Loe raamatut: «Gorgias»

Font:


Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas.wuv · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

A. Francke Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Platon

Gorgias

Übersetzung von Joachim Dalfen

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Joachim Dalfen ist Ordentlicher Universitätsprofessor für Klassische Philologie an der Universität Salzburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Printed in Germany.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

UTB-Nr. 4151

ISBN 978-3-8463-4151-3 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Gorgias

GORGIAS

Kallikles, Sokrates, Chairephon, Gorgias, Polos

KA.: An Krieg und Kampf muss man auf diese Weise teilnehmen, sagen [447] die Leute, Sokrates.

SO.: Wir kommen doch nicht etwa, wie man so sagt, erst nach dem Fest und sind zu spät dran?

KA.: Und zwar nach einem ganz feinen Fest! Denn Gorgias hat uns kurz zuvor viele schöne Dinge vorgeführt.

SO.: Daran ist dieser Chairephon da schuld, Kallikles, weil er uns gezwungen hat auf der Agora zu verweilen.

CH.: Kein Problem, Sokrates. Ich werde es auch wieder gut machen. [b] Denn Gorgias ist mit mir befreundet und so wird er uns eine Vorstellung geben – wenn du willst, jetzt gleich, wenn es dir lieber ist, ein andermal.

KA.: Was denn, Chairephon? Hat Sokrates den Wunsch Gorgias zu hören?

CH.: Eben deshalb sind wir ja da.

KA.: Also, wenn ihr zu mir ins Haus kommen wollt … Denn Gorgias ist bei mir abgestiegen und er wird euch eine Vorstellung geben.

SO.: Gut, Kallikles. Aber ob er wohl auch bereit wäre mit uns ein Gespräch zu führen? Denn ich will von ihm erfahren, was die Fähigkeit und [c] die Wirkung der Kunst dieses Mannes ist und was das ist, was er ankündigt und lehrt. Die Vorstellung soll er, so wie du sagst, ein andermal geben.

KA.: Das Beste ist ihn selbst zu fragen, Sokrates. Denn dies war auch ein Teil seiner Vorstellung. Er hat gerade eben aufgefordert zu fragen, was ein jeder von den Leuten drinnen wollte, und er sagte, er werde auf alles antworten.

SO.: Schön sagst du das. – Frag ihn, Chairephon!

CH.: Was soll ich fragen?

SO.: Wer er ist. [d]

CH.: Wie meinst du das?

SO.: Wie wenn er ein Hersteller von Schuhen wäre. Dann würde er dir doch wohl antworten: ein Schuster. Oder verstehst du nicht, wie ich es meine?

CH.: Ich verstehe und ich werde ihn fragen.

Sag mir, Gorgias: ist es wahr, was Kallikles da sagt, dass du ankündigst auf alles zu antworten, was einer dich fragt?

GO.: Es ist wahr, Chairephon, und gerade eben habe ich genau das angekündigt, [448] und ich behaupte, dass mich seit vielen Jahren noch keiner etwas Neues gefragt hat.

CH.: Also ist es wohl so, dass du leicht antworten wirst, Gorgias?

GO.: Es steht dir frei, Chairephon, dir eine Probe davon geben zu lassen.

PO.: Beim Zeus, wenn du willst, Chairephon, von mir! Denn Gorgias scheint mir schon müde zu sein. Er hat eben über viele Dinge geredet.

CH.: Was denn, Polos? Glaubst du, dass du besser als Gorgias antworten könntest?

PO.: Was macht das aus, wenn es nur für dich gut genug ist? [b]

CH.: Nichts. Da du also willst, antworte!

PO.: Frage!

CH.: Ich frage also. Wenn Gorgias ein Wissen hätte in der Kunst, in der sein Bruder Herodikos ein Wissen hat, wie würden wir ihn dann richtig bezeichnen? Nicht so wie jenen?

PO.: Selbstverständlich.

CH.: Wenn wir also sagten, er sei Arzt, würden wir es richtig sagen.

PO.: Ja.

CH.: Wenn er Erfahrung hätte in der Kunst, in der Aristophon, der Sohn des Aglaophon, oder sein Bruder sie hat, als wen würden wir ihn dann richtig bezeichnen?

PO.: Klar: als Maler. [c]

CH.: Nun aber, nachdem er das Wissen in welcher Kunst hat, als wen sollen wir ihn bezeichnen, damit wir ihn richtig bezeichnen?

PO.: O Chairephon, viele Künste gibt es unter den Menschen, aus den Erfahrungen erfahrungsreich gefunden. Erfahrung nämlich lässt unser Leben seinen Weg nehmen in den Bahnen der Kunst, Unerfahrenheit in den Bahnen des Zufalls. Von all dem haben die einen dies, die anderen das, die einen so, die anderen anders, das Beste die Besten. Zu ihnen gehört unser Gorgias hier, und er hat teil an der schönsten der Künste.

SO.: Polos ist offensichtlich gut aufs Wortemachen vorbereitet, Gorgias. [d] Aber was er dem Chairephon versprochen hat, das macht er nicht.

GO.: Wieso denn, Sokrates?

SO.: Die Frage scheint er mir nicht ganz zu beantworten.

GO.: So frag doch du ihn, wenn du willst.

SO.: Nein, sondern viel lieber dich, wenn du selbst antworten willst. Denn auch schon mit dem, was er gesagt hat, zeigt mir Polos, dass er die sogenannte Rhetorik mehr geübt hat als das Gespräch.

PO.: Was soll das, Sokrates? [e]

SO.: Weil du, Polos, auf die Frage des Chairephon, in welcher Kunst Gorgias ein Wissen besitzt, seine Kunst lobst, als ob sie jemand tadeln würde. Du hast aber nicht geantwortet, was für eine Kunst sie ist.

PO.: Hab ich denn nicht geantwortet, dass sie die schönste ist?

SO.: Und ob. Aber keiner fragt, wie die Kunst des Gorgias ist, sondern was sie ist und als wen man den Gorgias bezeichnen muss. Wie dir vorher Chairephon Beispiele vorgelegt hat und du ihm richtig und mit kurzen Worten geantwortet hast, so sag auch jetzt, was die Kunst ist und als wen [449] wir Gorgias bezeichnen müssen.

Vielmehr sag du uns selbst, Gorgias, als wen man dich bezeichnen muss, weil du das Wissen in welcher Kunst hast?

GO.: In der Rhetorik, Sokrates.

SO.: Als Rhetor muss man dich also bezeichnen?

GO.: Und zwar als einen guten, Sokrates, wenn du mich als das bezeichnen willst, was ich – wie Homer gesagt hat – mich zu sein rühme.

SO.: Das will ich.

GO.: Dann bezeichne mich so.

SO.: Also: können wir sagen, dass du auch andere dazu machen [b] kannst?

GO.: Das kündige ich ja an, nicht nur hier, sondern auch anderswo.

SO.: Wärest du also bereit, Gorgias, so wie wir uns jetzt unterhalten, weiterzumachen, teils fragend, teils antwortend, diese Länge der Reden, wie auch Polos angefangen hat, auf ein andermal zu verschieben? Straf nicht das Lügen, was du versprichst, sondern sei bereit kurz auf die Frage zu antworten.

GO.: Es gibt manche Antworten, Sokrates, die es verlangen, die Worte einen weiten Weg nehmen zu lassen. Trotzdem will ich wenigstens versuchen es auf dem kürzesten Weg zu tun. Denn auch das gehört zu dem, [c] was ich behaupte, dass keiner dasselbe kürzer als ich sagen könnte.

SO.: Ja, darauf kommt es an, Gorgias. Und gib mir gerade davon eine Vorstellung, von der kurzen Rede, von der langen Rede ein andermal.

GO.: Das werde ich tun, und du wirst sagen, dass du noch nie jemanden kürzer sprechen gehört hast.

SO.: Also los! Du sagst doch, dass du ein Wissen von der rhetorischen Kunst hast und dass du auch einen anderen zum Rhetor machen könntest. Die Rhetorik: mit welchen von den Dingen, die es gibt, hat sie zu [d] tun? Wie zum Beispiel die Webkunst mit der Herstellung von Kleidung. Nicht wahr?

GO.: Ja.

SO.: Also auch die Musik mit der Herstellung von Melodien?

GO.: Ja.

SO.: Bei der Hera, Gorgias, ich bewundere deine Antworten. Du antwortest so kurz wie nur möglich.

GO.: Ich glaube, Sokrates, ich mache es ganz ordentlich.

SO.: Richtig. Mach weiter und antworte mir auf diese Weise auch über die Rhetorik: von welchen Dingen, die es gibt, ist sie ein Wissen?

GO.: Von Worten. [e]

SO.: Welchen, Gorgias? Etwa solchen, die erklären, mit welcher Lebensweise die Kranken gesund werden könnten?

GO.: Nein.

SO.: Also hat es die Rhetorik schon mal nicht mit allen Worten zu tun?

GO.: Tatsächlich nicht.

SO.: Aber sie macht ja doch fähig zum Reden?

GO.: Ja.

SO.: Also: worüber zu reden, darüber auch richtig zu urteilen?

GO.: Natürlich.

SO.: Macht also die Medizin, die wir gerade genannt haben, fähig [450] über die Kranken richtig zu urteilen und zu reden?

GO.: Zwangsläufig.

SO.: Auch die Medizin hat es also, wie es aussieht, mit Worten zu tun?

GO.: Ja.

SO.: Mit denen über die Krankheiten?

GO.: Ja.

SO.: Also hat es auch die Gymnastik mit Worten zu tun, mit denen über gute und schlechte Körperhaltung?

GO.: Selbstverständlich.

SO.: Und so steht es ja doch auch mit den anderen Künsten, Gorgias: jede von ihnen hat es mit den Worten zu tun, die sich auf die Sache beziehen, [b] zu der jede einzelne Kunst gehört.

GO.: Es sieht so aus.

SO.: Woran liegt es nun also, dass du die anderen Künste nicht rhetorisch nennst, obwohl sie es doch mit Worten zu tun haben, wenn du wirklich die Kunst Rhetorik nennst, die es mit Worten zu tun hat?

GO.: Weil, Sokrates, das ganze Wissen der anderen Künste es sozusagen mit der Arbeit der Hände und mit derartigen Tätigkeiten zu tun hat. Von der Rhetorik aber gibt es kein derartiges Produkt einer Handarbeit, sondern ihre ganze Tätigkeit und ihre Ausführung geschieht durch Worte. Deshalb behaupte ich, dass die Rhetorik eine Kunst ist, die es mit Worten [c] zu tun hat, und es ist richtig, wie ich behaupte.

SO.: Verstehe ich also, als was du sie bezeichnen willst? Vielleicht werde ich es genauer wissen. Aber antworte: es gibt für uns Künste, nicht wahr?

GO.: Ja.

SO.: Von allen Künsten, glaube ich, ist nun bei einigen die Tätigkeit mit den Händen die Hauptsache und sie brauchen das Wort nur in geringem Ausmaß, manche überhaupt nicht, sondern die Kunst könnte auch schweigend ausgeführt werden, wie Malerei und Bildhauerei und viele andere. Solche scheinst du mir zu meinen, mit denen nach deinen Worten [d] die Rhetorik nichts zu tun hat. Oder nicht?

GO.: Du vermutest ganz richtig, Sokrates.

SO.: Andere Künste aber gibt es doch, die alles mit dem Wort ausführen und die sozusagen entweder überhaupt kein Werk dazu brauchen oder nur in ganz geringem Ausmaß, wie z. B. die Zahlenlehre und die Rechenlehre und die Geometrie und die Kunst des Brettspieles und viele andere Künste. Einige von ihnen haben ungefähr gleich viel an Worten wie an Tätigkeiten, die meisten mehr an Worten, und überhaupt geschieht ihre ganze Tätigkeit und Ausführung durch Worte. Irgendeine von den [e] Künsten dieser Art scheinst du mir mit der Rhetorik zu meinen.

GO.: Du hast Recht.

SO.: Und trotzdem glaube ich, dass du keine von ihnen als Rhetorik bezeichnen willst, obwohl du es wörtlich so gesagt hast, dass die Kunst, die durch das Wort ihre Wirkung erreicht, die Rhetorik ist, und jemand, wenn er Schwierigkeiten in der Diskussion machen wollte, könnte einwenden: „Du nennst also, Gorgias, die Zahlenlehre Rhetorik?“ Aber ich glaube, dass du weder die Zahlenlehre noch die Geometrie als Rhetorik bezeichnest.

GO.: Es ist richtig, was du glaubst, Sokrates, und deine Annahme ist [451] berechtigt.

SO.: Mach nun weiter und schließ die Antwort auch ab, nach der ich dich gefragt habe. Denn da die Rhetorik eine von den Künsten ist, die sich überwiegend des Wortes bedienen, da es aber auch andere von dieser Art gibt, versuche zu sagen: Die auf welches Objekt bezogene und in Worten ihren Effekt erreichende Kunst ist die Rhetorik? So wie wenn mich jemand fragte über irgendeine der Künste, von denen ich gerade gesprochen habe: „Sokrates, was ist die Zahlenlehre?“ Dann könnte ich [b] ihm sagen, so wie du eben, dass sie eine von denen ist, die ihre Wirkung durch das Wort haben. Und wenn er mich weiter fragte: „Zu den auf welches Objekt ausgerichteten?“, könnte ich sagen: zu den auf das Gerade und Ungerade, wie viele beide sind. Wenn er aber wieder fragte: „Die Rechenkunst, als was für eine Kunst bezeichnest du sie?“, könnte ich sagen, dass auch sie zu denen gehört, die durch das Wort das Ganze ausführen. Und wenn er weiter fragte: „Die auf welches Objekt ausgerichtete?“, könnte ich wie die Leute, die in der Volksversammlung einen Zusatzantrag stellen, sagen, dass die Rechenkunst in allen anderen Punkten wie [c] die Zahlenlehre ist – sie richtet sich nämlich auf dasselbe Objekt, das Gerade und Ungerade – , sie unterscheidet sich aber insofern, als die Rechenkunst das Gerade und Ungerade betrachtet in ihrem quantitativen Verhältnis zu sich selbst und zueinander. Und wenn jemand nach der Astronomie fragte und ich sagte, dass auch sie alles durch das Wort ausführt: „Die Worte der Astronomie, worauf beziehen sie sich, Sokrates?“. Wenn er das sagte, könnte ich sagen: auf die Bewegung der Gestirne und der Sonne und des Mondes, wie sie sich der Geschwindigkeit nach zueinander verhalten.

GO.: Und du hättest Recht mit dem, was du sagst, Sokrates.

SO.: Mach also auch du weiter, Gorgias. Denn die Rhetorik gehört [d] doch zu den Künsten, die alles durch das Wort ausführen und bewirken. Nicht wahr?

GO.: Das stimmt.

SO.: Sag also: zu den auf welches Objekt ausgerichteten? Welches von den seienden Dingen ist es, auf das sich diese Worte beziehen, derer sich die Rhetorik bedient?

GO.: Die größten der menschlichen Dinge, Sokrates, und die besten.

SO.: Aber, Gorgias, auch über das, was du da sagst, lässt sich streiten, und es ist noch keineswegs klar. Denn ich glaube, dass du bei den Symposien [e] Leute dieses Skolion hast singen hören, in dem sie beim Singen aufzählen: Gesund zu sein ist das Beste, das Zweitbeste ist, schön zu sein, das Dritte – wie der Dichter des Skolions sagt – reich zu sein ohne Trug.

GO.: Ja, ich habe es gehört. Aber worauf willst du damit hinaus?

SO.: Darauf: wenn hier und jetzt die Hersteller der Güter, die der [452] Dichter des Skolions gepriesen hat, an dich heranträten, der Arzt und der Sportlehrer und der Geschäftsmann, und es sagte zuerst der Arzt: „Sokrates, Gorgias täuscht dich. Denn nicht seine Kunst geht auf das größte Gut für die Menschen, sondern meine“ – wenn ich ihn dann fragte: Wer bist du, dass du das sagst?, würde er vielleicht sagen: „Ein Arzt“. Was also sagst du? Ist etwa das Werk deiner Kunst das größte Gut? „Natürlich, Sokrates,“ wird er vielleicht sagen. „Welches größere Gut gibt es denn für die Menschen als die Gesundheit?“ Und wenn dann nach ihm der Sportlehrer [b] sagte: „Auch ich, Sokrates, müsste mich wundern, wenn Gorgias dir ein größeres Gut von seiner Kunst vorführen könnte als ich von der meinen“, würde ich dann auch zu ihm sagen: Du, wer bist du denn, Mensch, und was ist deine Leistung? „Sportlehrer“ wird er sagen, „und meine Leistung ist es die Menschen körperlich schön und stark zu machen“. Nach dem Sportlehrer könnte der Geschäftsmann sagen – voller Verachtung für alle, glaube ich – „Schau doch nur, Sokrates, ob sich dir [c] ein größeres Gut als der Reichtum zeigt, bei Gorgias oder bei irgendeinem anderen“. Wir könnten nun zu ihm sagen: „Was bedeutet das? Bist du etwa sein Erzeuger?“ Er wird es wohl behaupten. „Wer bist du?“ „Geschäftsmann“. Was nun? Wir werden fragen: „Ist nach deinem Urteil das größte Gut für die Menschen der Reichtum?“ „Natürlich“, wird er sagen. Wir könnten sagen: „Und doch erhebt dieser Gorgias da den Anspruch, die Kunst, die bei ihm ist, schaffe ein größeres Gut als deine“. Es ist klar, dass er darauf fragen könnte: „Und was ist dieses Gut? Gorgias soll antworten!“ Mach also weiter, Gorgias, nimm an, dass du von jenen gefragt [d] wirst und auch von mir, und antworte, was das ist, was deiner Behauptung nach das größte Gut für die Menschen ist und dessen Hersteller du angeblich bist.

GO.: Was wirklich das größte Gut ist, Sokrates, und dem die Menschen einerseits persönlich ihre Freiheit verdanken und dem zugleich der Einzelne verdankt, dass er in seiner Polis über die anderen herrscht.

SO.: Was meinst du nun damit?

GO.: Ich meine damit die Fähigkeit mit Worten zu überzeugen, im Gericht [e] die Richter, im Rat die Mitglieder des Rates, in der Volksversammlung die Mitglieder der Volksversammlung und in jeder Versammlung, was immer es für eine politische Versammlung ist. Und ich sage dir: kraft dieser Fähigkeit wirst du den Arzt als Sklaven haben, den Sportlehrer als Sklaven. Und es wird sich zeigen, dass dieser Geschäftsmann da für einen anderen die Geschäfte macht und nicht für sich selbst, sondern für dich, der du reden und die Menge überzeugen kannst.

SO.: Jetzt habe ich den Eindruck, Gorgias, dass du die Rhetorik ganz aus der Nähe zeigst, was für eine Kunst sie deiner Meinung nach ist. Und [453] wenn ich es einigermaßen verstehe, sagst du, dass die Rhetorik eine Produzentin von Überzeugung ist und dass ihr ganzes Tun und das Wesentliche an ihr darauf hinausläuft. Oder kannst du etwa sagen, dass die Rhetorik mehr auszurichten vermag als den Hörern Überzeugung in der Seele zu machen?

GO.: Nein, keineswegs, Sokrates, sondern du scheinst sie mir ausreichend zu definieren. Denn das ist das Wesentliche an ihr.

SO.: Hör mal, Gorgias! Du sollst nämlich wissen, dass ich überzeugt bin, wenn jemand im Gespräch mit einem anderen wirklich genau das [b] wissen will, worum das Gespräch geht, dass ich auch einer von diesen bin. Ich nehme an, du auch.

GO.: Was soll das heißen, Sokrates?

SO.: Ich werde es dir gleich sagen. Wisse wohl, dass ich nicht genau weiß, was denn diese von der Rhetorik erzielte Überzeugung ist, die du meinst, und wovon sie eine Überzeugung ist. Nein, aber ich vermute, was für eine du meinst und worüber. Nichtsdestoweniger werde ich dich fragen, was du mit der Überzeugung meinst, die von der Rhetorik bewirkt wird, und auf welche Dinge sie sich bezieht. Weshalb nun werde ich dich [c] fragen, obwohl ich es selber vermute, und warum sage ich es nicht selber? Nicht deinetwegen, sondern des Gespräches wegen, damit es so voranschreite, dass es uns möglichst klar mache, worüber geredet wird.

Denn schau dir einmal an, ob du den Eindruck hast, dass ich mit Recht weitere Fragen an dich richte. Wie wenn ich dich etwa fragte, welcher von den Malern Zeuxis ist. Wenn du mir sagtest, es ist der, der Lebewesen malt, könnte ich dir dann nicht mit Recht die Frage stellen, welche Lebewesen er malt und wo?

GO.: Selbstverständlich.

SO.: Doch wohl deshalb, weil es auch andere Maler gibt, die viele andere [d] Lebewesen malen?

GO.: Ja.

SO.: Wenn aber kein anderer als Zeuxis malte, dann hättest du richtig geantwortet?

GO.: Natürlich.

SO.: Mach also weiter und sag es auch für die Rhetorik. Glaubst du, dass allein die Rhetorik Überzeugung hervorbringt oder auch andere Künste? Ich meine Folgendes: wer irgend etwas lehrt, überzeugt er davon, was er lehrt, oder nicht?

GO.: Nein doch, Sokrates, sondern er überzeugt, wenn überhaupt jemand.

SO.: Lass uns dies nochmal bei denselben Künsten sagen, über die wir [e] gerade geredet haben. Die Arithmetik: belehrt sie uns nicht, wie groß der Bereich der Zahl ist, und tut dies nicht auch der arithmetische Mensch?

GO.: Selbstverständlich.

SO.: Also überzeugt sie auch?

GO.: Ja.

SO.: Produzentin von Überzeugung ist also auch die Zahlenlehre?

GO.: Es sieht so aus.

SO.: Also, wenn uns jemand fragt, von welcher Überzeugung und worüber, werden wir ihm wohl antworten: von der belehrenden über das Gerade und Ungerade, wie groß es ist. Und wir werden zeigen können, dass [454] alle anderen Künste, über die wir gerade gesprochen haben, Produzentinnen von Überzeugung sind und welcher Überzeugung und worüber. Oder nicht?

GO.: Ja.

SO.: Also ist Rhetorik nicht die einzige Produzentin von Überzeugung.

GO.: Du hast Recht.

SO.: Da sie also nicht allein diese Leistung erbringt, sondern auch andere, könnten wir mit Recht, wie beim Maler, den, der es behauptet, weiter fragen: die Rhetorik ist die Kunst welcher Art von Überzeugung und worüber? Oder scheint es dir nicht rechtens zu sein weiter zu fragen? [b]

GO.: Doch.

SO.: Antworte also, Gorgias, da ja auch du dieser Meinung bist!

GO.: Diese Überzeugung also meine ich, Sokrates, die in den Gerichten und den anderen Massenversammlungen, wie ich auch gerade gesagt habe, und darüber, was gerecht ist und ungerecht.

SO.: Ich habe auch tatsächlich vermutet, dass du diese Überzeugung und die über solche Dinge meinst, Gorgias. Und wundere dich nicht, wenn ich auch etwas später dich wieder nach so etwas frage, was klar zu sein scheint, wonach ich aber trotzdem weiterfrage. Denn ich frage, wie gesagt, [c] damit das Gespräch folgerichtig abläuft, nicht deinetwegen, sondern damit wir uns nicht angewöhnen, auf Grund von Vermutungen einander die Worte aus dem Munde zu nehmen, sondern damit du das, was du zu sagen hast, dem Thema gemäß ausführen kannst, wie du jeweils willst.

GO.: Und ich glaube, dass du es richtig machst, Sokrates.

SO.: Also machen wir weiter und betrachten wir auch dieses: du bezeichnest etwas als „gelernt haben“?

GO.: Ja.

SO.: Und weiter: „eine Überzeugung gewonnen haben“?

GO.: Ja.

SO.: Scheint dir nun „gelernt haben“ und „überzeugt sein“ [d] identisch zu sein und ebenso „Lernen“ und „Überzeugung“, oder etwas anderes?

GO.: Ich für meine Person, Sokrates, glaube: etwas anderes.

SO.: Deine Meinung ist richtig. Du kannst es daraus erkennen. Wenn dich nämlich jemand fragte: „Gibt es, Gorgias, falsche und richtige Überzeugung?“, würdest du wohl ja sagen, glaube ich.

GO.: Ja.

SO.: Weiter: gibt es falsches und richtiges Wissen?

GO.: Auf keinen Fall.

SO.: Also ist es klar, dass es nicht dasselbe ist.

GO.: Du hast Recht.

SO.: Aber es ist doch so, dass auch diejenigen, die gelernt haben, überzeugt [e] worden sind, ebenso wie die, die eine Überzeugung gewonnen haben?

GO.: Das stimmt.

SO.: Ist es dir also recht, dass wir zwei Arten von Überzeugung ansetzen, die eine, die Überzeugung vermittelt ohne Wissen, und eine zweite, die Wissen vermittelt?

GO.: Selbstverständlich.

SO.: Welche dieser beiden Arten von Überzeugung bewirkt nun die Rhetorik in den Gerichten und in den anderen Massenversammlungen über das Gerechte und das Ungerechte? Die, aus der Überzeugtsein ohne Wissen, oder die, aus der Wissen entsteht?

GO.: Es ist doch wohl klar, Sokrates: diejenige, aus der das Überzeugtsein entsteht.

SO.: Die Rhetorik ist also, wie es aussieht, Produzentin einer auf Überzeugen, nicht auf Belehrung basierenden Überzeugung über das Gerechte [455] und Ungerechte.

GO.: Ja.

SO.: Also belehrt der Rhetor auch nicht Gerichte und die anderen Massenversammlungen über das Gerechte und Ungerechte, sondern er vermittelt nur eine Überzeugung. Denn er ist doch wohl kaum fähig eine solche Menge in kurzer Zeit so große Dinge zu lehren.

GO.: Wirklich nicht.

SO.: Also los! Schauen wir uns einmal an, was wir denn eigentlich über die Rhetorik sagen. Denn ich kann auch selbst noch nicht klar erfassen, [b] was ich sagen soll. Wenn die Polis eine Versammlung hat über die Wahl von Ärzten oder Schiffsbaumeistern oder sonst einer Sorte von Fachleuten, dann wird der Fachmann in der Rhetorik doch wohl nicht unter den Ratgebern sein? Denn es ist ja klar, dass bei jeder Wahl der kompetenteste Fachmann gewählt werden muss. Auch nicht, wenn es um den Bau von Mauern oder die Anlage von Häfen oder Schiffswerften geht, sondern die Baumeister. Auch nicht, wenn über die Wahl von Strategen beraten wird oder über eine bestimmte Aufstellung der Truppen gegen Feinde oder über die Eroberung von Orten, sondern dann werden die [c] Fachleute auf dem Gebiet der Strategie den Rat erteilen und nicht die Fachleute der Rhetorik. Oder was sagst du, Gorgias, zu solchen Dingen? Denn da du ja behauptest, selbst ein Rhetor zu sein und andere zu Fachleuten in der Rhetorik zu machen, ist es gut und richtig die Dinge deiner Kunst von dir zu erfahren. Und sei überzeugt, dass es mir jetzt auch um deine Sache geht. Vielleicht will jemand von den Leuten hier drinnen dein Schüler werden, wie ich es ziemlich vielen anmerke, die sich vielleicht schämen dich zu befragen. Wenn du nun von mir befragt wirst, dann gehe davon aus, dass du auch von ihnen befragt wirst: „Was werden [d] wir davon haben, Gorgias, wenn wir mit dir zusammen sind? In welchen Angelegenheiten werden wir der Polis Rat erteilen können? Nur über gerecht und ungerecht oder auch darüber, wovon Sokrates eben gesprochen hat?“ Versuche also ihnen zu antworten!

GO.: Ja, Sokrates, ich werde versuchen dir die ganze Fähigkeit und Wirkung der Rhetorik deutlich zu enthüllen. Du selbst hast nämlich gut ins Thema eingeführt. Du weißt ja wohl, dass diese Schiffswerften und die Mauern der Athener und die Hafenanlagen auf den Rat des Themistokles [e] entstanden sind, anderes auf den Rat des Perikles, aber nicht auf den der Fachleute.

SO.: Dies wird erzählt, Gorgias, über Themistokles. Den Perikles habe ich mehrmals selbst gehört, als er uns die Ratschläge gab über die mittlere Mauer.

GO.: Und auch wenn eine Wahl ist von solchen Leuten, von denen du [456] eben geredet hast, Sokrates, dann siehst du, dass es die Rhetoren sind, die Ratschläge erteilen und die ihre Meinung darüber durchbringen.

SO.: Darüber wundere ich mich auch, Gorgias, und ich frage mich schon lange, was für eine Wirkung die Rhetorik hat. Sie scheint mir irgendwie dämonisch groß zu sein, wenn ich es so betrachte.

GO.: Wenn du erst alles wüsstest, Sokrates! Denn sie fasst sozusagen alle Fähigkeiten zusammen und ordnet sie sich unter. Ich werde dir einen großen Beweis dafür geben. Es ist schon oft vorgekommen, dass ich zusammen [b] mit meinem Bruder und den anderen Ärzten zu einem Kranken gegangen bin, der nicht bereit war die Medizin zu trinken oder sich vom Arzt schneiden oder brennen zu lassen. Der Arzt konnte ihn nicht überzeugen, ich habe ihn überzeugt, mit keiner anderen Kunst als der rhetorischen. Ich behaupte auch: wenn in eine beliebige Stadt ein Rhetor käme und ein Arzt und es darum ginge in der Volksversammlung oder in sonst einem Gremium mit dem Wort auszufechten, wer von beiden als Arzt gewählt werden soll, dann würde der Arzt nirgends in Erscheinung treten, sondern gewählt würde, wenn er es darauf anlegte, derjenige, der reden [c] kann. Und wenn er gegen einen beliebigen anderen Fachmann konkurrieren müsste, dürfte wohl der Rhetor mehr als jeder andere überzeugen ihn zu wählen. Denn es gibt nichts, worüber der Rhetor nicht überzeugender sprechen könnte vor einer Menge als irgendeiner von den Fachleuten. So groß und von solcher Art ist also die Fähigkeit und Wirkung der Kunst. Man muss jedoch, Sokrates, die Rhetorik so anwenden wie auch jede andere Kampfsportart. Denn auch sonst darf man eine Kampfsportart [d] nicht schon deshalb gegen alle Menschen anwenden, weil einer das Boxen und den Allkampf und den Waffenkampf gelernt hat, so dass er Freunden und Feinden überlegen ist. Deswegen darf man die Freunde nicht schlagen oder stechen oder töten. Und auch, bei Zeus, wenn jemand die Palästra besucht, in guter körperlicher Verfassung ist und boxen kann, und wenn er dann seinen Vater schlägt und die Mutter oder jemanden anderen aus dem Verwandten- und Freundeskreis, so darf man deshalb nicht die Sportlehrer und die Lehrer des Waffenkampfes verabscheuen [e] und aus den Städten herauswerfen. Denn diese haben es vermittelt, damit man es in gerechter Weise anwende, gegen die Feinde und gegen Leute, die Unrecht begehen, zur Verteidigung, nicht um anzufangen. Sie aber drehen die Sache um und wenden ihre Kraft und ihre Kunst nicht richtig [457] an. Also ist es nicht so, dass die Lehrer schlecht sind, und auch die Kunst ist deswegen weder schuld noch schlecht, sondern meines Erachtens diejenigen, die sie nicht richtig anwenden. Dasselbe gilt auch für die Rhetorik. Denn der Rhetor hat die Fähigkeit zu allen Leuten und über alles zu reden, und so ist er überzeugender in den Massenversammlungen, über welches Thema – kurz gesagt – er auch immer will. Doch deshalb darf er trotzdem [b] den Ärzten nicht ihr Ansehen nehmen – weil er es tun könnte – und auch den anderen Fachleuten nicht, sondern man muss auch die Rhetorik gerecht anwenden, so wie auch den Kampfsport. Wenn jemand, meine ich, ein Rhetor geworden ist und dann mit dieser Fähigkeit und dieser Kunst Unrecht begeht, darf man nicht den Lehrer hassen und aus den Städten herauswerfen. Denn dieser hat sie zum gerechten Gebrauch vermittelt, jener wendet sie im entgegengesetzten Sinn an. Es ist also gerecht [c] den zu verabscheuen und herauszuwerfen und zu töten, der sie nicht richtig anwendet, nicht den Lehrer.

SO.: Ich glaube, Gorgias, dass auch du Erfahrung hast in vielen Gesprächen und dass du dabei Folgendes wahrgenommen hast: wenn Leute miteinander festlegen, worüber sie sich unterhalten und sich gegenseitig belehren und belehren lassen wollen, können sie nicht leicht ihre Unterhaltungen auch so beenden. Sondern wenn sie in einem Punkt verschiedener [d] Meinung sind und einer erklärt, der andere habe nicht Recht oder rede nicht klar, dann sind sie böse und glauben, das sei aus persönlicher Animosität gegen sie gesagt, aus Rechthaberei und nicht aus dem Bestreben das zu suchen, was im Gespräch zur Diskussion steht. Und am Ende gehen manche in sehr beschämender Art und Weise auseinander, sie sind beschimpft worden und haben sich gegenseitig solche Dinge gesagt und angehört, dass sich auch die Anwesenden ärgern, über sich selbst, weil sie solchen Leuten haben zuhören wollen. Weshalb sage ich das? Weil ich [e] den Eindruck habe, dass du jetzt Dinge sagst, die nicht ganz aus dem folgen und nicht mit dem übereinstimmen, was du zuerst über die Rhetorik gesagt hast. Ich habe nun Angst dich zu kritisieren und zu widerlegen, damit du nicht glaubst, ich argumentiere rechthaberisch nicht auf die Sache hin, damit sie klar wird, sondern gegen dich persönlich. Wenn du auch zu [458] den Menschen gehörst, zu denen ich gehöre, würde ich dich gerne weiter befragen. Wenn nicht, lasse ich es lieber. Zu welchen Menschen gehöre ich? Zu denen, die sich gerne prüfen und widerlegen lassen, wenn ich etwas Falsches sage, die aber auch gerne prüfen und widerlegen, falls jemand etwas Falsches sagen sollte, denen es jedoch nicht weniger Freude macht geprüft und widerlegt zu werden als zu prüfen und zu widerlegen. Denn dies halte ich für das größere Gut, insofern es ein größeres Gut ist selbst vom größten Übel befreit zu werden als einen anderen davon zu befreien. Denn ich glaube, für einen Menschen ist kein Übel so groß wie eine falsche Meinung darüber, worüber wir gerade reden. Wenn du nun [b] sagst, dass du auch so einer bist, dann wollen wir uns unterhalten. Wenn du aber glaubst wir sollten es lassen, dann lassen wir es sein und beenden das Gespräch.

Tasuta katkend on lõppenud.

€2,99