geheiligten Vergangenheit

3.2.3.1. Von Apostel Petrus gegründet: Die Diözese Chur als terra sancta

3.2.3.2. Eigene und italienische Heilige im Veltlin: Kulturell-religiöse Abgrenzung vom protestantischen Norden

3.2.4. Prozessionen und Bittgänge

3.2.5. Fazit: Sakralisierung im rätischen Alpenraum

3.3. Strategien der Sakralisierung: Die kirchliche Heilsvermittlung sicht- und erlebbar machen

3.3.1. »Sie sind jenen in Städten ebenbürtig«: Kirchenbau als Missionsstrategie

3.3.2. Türme bis zum Himmel: Gnadenorte als konfessionelle Grenzmarker und Orte der Bekehrung

3.3.3. Rom in den Alpen: Das Gnadenterritorium der römisch-katholischen Kirche

3.3.4. Das Heilige Land in den Alpen: Wo das Heilige heimisch ist

3.3.5. Fazit: Aneignung und Deutung eines konfessionellen Grenzraums

3.4. Topographie der Gnade: Pluralisierung und Dezentralisierung in der Kultlandschaft vom 17. zum 18. Jahrhundert

3.5. Sakrale Verdichtung – Verstärkte Grenze: Ein Fazit

4. Ökonomien des (Un)Heils: Religiöse Erfahrungswelten und Ambivalenzen im Umgang mit dem Sakralen

4.1. Von religiösen Märkten zu Ökonomien des Heils: Begriffliche Annäherung

4.2. Ökonomien des Heils: Gnadenerfahrungen und die lebensweltliche Immanenz des Sakralen

4.2.1. An den Himmel appellieren: Heils- und Heilungsbedürfnisse in der alpinen Lebenswelt

4.2.2. Dem Himmel darbieten: Die Ökonomie der Gnade

 

4.2.3. Vom Himmel erhört: Gnadenerfahrungen der Laien

4.2.4. Fazit: Ökonomien des Heils – Das Sakrale in der Lebenswelt

4.3. Ökonomien des Unheils: Dynamiken und Ambivalenzen des Sakralen

4.3.1. Lokale Kultaneignung: Rivalität auf dem Markt der Wunder und neue Handlungschancen für Laien

4.3.1.1. Die Verehrung des seligen Luigi Gonzaga in Sazzo und die Heilkraft des Lampenöls

4.3.1.2. Die Statue der Mater Dolorosa von Disentis und die Wiederbelebung totgeborener Kinder

4.3.1.3. Die Grablege des Francesco Maria da Vigevano in Savognin und der Reliquienkult um im Ruf der Heiligkeit verstorbene Ordensgeistliche im Veltlin

4.3.2. Gottes Macht oder Teufels Werk? Die Ambivalenz des Sakralen in der tridentinisch erneuerten Kirche

4.3.3. Fazit: Die Ökonomie des Unheils – Entgrenzung und Einhegung des Sakralen

4.4. Vielfältige katholische Glaubenswelten: Ein Fazit

5. Schlussbetrachtung: Die verflochtene Logik der Wunder

Glossar

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Archivquellen

2. Gedruckte Quellen

3. Quelleneditionen

4. Fachliteratur

Bildnachweis

Tafeln

Vorwort

Wenn in den Wundergeschichten, die in der vorliegenden Studie untersucht werden, davon die Rede ist, dass sich ein sehnlichst erwünschtes Ereignis – sei es die Heilung einer Krankheit, sei es das Auffinden eines verlorenen Gegenstandes – tatsächlich eingestellt hat, dann wird die Erklärung dafür nicht etwa im Verdienst des Begünstigten, sondern in einer schicksalshaften, von jenseitigen Mächten bestimmten Fügung gesucht und gefunden. Selbstverständlich ist es so, dass es für die Niederschrift eines Buches wie des vorliegenden, bei dem es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner 2016 an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern eingereichten und verteidigten Dissertation handelt, ein hohes Maß an Eigeninitiative, Motivation und Durchhaltewillen vonseiten des Autors braucht. Und doch ist auch für den erfolgreichen Abschluss einer individuellen, über Jahre laufenden Denk-, Recherche- und Schreibarbeit eine ganze Reihe von kaum durch den Einzelnen beeinflussbaren glücklichen Fügungen unabdingbar, wie ich aus eigener Erfahrung kenne. Zu erwähnen ist hier an erster Stelle die Tatsache, dass mein Doktorvater Christian Windler dort Potenzial erkannt und freigelegt hat, wo ich es selbst nicht zu vermuten gewagt hätte. Ihm gebührt denn auch der größte Dank – für die langjährige Förderung meiner wissenschaftlichen Neugier, für die optimalen Arbeitsbedingungen und dafür, dass er mir bei der Umsetzung des Dissertationsvorhabens die gewünschten Freiheiten gelassen hat. Großen Dank schulde ich auch Kim Siebenhüner, deren wertvollen Kommentare anlässlich der Forschungskolloquien mir stets Garanten für neue Denkanstöße waren. Sie hat sich dankenswerterweise für die Zweitbegutachtung bereit erklärt. Stefan Rebenich danke ich für die Leitung der Doktorprüfung.

Ohne finanzielle Unterstützung von verschiedensten Seiten wäre eine ununterbrochene Arbeit am vorliegenden Buch nicht möglich gewesen. Zu danken habe ich dem Schweizerischen Nationalfonds für eine zweieinhalbjährige Projektstelle sowie für den Publikationskostenbeitrag. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich der Janggen-Pöhn-Stiftung für ein Stipendium zu Beginn und der Dr. Joséphine de Kármán-Stiftung für ein ebensolches in der Endphase der Dissertation. Arndt Brendecke, Peter Burschel, Ulrike Gleixner und Daniela Hacke danke ich für die Aufnahme meines Buches in ihre Reihe »Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit«, Thomas Richter vom Didymos-Verlag für die geduldige Betreuung der Drucklegung.

Einerseits stellvertretend für die vielen Mitarbeiter von Archiven und Bibliotheken, die mir stets zuvorkommend bei meinen Recherchen behilflich waren, andererseits weil ihnen ein besonderer Dank für das große Interesse gebührt, das sie meiner Arbeit entgegengebracht haben, seien hier Albert Fischer, Archivar des Bistums Chur, sowie Christian Schweizer, Provinzarchivar der Schweizer Kapuziner, speziell erwähnt. Besonderen Dank schulde ich außerdem Adrian Collenberg vom Staatsarchiv Graubünden für die Korrektur meiner Übersetzungen aus dem Rätoromanischen, Pascal Bircher für die Hilfe bei der Erstellung der Karte und Silja Widmer für die Bearbeitung der Fotos.

In einer Arbeit wie der vorliegenden steckt viel Zeit und Energie. Umso wichtiger war es für mich, sie in einem Umfeld schreiben zu können, das in vielerlei Hinsicht bereichernd war. Ich meine damit ganz besonders meine Kolleginnen und Kollegen am Historischen Institut der Universität Bern, die, wie Nadine Amsler, Daniel Sidler und Nadir Weber, das Dissertationsprojekt seit der Planungsphase eng begleitet haben oder die sich, wie Nadja Ackermann, Andreas Affolter, Maud Harivel, John Jordan, Claudia Ravazzolo, Florian Schmitz, Gabi Schopf und ganz besonders Silja Widmer, inner- und außerhalb der Universität als anregende Gesprächspartner erwiesen haben. Dank den vielen schönen Begegnungen war mir die Abteilung für Neuere Geschichte der Universität Bern Arbeitsort und Zufluchtsort zugleich. Ein besonderer Dank gebührt Meike Knittel, die sich die Mühe gemacht hat, alle Kapitel meiner Arbeit in einer ersten Version aufmerksam gegenzulesen. Samuel Weber hat Teile des Manuskripts lektoriert. Seinen Kommentaren und seiner profunden Kenntnis der italienischen und römischen Geschichte verdankt die Studie viel.

Der letzte Dank führt mich zurück zu den Ursprüngen. Ungeachtet aller Entbehrungen auf dem heimischen Hof haben mich meine Eltern und meine Brüder auf einem durchaus nicht selbstverständlichen Bildungsweg immer bedingungslos unterstützt. Ohne diesen uneingeschränkten und selbstlosen Rückhalt wäre die vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen. In tiefer Dankbarkeit widme ich dieses Buch meiner Familie.

Bern, im Januar 2018

Philipp Zwyssig

1. Einleitung
1.1. Täler voller Wunder? Thematische Annäherung

Im Jahr 1654 lag die Frau von Giovanni Pietro Toscano aus Mesocco mit schweren Geburtswehen im Bett, ohne dass sie entbinden konnte. Weil sie sich bereits dem Tod nahe wähnte, ließ sie den Priester Antonio Maria Laus († 1664) zu sich rufen, der ihr die Beichte abnahm und sie dem heiligen Filippo Neri empfahl. Augenblicklich danach gebar sie Zwillinge, was von den Zeugen als wahres Wunder gedeutet wurde.1 Ob auch der Kapuziner Francesco Maria da Vigevano († 1692) zu Lebzeiten solche Wunder bewirkt hat, ist nicht bekannt. Sicher ist dagegen, dass nur ein Tag nach seinem Tod am 10. Juni 1692 in Savognin ein bis dahin blindes Mädchen wie durch ein Wunder wieder sehen konnte, was auf die himmlische Fürsprache des Kapuziners zurückgeführt wurde.2 Den Erkenntnissen der volkskundlichen Grundlagenforschung zufolge waren dies nur zwei von unzähligen Wundern, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in den Drei Bünden zugetragen haben sollen. Die von 1938 bis 1955 schweizweit durchgeführte Inventarisierung von Votivgaben hat nämlich ergeben, dass es in Graubünden vergleichsweise viele Kirchen und Kapellen gab, für die wundersame Gebetserhörungen dokumentiert sind.3 Und tatsächlich legen die in der vorliegenden Arbeit aus einem breiten Quellenfundus zusammengetragenen Hinweise auf mirakulöse Begebenheiten den Schluss nahe, dass es sich bei den Tälern der Drei Bünde mitsamt ihren Untertanengebieten im Süden um Täler voller Wunder gehandelt haben muss (siehe die Karte, Abb. 1).

Wie kam es, dass im rätischen Alpenraum des 17. und 18. Jahrhunderts so viele Wunder geschahen? Auf diese Frage möchte die vorliegende Studie eine Antwort geben. Gleichwohl sollen nicht diese Wunder an sich im Zentrum der Untersuchung stehen. Welche Arten von Wundern die frühneuzeitlichen Menschen kannten, welche Weltbilder ihnen zugrunde lagen und wie sich der Umgang mit ihnen vom Mittelalter bis zum Beginn der Moderne veränderte, hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten akribisch herausgearbeitet.4 Dass Wunder, verstanden als »mit der Naturkausalität nicht erklärbare Ereignisse«5, eine zentrale Rolle spielten in einer Welt, die als von Gott erschaffen und gelenkt verstanden wurde,6 ist weder überraschend noch fehlt eine Fülle an Forschungsliteratur, die dies belegt.7 Blickt man aber etwas genauer auf die Gesellschaften, in denen sich Wunder ereigneten, so stellt man fest, dass die Existenzgrundlage beziehungsweise der Wahrheitsgehalt von Wundern doppelt verankert war: einmal im Himmel und einmal auf der Erde. Im Himmel, weil Wunder Ausdruck des göttlichen Eingreifens in die Welt waren; auf der Erde, weil sich kirchliche Institutionen ausbildeten, die den Menschen Mittel und Wege zur Wundererfahrung aufzeigten (Sakramente, Sakramentalien, Gebete etc.), weil sich kulturelle Praktiken der Interpretation und Dokumentation von mirakulösen Ereignissen etablierten (Votivgaben, Mirakelbücher, Prodigiensammlungen etc.) und weil Kriege, Hungersnöte, Krankheiten und andere prekäre Alltagserfahrungen die Menschen stark auf ein wundertätiges Eingreifen einer höheren Macht hoffen ließen.8 Es brauchte also bestimmte irdische Rahmenbedingungen, damit sich die Wundertätigkeit Gottes in einer gewissen Regelmäßigkeit offenbaren konnte: Es brauchte Kirchen, die sich als Vermittler der »Gnaden- und Wunderkraft«9 Gottes in Szene setzten, ebenso wie für Wunder empfängliche Laien, und es brauchte außerdem eine religiöse Kultur, die die individuelle Wundererfahrung ins Zentrum stellte. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge wird verständlich, dass eine historische Untersuchung, die Wunder und Wundererfahrungen zum Ausgangspunkt nimmt, weit mehr leisten kann als eine bloße Geschichte des Wunderglaubens: Sie vermag das Gesamtbild einer auf religiösen Grundsätzen und Denkmustern beruhenden (vormodernen) Gesellschaft zu schärfen.10

Genau darum soll es in der vorliegenden Arbeit gehen: Um das differenzierte Gesamtbild einer katholischen Gesellschaft im Alpenraum, genauer gesagt in den Drei Bünden und den ihnen unterstellten Talschaften Veltlin, Bormio und Chiavenna. Dieses Bild blieb in der bisherigen Forschung ziemlich einseitig auf den lokalen historischen Kontext sowie auf die kirchenrechtlichen Besonderheiten eingeschränkt.11 Nur am Rande wurde auf personelle, kulturelle und kirchenpolitische Beziehungen zu Frankreich, Österreich, dem Herzogtum Mailand und der Eidgenossenschaft hingewiesen,12 der Einfluss der römischen Kurie blieb fast ganz ausgeklammert.13 Dies erstaunt umso mehr, als außer Frage steht, dass die katholische Kirche im nachtridentinischen Verständnis eine über territoriale Grenzen hinweg verflochtene und von der römischen Kurie maßgeblich mitbestimmte Kultgemeinschaft sein wollte. Dass dieses Selbstverständnis nicht ohne Auswirkungen auf Kultur und Religiosität einer lokalen katholischen Gesellschaft blieb, ist plausibel, wurde in der neueren historischen Forschung aber kaum thematisiert.14 Angesichts dessen setzt sich die vorliegende Arbeit zum Ziel, am Beispiel des rätischen Alpenraums eine katholische Verflechtungsgeschichte zu schreiben, das heißt auf die für eine katholische Gesellschaft der Frühen Neuzeit so typischen Formen der großräumigen Vernetzung hinzuweisen.

 

Dass eine solche Verflechtungsgeschichte gerade für die Eigenheiten der katholischen Gesellschaft der Drei Bünde großes Erklärungspotenzial haben kann, zeigen die beiden eingangs erwähnten Wundertäter. Antonio Maria Laus und Francesco Maria da Vigevano wiesen zwar ganz unterschiedliche Hintergründe auf: Der eine war ein Weltpriester, der andere gehörte dem Orden der Kapuziner an; der erste stammte aus dem Bündner Südtal Misox, der zweite war Italiener und somit ein Landesfremder. Dennoch gab es ein Element, das die beiden Figuren miteinander verband: Beider Leben war geprägt vom Wechsel zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und dem Versuch, eine Mittlerposition zwischen verschiedenen kulturellen, kirchlichen und politischen Einflusssphären einzunehmen. Antonio Maria Laus studierte ab 1636 am Collegio Urbano in Rom, trat dort dem Oratorium des Filippo Neri bei, wurde danach von der Propagandakongregation als »apostolischer Missionar« in seine Heimat beordert und wurde schließlich zum Domherrn des Churer Hochstifts ernannt.15 Er pflegte regelmäßige Briefkontakte mit dem päpstlichen Nuntius in Luzern, mit dem Sekretär der Kurienkongregation de Propaganda Fide sowie mit dem Vorsteher des römischen Oratoriums und reiste mehrere Male nach Rom, um an der Kurie persönlich die Erfolge seiner Mission im Misox zu schildern. Francesco Maria da Vigevano aus der Mailänder Kapuzinerprovinz war seit den 1630er-Jahren bis zu seinem Tod 1692 als Missionar im Oberhalbstein tätig, reiste aber zeitweilig in seine Heimatprovinz sowie nach Innsbruck und Rom, wo er an den Höfen die Anliegen der Kapuzinermission und der Bündner Katholiken zur Sprache brachte.16 Diese biografischen Fakten wären für die Fragestellung dieser Arbeit nicht weiter relevant, hätten die beiden Figuren mit ihren Vermittlungsleistungen nicht einen entscheidenden Einfluss auf die Frömmigkeitskultur in den von ihnen betreuten Gemeinden beziehungsweise Talschaften ausgeübt. Francesco Maria da Vigevano ließ in fast allen Ortschaften im Oberhalbstein neue Kirchen errichten, die er dank Spenden aus Mailand kostbar ausstattete. Er beschaffte Heiligenreliquien bei italienischen Bischöfen, gründete Laienbruderschaften und übersetzte den italienischen Katechismus von Roberto Bellarmino (1542–1621) ins Rätoromanische17. Schon zu Lebzeiten von den Oberhalbsteinern als eine heiligmäßige Person angesehen, stand er nach seinem Tod aufgrund der ihm zugeschriebenen Wunder im Mittelpunkt eines lokalen Gnadenkultes; und noch heute zeugt eine an der Frontseite der Kirche St. Martin in Savognin angebrachte Gedenktafel (Abb. 28) von der großen Verehrung, die der Kapuziner genoss. Nicht minder beliebt dürfte Antonio Maria Laus bei den Katholiken im Misox gewesen sein. Auch ihm wurde ein Lebenswandel eines Heiligen bescheinigt.18 Die Frömmigkeitskultur prägte er entscheidend mit, indem er Oratorien nach römischem Vorbild gründete, Kirchen erbaute sowie in Rom Reliquien und die beim Volk äußerst beliebten, vom Papst gesegneten und mit einem Ablass versehenen Devotionalien (Rosenkränze, Kreuzchen, Agnus Dei etc.) besorgte. Damit nahm Laus Einfluss nicht nur auf die kirchengebundene Glaubenspraxis, sondern ebenso auf die alltägliche, in den eigenen vier Wänden praktizierte Laienfrömmigkeit. Die Religiosität der Bündner Katholiken, ihre lokalspezifischen Kulte und selbst ihre individuellen religiösen (Wunder-)Erfahrungen waren folglich zu einem guten Teil mitbestimmt von den grenzübergreifenden Austausch- und Transferprozessen, welche Francesco Maria da Vigevano, Antonio Maria Laus und andere Protagonisten in Gang setzten. Anders als es die kirchenrechtliche Autonomie der Bündner und Veltliner Kirchgemeinden a priori vermuten lässt,19 machten sich auf der Ebene der gelebten Religiosität womöglich bisher nicht beachtete, weit über den lokalen Kontext hinausreichende kulturelle, institutionelle und finanzielle Verflechtungen bemerkbar. Sie und ihre Auswirkungen auf die lokale Glaubenswelt im 17. und 18. Jahrhundert sollen im Zentrum der vorliegenden Studie stehen. Ihre Untersuchung setzt eine Zusammenführung verschiedener Forschungsfelder voraus, die sich in der neueren Forschung zum frühneuzeitlichen Katholizismus etabliert haben, bisher aber weitgehend ohne gegenseitige Bezugnahme geblieben sind.