Loe raamatut: «Das Jahrhundert des Populismus»
PIERRE
ROSANVALLON
DAS JAHRHUNDERT DES
POPULISMUS
GESCHICHTE THEORIE KRITIK
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-985-0
© der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-347-6
© der Originalausgabe by Éditions du Seuil, 2020
Titel der Originalausgabe: »Le siècle du populisme.
Histoire, théorie, critique«
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Inhalt
EINLEITUNGDEN POPULISMUS DENKEN
Eine zu theoretisierende Realität
Die Anatomie des Populismus
Die drei Geschichten des Populismus
Zur Kritik des Populismus
Die Alternative
IANATOMIE
1Eine Auffassung des Volkes: das homogene Volk
Von der Klasse zum Volk
Sie und Wir
Die Macht eines Wortes
2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar
Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie
Die polarisierte Demokratie
Der unmittelbare Ausdruck des Volkes
3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple
Der lateinamerikanische Präzedenzfall
Die organische Führungsfigur
4Eine Wirtschaftspolitik und -philosophie: der Nationalprotektionismus
Die Rückkehr des politischen Willens
Eine Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit
Der Protektionismus als Sicherheitsinstrument
5Ein System der Leidenschaften und Emotionen
Die Faktoren dieser »Rückkehr der Emotionen«
Die positionsbezogenen Emotionen
Die verstandesbezogenen Emotionen
Die interventionsbezogenen Emotionen
Gibt es eine populistische Persönlichkeit?
6Einheit und Vielfalt der Populismen
Der diffuse Populismus
Regime und Bewegungen
Rechtspopulismus und Linkspopulismus
IIGESCHICHTE
1Geschichte populistischer Momente (I): Cäsarismus und illiberale Demokratie in Frankreich
Die Theorie des Plebiszits
Der Homme-peuple und das homogene Volk
Die demokratische Polarisierung
Die cäsaristische Kritik der Parteien
Eine »demokratische« Sicht der Einschränkung der Pressefreiheit
2Geschichte populistischer Momente (II): die Jahre 1890–1914
Das Referendum als Allheilmittel
Der Aufstieg des Nationalprotektionismus
Der gescheiterte Populismus
3Geschichte populistischer Momente (III): das lateinamerikanische Labor
Gaitán: eine Gründergestalt
Das peronistische Regime
Zur Bezeichnung des lateinamerikanischen Populismus
4Begriffsgeschichte: der Populismus als demokratische Form
Strukturelle Aporie (I): das unauffindbare Volk
Strukturelle Aporie (II): die Zweideutigkeiten der Repräsentativdemokratie
Strukturelle Aporie (III): die Wandlungen der Unpersönlichkeit
Strukturelle Aporie (IV): die Definition des Gleichheitsregimes
Grenzfälle der Demokratie: die drei Familien
IIIKRITIK
Einleitung
1Die Frage des Referendums
Die Auflösung des Verantwortungsbegriffs
Entscheiden heißt nicht wollen
Die Vernachlässigung des Beratens
Ein Hang zum Unumkehrbaren
Das Schweigen über die normative Geltung der Referenden
Die paradoxe Enteignung der Demokratie durch das Referendum
Den demokratischen Erwartungen entsprechen, die der Referendumsidee zugrunde liegen
2Polarisierte Demokratie versus potenzierte Demokratie
Demokratische Fiktion und Horizont der Einstimmigkeit
Die neuen Ausdrucksformen des Gemeinwillens
Die Macht des Beliebigen
Die Macht von niemandem
Demokratische und nicht bloß liberale Institutionen
3Von einem imaginären Volk zu einer demokratischen Gesellschaft im Aufbau
Von der imaginären zur realen Gesellschaft
Das 1%
Populistisches Volk und demokratische Gesellschaft
4Der Horizont der Demokratur: die Frage der Unumkehrbarkeit
Philosophie und Politik der Unumkehrbarkeit
Polarisierung und Politisierung der Institutionen
Epistemologie und Moral der verallgemeinerten Politisierung
SCHLUSSDER GEIST EINER ALTERNATIVE
Anhang
Geschichte des Wortes »Populismus«
Bibliografie
Personenregister
Zum Autor
EINLEITUNG
DEN POPULISMUS DENKEN
Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzung haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo. In ihm verbindet sich ein Gefühl intuitiver Selbstverständlichkeit mit einer Form von Unbestimmtheit. Davon zeugt in erster Linie das semantische Changieren, das seinen Gebrauch charakterisiert. Denn es handelt sich zweifellos um einen sehr dehnbaren Begriff, seiner chaotischen Verwendung nach zu urteilen. Auch einen paradoxen Begriff, denn er hat zumeist eine abwertende und negative Konnotation, während er sich von dem ableitet, was im positiven Sinne das demokratische Leben begründet. Es ist ferner ein projektiver Begriff, denn er versieht mit einem einzigen Label eine ganze Reihe politischer Umbrüche der Jetztzeit, die es in ihrer Komplexität und ihren tieferen Ursachen zu erfassen gälte. Ist es beispielsweise sachdienlich, den gleichen Ausdruck zu verwenden, um Chávez’ Venezuela, Orbáns Ungarn oder Dutertes Philippinen zu bezeichnen, ganz zu schweigen von einer Figur wie Trump? Macht es Sinn, die Spanier von Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit den Kumpanen von Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Nigel Farage in einen Topf zu werfen? Verstehen heißt nämlich, zu unterscheiden und folglich vereinfachenden Gleichsetzungen zu widerstehen. Schließlich ist Populismus ein zweifelhafter Begriff, denn er dient häufig nur dazu, Gegner zu stigmatisieren oder unter neuem Namen den alten Überlegenheitsanspruch der Mächtigen und Gebildeten gegenüber den unteren Schichten zu legitimieren, denen stets unterstellt wird, sich in einen von seinen dunklen Trieben beherrschten Pöbel verwandeln zu wollen. Man kann die Frage des Populismus nicht erörtern, ohne diesen Befund im Kopf zu behalten, denn er stellt eine Art Warnung dar, sowie eine Aufforderung, bei der Behandlung des Themas politischen Scharfblick und geistige Strenge walten zu lassen.
Diese Notwendigkeit, auf die Fallstricke zu achten, die der Begriff »Populismus« bereithält, darf allerdings nicht dazu führen, ganz auf ihn zu verzichten. Und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal, weil er sich gerade in seiner Verworrenheit als unumgänglich erwiesen hat. Wenn er trotz all der von uns erwähnten Vorbehalte immer noch in aller Munde ist, dann auch deshalb, weil er, auf zugleich unbestimmte und nachdrückliche Weise, dem Bedürfnis entsprach, eine neue Sprache für eine neue Dimension des politischen Zyklus zu verwenden, der sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert aufgetan hat; und weil er in dieser Eigenschaft bisher ohne Konkurrenz ist. Ein politischer Zyklus, den manche als dringende gesellschaftliche Erwartung nach Neubelebung des demokratischen Projekts durch Rückkehr zu einer aktiveren Form von Volkssouveränität beschreiben, während andere in ihm umgekehrt die Vorzeichen für eine drohende Destabilisierung dieses Projekts erkennen. Doch das zweite und entscheidende Faktum ist, dass der Begriff letztlich von jenen Politikern mit Stolz übernommen wurde, die seine Verwender in einem denunziatorischen Sinne hatten an den Pranger stellen wollen.1 Es gibt eine lange Liste von Persönlichkeiten der Rechten und extremen Rechten, die das Stigma umzukehren versuchten, indem sie zunächst behaupteten, das Wort »mache ihnen keine Angst«, bevor sie es sich selbst nach und nach aneigneten. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Linken, wie auf exemplarische Weise Jean-Luc Mélenchon bezeugt. »Ich habe überhaupt keine Lust, mich gegen den Vorwurf des Populismus zu wehren«, sagte er schon 2010. »Das ist der Hochmut der Eliten. Sollen sie doch alle abhauen! Populist, ich? Meinetwegen.«2 Die Tatsache, dass einige Intellektuelle zu Befürwortern eines »linken Populismus« geworden sind, hat ebenfalls sehr dazu beigetragen, dem Begriff genug Festigkeit zu geben und ihn in den politischen Sprachgebrauch eingehen zu lassen. Die Stellungnahmen und Schriften von Wendy Brown, Nancy Fraser, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe waren in dieser Hinsicht einflussreich, indem sie dazu anregten, den Begriff beizubehalten und seine Aussagekraft anzuerkennen.
Eine zu theoretisierende Realität
Das Problem ist, dass die weiter wachsende Zahl von Werken, die dem Populismus gewidmet sind, sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Motive für das populistische Votum zu verstehen, um seinen spektakulären Aufstieg in der ganzen Welt zu erklären. Mit den Werkzeugen der Wahlforschung und der politischen Wissenschaft beschreiben sie die betroffenen Bevölkerungsgruppen, die Werte, die sie vertreten, ihre Beurteilung der Politik und der Institutionen und natürlich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Untersuchungen zeichnen das Porträt einer sozialen und kulturellen Welt, das in vielen Ländern objektive Gemeinsamkeiten aufweist: Personen, die abseits der Metropolen in Zonen des industriellen Niedergangs leben und als »Verlierer« der Globalisierung gelten können, mit unterdurchschnittlichem Einkommen und relativ wenigen Hochschulabsolventen. Wütende Bevölkerungsgruppen auch, die in subjektiverer Weise durch ihr Ressentiment gegenüber einem System zu beschreiben sind, von dem sie sich verachtet und unsichtbar gemacht fühlen, die sich auszeichnen durch ihre Angst, angesichts der Öffnung der Welt und der Ankunft von Migrant*innen ihrer Identität beraubt zu werden. Durch den Vergleich vieler Daten und den Entwurf erneuerter Konzepte haben manche dieser Arbeiten es ermöglicht, zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was diese populistische Wählerschaft ausmacht. Doch gleichzeitig verhinderten sie auch ein umfassendes Verständnis des Phänomens, indem sie es implizit als bloßes Symptom für andere Dinge betrachteten, die der eigentliche Gegenstand wären, dem die Aufmerksamkeit zu gelten hätte: den Niedergang der Parteiform zum Beispiel, die Kluft zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft oder das Verschwinden des Unterschieds zwischen einer Rechten und einer Linken, die gleichermaßen unfähig sind, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. In diesem Fall wird nicht mehr das Wesen des Populismus, sondern seine Ursachen gedacht. Was darauf hinausläuft, eine neuerliche Analyse der Politikverdrossenheit und der aktuellen sozialen Spaltungen vorzunehmen.
Die häufige Gleichsetzung der Populismen mit ihrer Protestdimension und dem daraus folgenden Politikstil und Diskurstyp ist eine zweite Art, sie nicht in vollem Umfang zu erfassen.3 Diese Dimension ist zwar unleugbar, doch darf sie nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Populismen auch ein echtes politisches Angebot darstellen, das seine eigene Schlüssigkeit und positive Stärke besitzt. Ihre gewohnheitsmäßige Identifizierung mit politischen Figuren der Vergangenheit, insbesondere aus den Traditionen der extremen Rechten, führt dazu, ihr Wesen noch weiter zu reduzieren. Zwar sind die Populismen oft in ihrem Dunstkreis entstanden, doch hat das Phänomen mittlerweile eine andere Dimension angenommen (ungeachtet der Tatsache, dass sich ein als links verstehender Populismus herausgebildet hat).
Hinzuweisen ist auch auf die Grenzen der Erstellung diverser Typologien des Populismus, die oft vorgeschlagen wird. Die Vielfalt ihrer Varianten zu beschreiben (rechte und linke, mit ihrem jeweiligen Graden an Autoritarismus, den mit ihnen verbundenen wirtschaftspolitischen Unterschieden usw.), ist keine Hilfe, um das Wesentliche zu verstehen: den Kern unveränderlicher Elemente sowie die Regeln zur Differenzierung von Sonderfällen. Eine Typologie kann sich auch darin erschöpfen, jedem Einzelfall eine besondere Kategorie zuzuordnen. Sie ist dann nichts weiter als eine chaotische Aufzählung, eine Liste à la Prévert, wie man im Französischen sagt. Eine Zeitschrift hielt es beispielsweise für erhellend, die 36 Familien des Populismus zu unterscheiden!4 Eine solche Übung ist das genaue Gegenteil einer Konzeptualisierungsarbeit; sie ist nur eine Verschleierung der Unfähigkeit, das Wesen der Dinge zu erfassen.
Zugleich ist das Problem, dass diese von den einen gefeierten, von den anderen verteufelten Populismen nur vage und damit unzureichend bestimmt geblieben sind. Sie wurden im Wesentlichen auf dumpf formulierte Aversionen und Ablehnungen zurückgeführt oder auf Projekte, die sich in wenigen Parolen zusammenfassen lassen (wie im Fall des berühmten RIC5 in Frankreich). Was es erschwert, ihren Aufstieg zu analysieren und zugleich eine stichhaltige Kritik zu erarbeiten. Will man die Populismen in ihrer vollen Dimension verstehen, als eigenständige politische Kultur, die dabei ist, unsere politische Landschaft neu zu definieren, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass sie noch nicht in diesen Begriffen analysiert wurden. Gleichzeitig haben ihre Akteure, trotz einiger bemerkenswerter Publikationen oder Reden, auf die wir noch kommen werden, noch keine wirkliche Theorie dessen vorgelegt, was sie verkörpern. Das ist ein historischer Ausnahmefall. Denn vom 18. bis zum 20. Jahrhundert gingen alle großen Ideologien der Moderne mit der Veröffentlichung grundlegender Werke einher, die kritische Analysen der bestehenden Gesellschaft und Politik mit Zukunftsvisionen verbanden. Die Prinzipien des Liberalismus wurden von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, Benjamin Constant oder John Stuart Mill formuliert; der Sozialismus wurde durch die Arbeiten von Pierre Leroux, Proudhon, Jaurès oder Kautsky begründet; die Werke von Cabet und Marx spielten bekanntermaßen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des kommunistischen Ideals. Der Anarchismus wiederum identifizierte sich mit dem Beiträgen von Bakunin und Kropotkin, während Konservatismus und Traditionalismus in Burke und Bonald ihre Verfechter fanden. Die Regeln der Repräsentativregierung wurden im Laufe der Revolutionen des 18. Jahrhunderts von den Gründervätern präzise erarbeitet. Und noch viele weitere Namen aus jüngerer Vergangenheit könnten herbeizitiert werden, um die Korrekturen oder Vertiefungen dieser Pionierwerke zu veranschaulichen, die die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Welt in den letzten zwei Jahrhunderten erforderlich machten.
Nichts dergleichen gilt für den Populismus. Er ist mit keinem Werk vergleichbaren Formats verknüpft, das der zentralen Stellung, die er mittlerweile angenommen hat, entsprechen würde.6 Man hat in Bezug auf ihn sogar von weicher oder schwacher Ideologie gesprochen. Solche Bezeichnungen sind trügerisch, wie seine Mobilisierungskraft beweist; und sofern sie ein Werturteil beinhalten, sind sie ohne Belang. Es trifft lediglich zu, dass diese Ideologie nicht systematisch entfaltet wurde. Und zwar ganz einfach, weil es ihren Propagandist*innen nicht als notwendig erschien, solange die Wähler*innen, die sie ansprechen, mehr für Wutgeheul und gehässige Denunziationen empfänglich sind als für theoretische Argumente.
Ziel dieses Buches ist es, einen ersten Entwurf dieser fehlenden Theorie vorzulegen. Und zwar mit dem Anspruch, dies in Begrifflichkeiten zu tun, die eine radikale – d. h. an die Wurzel gehende – Konfrontation mit der populistischen Idee ermöglichen. Das impliziert, sie als aufsteigende Ideologie des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, eine Anerkennung, die zur Ausbildung einer fundierten Kritik auf dem Gebiet der Demokratie- und Gesellschaftstheorie erforderlich ist. Die folgenden Seiten beabsichtigen, diese Aufgabe in drei Etappen zu bewältigen. Sie beginnen mit der Beschreibung einer Anatomie des Populismus, um einen Idealtypus zu erstellen. In einem zweiten Schritt wird eine Geschichte des Populismus präsentiert, um diesen Idealtypus in eine allgemeine Typologie demokratischer Formen zu integrieren. Ein dritter Teil ist schließlich seiner Kritik gewidmet.
Die Anatomie des Populismus
Dieser Teil beschäftigt sich mit der Darlegung der fünf Grundelemente der politischen Kultur des Populismus: eine Vorstellung des Volkes, eine Demokratietheorie, ein Repräsentationsmodus, eine Wirtschaftspolitik und -philosophie, ein System der Leidenschaften und Emotionen. Die auf der Unterscheidung zwischen »ihnen« und »uns« beruhende Vorstellung des Volkes ist das am häufigsten analysierte Element. Wir erweitern allerdings diese übliche Beschreibung, indem wir uns auf eine Analyse der Spannung zwischen dem Volk als Bürgerschaft und dem Volk als sozialem Gebilde stützen, und indem wir, zweitens, aufzeigen, wie der Begriff »Volk« im Zeitalter des Singularitätsindividualismus seine Fähigkeit zur Formgebung des Sozialen zurückgewinnt. Die populistische Demokratietheorie wiederum stützt sich auf drei Elemente: eine Bevorzugung der direkten Demokratie (veranschaulicht durch die Glorifizierung des Referendums); eine polarisierte und extrem wahlorientierte Sicht der Volkssouveränität, die vermittelnde Organe ablehnt und die die nicht gewählten Institutionen (Verfassungsgerichte und unabhängige Behörden) zu beschneiden versucht; ein Verständnis von Gemeinwillen als einem, der zu spontaner Äußerung imstande ist. Die populistische Auffassung von Repräsentation ist wiederum mit dem Entwurf eines zur sinnlichen Verkörperung fähigen »Homme-peuple« verbunden, um den bestehenden Zustand defizitärer Repräsentation zu beheben. Der Nationalprotektionismus ist ein weiteres Grundelement der populistischen Ideologie. Sofern man begreift, dass er sich nicht auf eine Form von Wirtschaftspolitik beschränkt. Er ist nämlich stärker in einer souveränistischen Sicht der Wiederherstellung des politischen Willens und des Achtens auf die Sicherheit einer Bevölkerung verankert. Die Wirtschaft ist insofern eminent politisch. Die politische Kultur des Populismus stützt sich schließlich explizit auf die Mobilisierung einer Reihe von Emotionen und Leidenschaften, deren Bedeutung anerkannt und theoretisch erfasst ist. Wir wollen in diesem Kontext verstandesbezogene Emotionen (die darauf abzielen, die Welt durch verschwörungsideologische Erzählungen lesbarer zu machen) von handlungsbezogenen Emotionen (den Degagismus7) und stellungsbezogenen Emotionen (das Gefühl des Verlassenseins, der Unsichtbarkeit) unterscheiden. Der Populismus war bahnbrechend im Erkennen und Nutzen dieser Rolle der Affekte in der Politik und ging dabei weit über traditionelle Verführungsrezepte hinaus. Ist der Idealtypus des Populismus anhand dieser fünf Elemente erstellt, kann die Vielfalt der Populismen auf dieser Grundlage verstanden werden; besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Analyse des Unterschieds zwischen Links- und Rechtspopulismus zuteil.