Loe raamatut: «Ausbilden nach 4K (E-Book)»
Saskia Sterel, Manfred Pfiffner, Claudio Caduff
Ausbilden nach 4K
Ein Bildungsschritt in die Zukunft
ISBN Print: 978-3-0355-0778-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1206-9
1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 hep verlag ag, Bern
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Einleitung
Teil I Im Dunkel des gelebten Augenblicks – eine Zeitdiagnose
1 Die Welt aus dem Lot?
2 Die Veränderung der Wirtschaft
2.1 Industrie 4.0 und Arbeit 4.0
2.2 Wandel von Berufen
2.3 Postkapitalismus
2.4 Ökonomisierung von Gesellschaft und Kultur
3 Digitalisierung
3.1 Netzwerkgesellschaft
3.2 Veränderte Produktionsverhältnisse
3.3 Big Data
3.4 Microtargeting und Bullshit
4 Kooperation
4.1 Die Evolution der Kooperation
4.2 Kooperation oder Defektion
4.3 Direkte Reziprozität
4.4 Die Bedeutung der Reputation
4.5 Kooperation und menschliche Kommunikation
4.6 Tribalismus
5 Freiheit und Autonomie
5.1 Selbstentmündigung
5.2 Transparenz- und Kontrollgesellschaft
5.3 Identität in der Postmoderne
5.4 Redefreiheit in der vernetzten Welt
6 Die postmoderne Befindlichkeit
6.1 Therapeutisches Zeitalter
6.2 Weltbeziehung
7 Die Zukunft des Lernens
7.1 Konstruktivismus und Kompetenzen
7.2 Digitale Bildungsrevolution
Teil II Bildung und Arbeit im 21. Jahrhundert – und die Folgen
1 Bildung im 21. Jahrhundert
1.1 Weltorientierung, Wissen, Verstehen
1.2 Handeln und Freiheit
1.3 Perspektiven
2 Arbeit im 21. Jahrhundert
2.1 Dynamische Qualifikationen
2.2 Berufliches Selbstverständnis
2.3 Partizipations- und Steuerungsansprüche
2.4 Auswirkungen auf die Bildung
Teil III 4K – ein neuer Ansatz
1 Die Herkunft der 4K
1.1 Blick zurück: Schlüsselqualifikationen und Schlüsselkompetenzen
1.2 Megatrends und Kompetenzen für das 21. Jahrhundert
1.3 21ST Century Skills Frameworks
1.4 4Cs? Oder 8Cs? Oder doch 7C × 3R?
2 Die Bedeutung der 4K
2.1 Kritisches Denken und Problemlösen (Critical Thinking and Problem Solving)
2.2 Kommunikation (Communication)
2.3 Kooperation (Collaboration)
2.4 Kreativität und Innovation (Creativity and Innovation)
3 Das 4K-Studienmodell der Pädagogischen Hochschule Zürich
3.1 Theoretische Voraussetzungen
3.2 Didaktische Leitlinien und Prinzipien
3.3 Qualitätsstandards
3.4 Praktische Umsetzung in Lerngefäßen
3.5 Modulstruktur
3.6 Das Qualifikationsverfahren
3.7 Evaluation des Ausbildungsmodells
4 Konzeptuelle Überlegungen zur Ausbildung von Berufsbildungsverantwortlichen
4.1 Rahmenbedingungen
4.2 Die Haltung der Dozierenden
Teil IV Konsequenzen für die Berufsbildung – ein Ausblick
1 Ausrichtung an der Arbeitswelt 4.0
2 Erweiterte Formen der (Lernort-)Kooperation
3 Lebenslanges Lernen: Kompetenzentwicklung in der beruflichen Grundbildung
4 Curricula
5 Professionalisierung der Berufsbildung
6 Thesen
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Standortbestimmung: Auftrag
2 Standortbestimmung: Beispiel eines Studierenden
3 Rückmeldung zur Standortbestimmung
4 Umsetzungsvorhaben des Studierenden
Autorin und Autoren
Vorwort
VORWORT
Braucht es noch ein Buch über Bildung? Droht ein weiteres nicht einfach übersehen zu werden im Meer der Publikationen zu diesem Thema? Bildungsforscherinnen, Pädagogen, Didaktikerinnen, Soziologen, Ökonominnen, Philosophen – sie alle haben sich in den letzten Jahren intensiv Gedanken über die «Bildung der Zukunft» gemacht, wie es jeweils verheißungsvoll heißt. Und sie haben seitenweise Konzepte entwickelt, wie die Bildung, eines der wichtigsten gesellschaftlichen Güter, den künftigen Herausforderungen unserer Arbeits- und Lebenswelt begegnen sollte.
Nicht wenige Publikationen lassen uns enttäuscht und ratlos zurück. Sie sind eher Ausdruck des rasenden Stillstands, der unsere Zeit prägt, als eine Antwort auf die drängendsten Fragen, die sich im Bildungsbereich stellen. Nicht so die vorliegende Publikation. Eine Frage daraus sei hier stellvertretend angeführt: Welche Bildung braucht der Mensch im 21. Jahrhundert? Und zwar der Mensch in seinen verschiedenen Identitäten und Rollen: als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer, als Bürger und Bürgerin, als Konsumentin und Konsument, als Mann und Frau.
Das vorliegende Buch wird man nicht übersehen können. Davon bin ich aus drei Gründen überzeugt. Erstens: Im Untertitel ist die Rede von einem «Bildungsschritt in die Zukunft». Das ist bescheiden formuliert und deshalb sympathisch. Hinter einem bescheidenen Auftritt stecken oft viel Fachwissen, ein durchdachtes Konzept und kreative Ideen. Bereits die Lektüre der ersten Seiten zeigt, dass dies so ist.
Zweitens: Im Buch werden der Bildungsdiskurs der letzten Jahre und die Herausforderungen der Zeit originell verknüpft und verdichtet, sodass daraus die sogenannten 4K resultieren: kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation, Kooperation, Kreativität und Innovation. Das sind genau jene Kompetenzen, die ein Mensch im 21. Jahrhundert braucht, um einerseits in der Gesellschaft bestehen und andererseits diese mitgestalten zu können – in seinen verschiedenen Identitäten und Rollen.
Drittens: Das Buch ist innovativ! Die Autorin und die Autoren entwickeln auf der Basis der «4K» ein Ausbildungsmodell für die Berufsbildung, das in dieser Art neu und zukunftsweisend ist.
Kognitive, soziale und emotionale Kompetenz als Bedingungen für gesellschaftliche Teilhabe – das ist das Grundverständnis von EDUCATION Y[1] in all seinen Bildungsprogrammen. In den Autoren und der Autorin dieses Buches sehen wir von EDUCATION Y Kollegen, die in die gleiche Richtung arbeiten: Wir nennen die Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts «21K», an der Pädagogischen Hochschule Zürich heißen sie «4K» – gemeint ist dasselbe.
Prof. Dr. Rita Süssmuth
Vorstandspräsidentin von EDUCATION Y und ehemalige Familienministerin und Bundestagspräsidentin
Einleitung
EINLEITUNG
Die Bildung ist in vieler Munde und Gegenstand zahlreicher Debatten, Diskussionen, Essays und Parteiprogramme. Während die einen optimistisch sind und ihr weiterhin ein gutes Zeugnis ausstellen, ist das Bildungswesen für andere eine Baustelle. Begriffe wie «Bildungsreform», «Bildungsrevolution» oder «Bildungsschock», «Bildungsblockade» und «Bildungschaos» zeugen davon. Es erweckt den Anschein, als sei der Begriff «Bildung» zur Worthülse verkommen und jeder ein (Bildungs-)Experte, jede eine (Bildungs-)Expertin.
Das Schweizer Bildungssystem ist zweifellos ein Exportschlager. Es gibt weltweit 17 Schweizerschulen im Ausland, in denen längst nicht mehr nur die Kinder von Auslandschweizerinnen und -schweizern unterrichtet werden. Das Ausland interessiert sich für das Schweizer Berufsbildungsmodell, viele Projekte der internationalen Berufsbildungszusammenarbeit sind Belege dafür. Die anhaltend geringe Jugendarbeitslosigkeit wird zu einem großen Teil der dualen Berufsbildung zugeschrieben. Und auch bei der aktuellen PISA-Studie schneiden die Schweizer 15-Jährigen größtenteils gut ab. In der Mathematik belegt die Schweiz einen Spitzenplatz, und in den Naturwissenschaften ist sie signifikant besser als der OECD-Durchschnitt.
Aber ist das Schweizer Bildungssystem so gut, wie es sein könnte? Die Tatsache, dass bis zu 25 Prozent der Lehrverträge aufgelöst werden und dass laut der Stiftung für Alphabetisierung und Grundbildung Schweiz (SAGS) rund 800 000 Personen einen einfachen Text nicht verstehen, obwohl sie die obligatorischen Schuljahre absolviert haben, lässt aufhorchen. Muss deswegen aber gleich von einer Bildungskrise gesprochen werden? Viele selbsternannte Schulreformer behaupten genau das in ihren Populärpublikationen, vereinfachen aber auch nur komplexe Bildungsthemen und kommen über simple Weisheiten und Worthülsen nicht hinaus.
Unbestritten müssen sich Bildungsinstitutionen heute vielen Herausforderungen stellen: Arbeit 4.0, Fachkräftemangel, Digitalisierung, Chancengleichheit und Selektion, Wandel der Berufe – um nur einige zu nennen. Wie gelingt Bildung und mit welchen Kompetenzen werden Lernende und Studierende fit für das 21. Jahrhundert gemacht?
Die National Education Association, die größte amerikanische Gewerkschaft, der Lehrerinnen und Lehrer aller Schulstufen angehören, befragte vor einigen Jahren Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Feldern, was aus ihrer Sicht im 21. Jahrhundert die zentralen «Skills» im Bildungsbereich sein werden. Vier spezifische Kompetenzen werden künftig im Zentrum stehen, so die nahezu einhellige Meinung der Befragten. Die vier Kompetenzen wurden schnell bekannt als «Four Cs», die 4K: Kooperation, Kommunikation, Kreativität und Innovation sowie kritisches Denken und Problemlösen. Die 4K sind ein Kondensat aus einem ganzen Bündel wichtiger Kompetenzen und ein Rüstzeug für unsere (Arbeits-)Welt. Für Lernende aller Schulstufen bleiben namentlich Sprachen, Literatur, Künste, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und andere Fächer selbstverständlich weiterhin bedeutsam. Bildungsinstitutionen sollen Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen vermitteln, die die Grundlagen für eine moderne Gesellschaft darstellen und mündige Persönlichkeiten hervorbringen.
Das vorliegende Buch zeigt auf, warum mit den 4K ein Bildungsschritt in die Zukunft gelingt. Nach einer Zeitdiagnose in Teil I, in dem wir gesellschaftliche Strukturen und Prozesse herausarbeiten, beschäftigen wir uns in Teil II mit Bildung und Arbeit im 21. Jahrhundert und deren Folgen. Teil III bildet das Kernstück des Buches. Darin stellen wir das 4K-Modell vor, einen an der Pädagogischen Hochschule Zürich entwickelten Studiengang, der angehenden Lehrerinnen und Lehrern an Berufsfachschulen eine fundierte didaktisch-pädagogische Ausbildung bietet. In diesem Studiengang wird nach den geschilderten 4K gelehrt und gelernt. Konkret heißt dies unter anderem: Studierende der Ausbildungsgänge «Berufskundlicher Unterricht» und «Allgemeinbildender Unterricht» werden gemeinsam ausgebildet. Im letzten Teil des Buches wagen wir einen Ausblick und zeigen Konsequenzen auf, die sich aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel und den 4K für die Berufsbildung ergeben.
TEIL I IM DUNKEL DES GELEBTEN AUGENBLICKS – EINE ZEITDIAGNOSE
1 Die Welt aus dem Lot?
TEIL I
1DIE WELT AUS DEM LOT?
(MÜLLER 2016)
Das Bild irritiert: ein Eisbär auf der braunen Tundra. Frühlingshaft warm ist es gemäß der «New York Times» gegenwärtig in der Arktis, das Eis schmilzt rapide, und die Bären werden notgedrungen zu Festlandtieren, weiße Flecken auf braunem Grund. Natürlich: Nie war die Natur statisch, immer hat sie sich verändert. Doch so schnell? So unaufhaltsam? So unerklärlich? Auch weiße Weihnachten, diese im kollektiven Gedächtnis eingelagerten Bilder der Kälte, gegen die sich die Wärme der Kerzen fast spürbar abhebt – weiße Weihnachten gibt es faktisch nicht mehr. Aber so soll es doch eigentlich sein, und dass das Rieseln der Flocken ausbleibt, bestätigt nur einen Eindruck: Die Welt ist aus dem Lot.
Das Jahr 2016 wirkt da als Verstärker. Putin lässt in Aleppo Spitäler bombardieren, und die Rechtspopulisten in Europa bewundern ihn, Diktator Assad kämpft mit Giftgas, und keiner hindert ihn daran. Trump will wieder mehr Atombomben bauen, und alle bleiben stumm. China erobert schrittweise das Südchinesische Meer, und alle sind ratlos. In Berlin rast ein Terrorist in einen Weihnachtsmarkt, die Türkei wird zur Diktatur. Und in der Schweiz schwadronieren manche Leute von einer Revolution, was einen Frontalangriff auf einen zentralen Wert schweizerischer Politkultur – die stete Suche nach Konsens – darstellt.
Was der Schweizer Journalist Felix E. Müller in dieser Passage seines Kommentars am Weihnachtstag 2016 zum Ausdruck bringt, ist ein Zeitgefühl, das vor allem in Europa weit verbreitet ist. Auch die Schweiz ist davon nicht ausgenommen, obwohl die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung sehr hoch ist. Die Ergebnisse des neusten Sozialberichts werden denn auch unter dem Titel Zufriedenheit, Glück und ein erfülltes Leben in der Schweiz zusammengefasst (Ehrler 2016). Man kann sagen, das subjektive alltägliche Empfinden und die Wahrnehmung der allgemeinen Weltlage klaffen weit auseinander. Es sind die in den Medien nicht selten reißerisch dargestellten Zeitdiagnosen, die vielen Menschen das Gefühl vermitteln: die Welt ist aus dem Lot. Die Rede ist unter anderem von der Konsumgesellschaft, vom gläsernen Menschen, von der Netzwerkgesellschaft, vom Ende der Arbeit, von Globalisierung, von Prekarisierung, von Einwanderungsgesellschaften, von Digitalgesellschaften. Und diese vielfältigen und zum Teil sich widersprechenden Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen verweisen auf heterogene Strukturen und Entwicklungen, die kein homogenes Gegenwartsverständnis zulassen und dem Blick in die Zukunft ein Bild des Chaos offenbaren.
Historische Vergleiche drängen sich auf, auch wenn die Geschichtswissenschaft solchen gegenüber sehr zurückhaltend ist (vgl. z. B. Haupt & Kocka 1996, S. 53). Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum zieht Parallelen zur Zwischenkriegszeit im Europa des letzten Jahrhunderts, in der sich innerhalb von zwei Jahrzehnten viele demokratische Staaten in Diktaturen wandelten. Sie erachtet die Demokratie durch den Rechtspopulismus als hoch gefährdet: «Ich kann mir noch mehr Einparteienstaaten vorstellen, wie es ihn in Ungarn faktisch schon gibt. Die Techniken dafür sind jetzt bekannt. Die Russen machen es, die Türken, die Polen versuchen es. Ja, ich kann mir für die nächste Dekade das Ende der EU und der Nato vorstellen. Es wird ein anderes Europa sein – und es wird ein finsteres» (Applebaum 2016).
Nicht selten werden auch Ähnlichkeiten mit der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa gesehen. Im Taumelnden Kontinent verweist der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom (2009) auf zahlreiche Quellen, in denen die damaligen Menschen ihre Zeit als unsicher und erregt empfanden, und er zieht explizit Parallelen zu unserer Zeit:
(BLOM 2009, S. 12)
Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, von Terrorismus, neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt leben, die ins Unbekannte rast.
Bereits 1900 befanden sich laut Blom die Männer in einer tiefen Identitätskrise, wie sie auch heute wieder diagnostiziert wird.
Mit ihren Vergleichen zeichnen beide, Applebaum wie Blom, mögliche düstere Szenarien, denn wir wissen: Der taumelnde Kontinent stolperte damals in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, und knapp 20 Jahre später entfachten ein radikaler Nationalismus und Rassismus einen Weltenbrand.
Doch Geschichte wiederholt sich nie, und wir leben im «Dunkel des gelebten Augenblicks». Damit bezeichnete der deutsche Philosoph Ernst Bloch seine Beobachtung, dass aktuelles Bewusstsein nur für ein soeben vergangenes oder ein erwartetes Erlebnis da ist. «Der gelebte Augenblick selbst bleibt in seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar umso sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster» (Bloch 2009, S. 338). Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1996) hat diesen Gedanken aufgenommen und für ganze Menschengruppen und Gesellschaften so interpretiert, dass diese zwar folgenreiche Augenblicke als Ereignisse erlebten, sie könnten aber nicht erahnen, was diese für die Zukunft bedeuten. Als historischen Beleg dafür führt Mayer unter anderem den 30. Januar 1933 an. Hitler wurde zum Reichskanzler ernannt, und nachts zogen die Nationalsozialisten mit Fackeln singend und grölend durch Berlin, so ihre neu gewonnene Macht demonstrierend. Dies machte sicher einen starken Eindruck auf die Zeitgenossen – dennoch konnte damals niemand ahnen, dass das der Schicksalstag des 20. Jahrhunderts war. Erst die Geschichtsschreibung macht aus Ereignissen historisch Bedeutsames, Folgenreiches; und umgekehrt erweisen sich Ereignisse, die Zeitgenossen als bedeutend empfinden, im Nachhinein als praktisch folgenlos. War die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ein Wendepunkt? Wir können es nicht wissen.
Natürlich wird die Zukunft in der Wissenschaft und in den Medien nicht nur düster gezeichnet. Vor allem technische und wirtschaftliche Innovationen werden als Lösungen der Probleme der Menschheit dargestellt. Unter dem Titel Die Weltveränderer beschreibt die Journalistin Charlotte Jacquemart solche Innovationen (2017): Das Internet wird 100-mal schneller als heute, die sogenannte Genschere CRISPR ermöglicht präzise Eingriffe ins Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen, und der Roboter wird als größte industrielle Revolution angepriesen.
Die beiden Ökonomen Ian Goldin und Chris Kutarna sehen unsere Zeit als zweite Renaissance, in der die Menschheit vor einem Wendepunkt steht. Die Zeit der Renaissance war die bislang beste aller Zeiten, und sie hob sich kontrastreich von den finsteren Zeiten des vorherigen Jahrhunderts ab, in dem Kriege und die Pest dominierten (vgl. Goldin & Kutarna 2016, S. 104 f.). Dass dieses Renaissancebild aus geschichtswissenschaftlicher Sicht längst überholt ist, scheint die beiden Autoren nicht zu kümmern. Schon 1972 wies der Historiker Peter Burke in seinem epochalen Werk zur Renaissance in Italien nach, dass sich auch diese Zeit, wie die meisten anderen, zwischen Tradition und Erfindung bewegte.
(BURKE 1984, S. 29)
Man kann nicht erwarten, dass die Zeitgenossen die eigenen Leistungen zutreffend beschreiben. […] Wie so oft bei kulturellen Wandlungsprozessen, [sic] wurde das Neue dem Alten hinzugefügt, dieses wurde durch jenes aber nicht ersetzt; der Kulturwandel vollzog sich «additiv» nicht «substitutiv». Der Humanismus machte das Interesse an der scholastischen Philosophie keineswegs zunichte.
Dennoch, vor dem Hintergrund eines burckhardtschen Renaissancebildes zeichnen Goldin und Kutarna Parallelen zwischen dem damaligen Europa (gemeint ist jener Teil Europas, der vom Humanismus und der Renaissance beeinflusst war) und der Gegenwart: der Buchdruck damals – die digitalen Medien heute; Gutenberg damals – Zuckerberg heute. Und enthusiastisch wird Bill Gates aus dem Jahr 1995 zitiert und betont, wie recht er damals hatte:
(GATES 1995, ZITIERT AUS GOLDIN & KUTARNA 2016, S. 57)
Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern, an dem Sie in der Lage sein werden, ein Unternehmen zu führen, zu studieren, die Welt und ihre Kulturen zu erforschen, erstklassige Unterhaltung zu genießen, Freundschaften zu knüpfen, Stadtteilmärkte zu besuchen und entfernten Verwandten Fotos zu zeigen, ohne von Ihrem Schreibtisch oder Sessel aufzustehen.
In der Renaissance wie heute entstanden beziehungsweise entstehen ganz neue Vernetzungen: im Handel und in den Finanzen, durch kurzfristige (Tourismus) und langfristige (Migration) Mobilität. Und wie Leonardos vitruvianischer Mensch gegen Ende des 15. Jahrhunderts entsteht heute ein neuer Mensch – vernetzt, gesund, gebildet, genialisch, und mit ihm bricht ein neues goldenes Zeitalter an. Natürlich kann laut den beiden Autoren noch vieles schief gehen, die goldene Zukunft muss durch die Menschen erkämpft werden, indem das Potenzial der Genialität maximal ausgeschöpft, Wagemut und der Mut zum Scheitern gefördert werden. Es gilt, einen breiten und tiefen Wissensschatz zu bergen, die physischen und digitalen Grundlagen für einen Austausch in den Gemeinden zu stärken, und Tugenden wie Ehrlichkeit, Wagemut und Würde haben die ganze Entwicklung zu rahmen (ebd., S. 326–372).
Der Blick zurück in die Geschichte hilft, die Gegenwart zu verstehen. «Zukunft braucht Herkunft», wie der deutsche Philosoph Odo Marquard eine Essaysammlung (2003) betitelte. Wer aber mit historischen Vergleichen und Parallelen scheinbar klare Zukunftsprognosen stellt und gleichsam die Zukunft aus der Vergangenheit konstruiert, ist verhaftet im Historizismus des 19. Jahrhunderts und unterliegt der Illusion des zurückschauenden Determinismus.
Im Gegensatz dazu verstehen sich die nachfolgenden Gegenwartsbeschreibungen und Zukunftsdiagnosen als Versuch, gegenwärtige Entwicklungen, die heute im Fokus des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses stehen, ins Zentrum zu rücken. Wir sind uns dabei bewusst, dass diese Zeitdiagnose zweiter Ordnung nicht die Zukunft voraussagt. Einiges wird in ein paar Jahren und Jahrzehnten so sein, vieles wird ganz anders kommen. Der Lauf der Welt ist kontingent, und daher hören wir auf bedeutende Stimmen, vor allem auch auf einander widersprechende.
Wenn heute die Gegenwart diskutiert und Zukunftsszenarien entworfen werden, dann stehen zwei Megathemen, die eng miteinander verflochten sind, im Zentrum: die Veränderung der Wirtschaft und mithin der Arbeitswelt und die Digitalisierung. Optimistinnen und Optimisten sehen den Kapitalismus mit dem Konzept Industrie 4.0 und dem Beginn eines neuen Kondratjew-Zyklus[2] sowie mit der (digitalen) Vernetzung der Welt auf einer höheren Entwicklungsstufe zum Wohle der Menschheit. Theoretiker des Postkapitalismus hingegen prognostizieren das Ende des Kapitalismus und räsonieren über neue Wirtschaftsmodelle. Unsere hoch differenzierte Gesellschaft ist auf Kooperation angewiesen. Dennoch ist seit dem Aufkommen der Spieltheorie strittig, welche Kooperationsstrategien am erfolgreichsten sind – für das Individuum und für die Gesellschaft. Und bedeutet Kooperation in einer Gemeinschaft nicht gleichzeitig den Ausschluss anderer, herrscht letztlich immer noch Tribalismus? Neue Technologien, Digitalisierung und die Ökonomisierung des ganzen menschlichen Seins werfen auch Fragen zur Autonomie und Freiheit des Menschen auf. Wandelt sich die Disziplinargesellschaft zur Kontroll- und Transparenzgesellschaft? Inwiefern verändern sich unter diesen Einflüssen die Befindlichkeit und die moderne Seele? Wie gelingt in einer auf fortgesetzte Steigerung angelegten Gesellschaft echte Weltbeziehung? Kann es heute und in Zukunft eine gerechte Welt und ein gutes Leben geben? Und nicht zuletzt – wie sieht die Zukunft des Lernens aus? All diese Punkte werden in Teil I des Buches beleuchtet.