Loe raamatut: «Tod einer Kassenpatientin», lehekülg 2

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Der Sturz

Dabei hatte es schon vor dem Gutachterbesuch ein Malheur gegeben: Gerda war schwer gestürzt. Ich war nicht wenig erschrocken, als sie eines Abends nicht am Wohnzimmertisch, sondern ziemlich verstört auf ihrer Bettkante saß. Ihre Haare waren blutverschmiert, auch auf dem Fußboden war viel Blut. „Mein Gott, was ist passiert, Mutti?“ „Ich habe mir den Kopf am Bett gestoßen!“ „Wie ist das möglich?“ Ich schaute sie ungläubig an. Ihr Bett war rundherum dick gepolstert, nirgends eine scharfe Kante. Aber woher kam das viele Blut auf ihrem Kopf und dem Fußboden? Aber gestürzt war sie, daran gab es keinen Zweifel. Und verletzt war sie auch. Daher gab es nur eins: Die 112 musste angerufen werden, um Gerda schnellstmöglich ins Krankenhaus zu schaffen. Die Sanitäter kamen auch sofort und wieder fuhren wir zusammen in die Klinik, dieses Mal allerdings ohne irgendwelche Einwände und Bedenken seitens meiner Mutter. Gottseidank war für mich schon Wochenende und ich konnte so lange bei ihr bleiben, bis sie vollständig versorgt war.

Das Warten auf eine Untersuchung nahm natürlich einige Zeit in Anspruch, da sie an diesem Abend – wie immer freitagabends – beileibe nicht die einzige Patientin in der Notaufnahme war. Da sie den Urin nicht so lange halten konnte, bis ein Arzt Zeit für sie hatte, und auch die zuständige Krankenpflegerin anderweitig beschäftigt war, ergab sich mit der Zeit ein immer stärker drängendes Problem. Auf Gerdas Wunsch hin machte ich mich schließlich selbstständig auf die Suche nach einer Lösung, indem ich mich in der nicht gerade kleinen Aufnahmestation auf Wanderschaft begab. Mit dem Ergebnis, dass ich in irgendeine Situation hereinplatzte, in der es wirklich um Leben und Tod ging. Hier fand ich die gesuchte Pflegerin. Ganz klar, dass sie über mein plötzliches Auftauchen an diesem unpassenden Ort ziemlich erbost war. Also wurde ich sofort von ihr angepflaumt und musste unverrichteter Dinge zu Gerda zurückkehren. Einerseits hatte ich Verständnis für die Beschimpfungen, die ich mir anhören musste. Andererseits wusste ich aber auch, wie sehr eine volle Blase schmerzen kann, und war ärgerlich, dass meine Mutter weiter warten musste.

Am Ende war alles gut: Gerda lag tags darauf zufrieden auf irgendeiner Station der Klinik im komfortablen Krankenbett. Zufrieden auch deshalb, weil sie hier endlich den Rundum-Service genießen konnte, den sie zuhause bisher so schmerzlich vermissen musste. Und auch ich war zufrieden, denn die Ärzte hatten bei ihr nichts Ernstes festgestellt: Der Kopf war sorgfältig untersucht und kein irreparabler Schaden festgestellt worden. Das Ergebnis dieser Untersuchung wurde später im Gutachten des MDK wie folgt zitiert: „…schwerer Sturz…mit Platzwunde am Hinterkopf und Schädelhirntrauma.

Zu unserer allgemeinen Verwunderung schien dieser schwere Sturz Gerda erstaunlich wenig ausgemacht zu haben. Weder klagte sie über Kopfschmerzen, noch machte sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus einen lädierteren oder irgendwie verwirrteren Eindruck als zuvor. Tatsächlich konnten weder Petra noch ich selbst irgendeine wie auch immer geartete Wunde auf Gerdas Kopf entdecken, als sie wieder zuhause war. Die ganze Angelegenheit war für uns unerklärlich. Für mich, weil das Bett so gut gepolstert war, dass sich eigentlich niemand so daran verletzen konnte, dass Blut fließen musste. Und für Petra, weil sie auch bei genauerem Hinsehen überhaupt keine Verletzung am Kopf erkennen konnte. Weder eine Platzwunde, noch einen Beule, einen Bluterguss oder etwas Ähnliches.

Schließlich war es meine Frau, die mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit das Rätsel endlich löste: Am Tag nach dem Klinik-Aufenthalt, als wir alle wieder einigermaßen zur Ruhe gekommen waren, entdeckte sie bei Gerda eine dem Anschein nach von der Klinik unbeachtete und unversorgte Risswunde an ihrem linken Handgelenk. Es folgte ein kurzes Rätselraten, und dann lag die Wahrheit offen zutage: Mutti war wohl auch mit dem Kopf gegen das Bett gestoßen, sie hatte sich aber offensichtlich nicht am Kopf verletzt, sondern am Handgelenk. Das Blut, das vermeintlich aus einer Platzwunde am Kopf stammen sollte, war in Wirklichkeit aus ihrem linken Arm geflossen. Sie musste sich mehrfach mit der Hand über ihren Kopf gegangen sein, sodass das aus dem Handgelenk austretende Blut ihre Haare verschmiert hatte. Unglaublich, aber wahr: Die Ärzte in der Klinik waren allein nach dem äußeren Anschein gegangen (blutige Haare) und hatten so – trotz des größtmöglichen denkbaren technischen Aufwandes (Röntgen und Computer-Tomografie) – haarscharf an den medizinischen Tatsachen vorbei diagnostiziert. Leider sollte das kein Einzelfall bleiben…

112 hat Diskussionsbedarf

Der Ausflug in die Klinik und auch der Besuch des Gutachters waren schnell vergessen, denn meine Mutter versorgte uns jetzt von Woche zu Woche mit neuen Herausforderungen und Aufregungen. Zuerst ging ihre provisorische Gehhilfe, der Teewagen kaputt. Ein Rollator war zwar schon bestellt, aber noch nicht geliefert. Also musste schnell ein weiterer provisorischer Ersatz in Form eines kurz vor Ladenschluss im Möbelgeschäft gekauften, mit Rollen versehenen Computertischchens besorgt werden.

Als das Problem gelöst war, war plötzlich ihre „gute Armbanduhr“ verschwunden, und natürlich wurde sofort die neue Reinmachefrau verdächtigt: Wer ging denn sonst seit kurzem unbeobachtet in Gerdas Wohnung ein und aus? Man habe ja schon früher entsprechende Erfahrungen gemacht… Die von Anfang an etwas gespannte Stimmung zwischen meiner Mutter und der Raumpflegerin wurde durch diese aus Petras und meiner Sicht vollkommen unbegründeten Verdächtigungen natürlich nicht gerade besser. Es nützte auch gar nichts, dass es am Ende genau diese aus Sicht meiner Mutter höchst verdächtige Person war, die ihre heiß geliebte Uhr ein paar Tage später beim Aufräumen hinter Gerdas Bett fand, wohin meine Mutter sie wohl hatte fallen lassen. Nach kurzer Freude gab es daher von Gerdas Seite statt einer Belohnung böse Blicke für die glückliche Finderin, gepaart mit trotziger Schweigsamkeit.

Das Essen auf Rädern schmeckte meiner Mutter schon nach wenigen Tagen nicht mehr: Sie aß nur noch die Vorsuppe und probierte ein, zwei Löffel vom Hauptgericht, mehr nicht. Deswegen und wegen ihrer immer drängender werdenden Verdauungsprobleme musste ein Arzt her. Leider war sie mit ihrer bisherigen Hausärztin schon seit längerem unzufrieden, sodass nach kurzer Suche ein vollkommen neuer Arzt namens Dr. Sander die Bühne betrat. Herr Sander war eigentlich ein sehr erfahrener, angesehener und vertrauenswürdiger Allgemeinarzt. Dummerweise aber auch entsprechend nachgefragt, sodass seine Praxis oft stunden- bis tagelange telefonisch nicht zu erreichen war. Wenn man dann durch kam und um einen Besuch bat, musste er sich selbst offensichtlich mühen, ausreichend Zeit für Gerda zu finden. Meine Mutter machte daher trotz der vom fachlichen Standpunkt jetzt durchaus zufriedenstellenden hausärztlichen Versorgung gesundheitlich nur geringste bis keine Fortschritte.

Die erste wirklich ernste medizinische Krise ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche klingelte mich das Telefon am letzten Oktober-Samstag um zwei Uhr früh mitten aus dem Tiefschlaf. Gerdas Stimme klang besorgniserregend, und was sie sagte, noch mehr: „Mein‘ Jung‘, du musst mir helfen. Ich habe so Bauchschmerzen, ich halt' das nicht mehr aus. Ich glaube, ich muss wieder ins Krankenhaus!“ „Soll ich die 112 rufen?“ „Ja, mein' Rainer, mach' das bitte für mich!“ Ich riet ihr daraufhin, gleich nach dem Telefonat direkt zur Wohnungstür zu gehen, um dort auf die Rettungssanitäter zu warten: „Die schlagen dir sonst noch die Tür ein, wenn du ihnen nicht schnell genug öffnen kannst!“ „Ja, mein' Jung', ich geh‘ gleich zur Tür und warte dort!“

Was dann passierte, hatte ich so zuvor noch nie erlebt und hoffe auch, es so niemals wieder erleben zu müssen: An der Notrufnummer schob eine entweder vollkommen unerfahrene oder vollkommen unfähige Lusche Dienst, ein Praktikant vielleicht, ganz nach dem Motto: „Chef nicht da, und ich weiß auch kein Bescheid!“ Fing der Mensch am anderen Ende der Telefonleitung doch tatsächlich an, mit mir darüber zu diskutieren, ob das mit den Bauchschmerzen meiner Mutter denn wohl ganz so schlimm sei und ob er wirklich die Sanitäter schicken müsse. „Wissen Sie denn überhaupt, dass es auch den Notdienst der Hausärzte gibt?“ Morgens um zwei Uhr? Ich konnte es nicht fassen. Um diese Zeit schläft auch der Hausarzt-Notdienst den Schlaf des Gerechten. Was die Nulpe am anderen Ende der Leitung aber nicht zu wissen schien.

Dann wollte er plötzlich die Telefonnummer meiner Mutter von mir, um selbst dort anzurufen. Als ich ihm aber erklärte, sie sei jetzt wohl schon an der Tür, um auf Hilfe zu warten, und würde deshalb möglicherweise nicht schnell genug zum Telefon am anderen Ende der Wohnung kommen, meinte die Intelligenzbestie doch tatsächlich, ich solle doch bitte selbst nochmal bei meiner Mutter anrufen, um die Situation abzuklären. (Was ja ein mindestens genau so wenig erfolgversprechendes Unterfangen gewesen wäre, als wenn er selbst dort angerufen hätte!)

Nach gefühlten fünf Minuten ergebnislosem Hin und Her platzte mir dann endlich der Kragen: „Einen Scheissdreck werde ich tun! Meine Mutter hat mich gebeten, einen Notruf abzusetzen, und das habe ich hiermit getan. Jetzt liegt die Verantwortung bei ihnen. Ich lege jetzt auf. Sie haben die Telefonnummer meiner Mutter und können selbst dort anrufen, wenn sie unbedingt wollen. Ich für meine Person habe gesagt, was ich weiß. Die Entscheidung, ob sie einen Krankenwagen schicken wollen oder nicht, liegt jetzt ganz allein bei ihnen!“ Bumms, mein Funktelefon knallte in die Station.

Als ich nach einer kurzen und schnellen Fahrt durch die menschenleere Stadt etwa eine Viertelstunde später bei meiner Mutter eintraf, waren die Rettungssanitäter schon wieder weg. Verglichen mit der ganzen Aufregung am Telefon hätte die Szenerie, die ich in ihrem schummrigen Schlafzimmer vorfand, nicht weniger spektakulär sein können: Gerda lag im Bett, die Bettdecke stramm hochgezogen, und auf dem Nachttisch vor ihr stand nichts weiter als ein kleines Fläschchen mit Magentropfen, daneben ein schnell ausgefülltes , gefährlich rot eingefärbtes Diagnoseformular. „Geht es dir besser?“ Sie schüttelte den Kopf. „Trink was, vielleicht hilft dir das!“ Mit etwas klarem Wasser und vielen guten Worten bekam meine Mutter dann irgendwann doch noch die Kurve in dieser Nacht. Aber mehr als eine Mütze Schlaf war es nicht, was wir beide am Ende bekamen, bevor der Morgen graute. Ihre Appetitlosigkeit, ihre Übelkeit und ihre Magenschmerzen machten Petra und mir so große Sorgen, dass wir gemeinsam mit ihrem neuen Hausarzt beschlossen: „Gerda muss wieder zu einer gründlichen Untersuchung in die Klinik!“

Die Klinik gibt Entwarnung

Da eine Überweisung vom Hausarzt vorlag und ich nicht nur nicht auf Reisen war, sondern auch die Möglichkeit hatte, ausnahmsweise früher Feierabend zu machen, konnte ich meine Mutter am darauf folgenden Freitag, dem 31. Oktober, selbst in die Klinik fahren. Vor dem Parkplatz der Notaufnahme gab es eine kurze Diskussion mit dem Parkwächter, weil kein Schwerbehinderten-Ausweis an der Windschutzscheibe meines Autos klebte. Wir durften dann aber doch dort parken. Gott sei Dank, denn die 25 Meter Luftlinie vom Auto zum Empfang der Notaufnahme erwiesen sich für Gerda zu meiner großen Verwunderung als eine schier unüberwindliche Distanz. Auf halber Strecke war ich gezwungen, mit ihr am Arm spontan scharf nach rechts in Richtung der dort an einer Wand geparkten Rollstühle abzubiegen. Nachdem wir uns davon einen zu eigen gemacht hatten, irrte ich erst einmal mit Gerda durch lange Gänge auf der Suche nach der offiziellen Patientenaufnahme, bis wir dann am Ende doch wieder in der gleich am Eingang befindlichen, uns schon vertrauten Notaufnahme landeten.

Nach einiger Wartezeit befand sich Gerda wie vor Wochen in demselben Raum der Notaufnahme und sogar wieder im gleichen Bett. Und wie bei unserem letzten Besuch war „Schwester Dragoner“, die mir schon zur Genüge bekannte resolute Pflegerin, auch dieses Mal wieder präsent. Sie schien sich sogar noch dunkel an meine Mutter zu erinnern. Gerda hatte bei ihr damit anscheinend einen Status als Stammgast erworben, denn die Dragoner-Schwester war dieses Mal nur muffelig und nicht richtiggehend unfreundlich. Zur Begrüßung brachte sie meiner Mutter sogar ein Glas Wasser, wurde dann allerdings schnell wieder unwirsch, als Gerda postwendend nach der Bettpfanne verlangte. „So schnell kann doch kein Mensch Wasser lassen!“ „Ich schon!“, sagte Gerda und trat auch gleich den Beweis an.

Nachdem Muttis Magen-Darmtrakt wieder mit dem größtmöglichen technischen Aufwand untersucht worden war, wurde sie am Sonntag auf die Wachstation der Notaufnahme verlegt. Der Dienst habende Chefarzt informierte Petra und mich am Sonntagabend, dass man bei seiner Patientin Gerda Bartelt außer einer Verstopfung keinerlei Anzeichen einer schweren Erkrankung gefunden habe. Man hätte zur Sicherheit noch eine Magen-Darm-Spiegelung machen wollen, meine Mutter habe dies aber abgelehnt. Ich konnte das nur zu gut verstehen, denn eine derartige Aktion war sicherlich ziemlich unangenehm. Und warum sollte Gerda sich unnötig quälen, wenn ihr Blutbild und alle anderen Untersuchungsergebnisse in Ordnung waren?

Ich kam deshalb ohne Umschweife auf mein zweites Anliegen zu sprechen, nämlich auf das sie fast genauso schlimm quälende Blasenproblem. Für mich war die Tatsache, dass Gerda den Urin nicht halten konnte und der Gang zur Toilette in ihrer großen Wohnung mindestens beschwerlich, wenn nicht sogar (sturz-)gefährlich war, entscheidend dafür, dass sie zu wenig trank und damit auch maßgeblich für ihre Darmprobleme. Mit Petras Unterstützung machte ich dem Arzt klar, dass wenn Gerda ohne Behandlung ihrer Blase entlassen würde, sie über kurz oder lang mit den gleichen Magenproblemen wieder in der Notaufnahme landen würde. Am Ende pflichtete er uns bei und versprach, sich um Gerdas Verlegung in die Urologie zu bemühen.

Vom Paradies in die Hölle

Erleichtert und voller Hoffnung auf Mutters baldige Genesung verließen wir die Klinik. Doch schon am darauf folgenden Tag war derselbe leitende Arzt der Notfall-Wachstation nicht wiederzuerkennen. In der Urologie sei kein Bett frei. Inkontinenzprobleme würden sowieso nur ambulant behandelt. Dass Gerda gehbehindert sei, spiele dabei keine Rolle. Am Ende fiel sogar das Argument: „Vielleicht sind die Kollegen in der Urologie ja auch der Meinung, dass bei Ihrer Mutter mit 92 Jahren eh‘ nichts mehr zu machen ist!“ Ich war geschockt. Das Einzige, was ich nach langer Diskussion erreichen konnte, war die Zusage eines Termins für eine ambulante Blasenuntersuchung etwa einen Monat später und Gerdas Verbleib in der Klinik, bis die häusliche Versorgung durch den Pflegedienst wieder gewährleistet werden konnte. Petra war genauso geschockt wie ich, als ich ihr das Ergebnis meines Klinikbesuches berichtete: „Ein ganzer Monat Wartezeit, das kann doch nicht wahr sein. Hoffentlich steht Mutti das durch!“

Aus einem wohlgeordneten Umzug von der Klinik zurück in Gerdas eigene vier Wände wurde leider auch nichts. Sie kam erst einmal auf eine normale Krankenstation, in der für uns abends leider kein Arzt für Auskünfte zu erreichen war (weil dieser Arzt selbst krank zuhause lag). Immerhin genoss Gerda auch dieses Mal ihre Zeit im gepflegten und gut betreuten Krankenzimmer, obwohl sie die fast täglich wechselnden Mitbewohnerinnen in dem kliniktypischen Zweibettzimmer doch etwas nervten. Zu laut, zu viel Besuch, zu viel Fernsehen. Trotzdem war sie guter Hoffnung: „Heute morgen war ein Professor da, der hat mich unten genau untersucht und mir versprochen, dass mir mit meiner Blase geholfen wird!“ Was war das? Hatte die Klinik doch ein Einsehen? Andere Informationen hatte ich nicht, und so kam ich zu der Annahme, dass meine Mutter doch noch während ihres Klinikaufenthaltes auf ihre malade Blase hin untersucht werden sollte. Leider entbehrte diese Annahme jeder Grundlage, wie sich später herausstellte. Aber ich versäumte auf Grund dieser Fehlinformation das Notwendigste, mich nämlich umgehend um die Wiederaufnahme von Gerdas häuslicher Versorgung zu kümmern.

Die Quittung kam prompt: Eine am Telefon eigentlich sehr nett klingende Dame von der Sozialstation der Klinik rief mich morgens bei der Arbeit an und teilte mir mit, dass man Gerdas Bett dringend benötigen würde und ob sie jetzt nicht nach Hause könne. Ich verneinte: „Meine Mutter hat mir gesagt, dass ihre Blase noch behandelt werden solle.“ Das sei nicht richtig, informierte mich die Dame, es bleibe bei dem ambulanten Termin am 4. Dezember – in gut einem Monat. Eigentlich würden in der Klinik alle darauf warten, dass Gerda nach Hause käme und das Bett frei werden würde. Dafür wolle sie meine Zustimmung einholen. Für einen Moment juckte es mich, diese Zustimmung zu verweigern und abzuwarten, was dann passieren würde. „Zu Hause ist meine Mutter vollkommen unversorgt und ich bin auf dem Sprung zu einer Dienstreise, ich kann mich also nicht um sie kümmern.“ Was mit meiner Frau wäre? „Meine Frau ist ebenfalls berufstätig und tagsüber auch nicht verfügbar.“ Wie es denn mit einem Kurzaufenthalt im Pflegeheim sei? Gerda stünden in der Pflegestufe 1 achtundzwanzig Tage Kurzzeitpflege zu, dass könne man doch ausnutzen, bis sie wieder in ihre eigene Wohnung käme?

Ich war überhaupt nicht begeistert, im Gegenteil, nach der unbefriedigenden Diskussion mit dem Krankenhausarzt hatte ich jetzt schon wieder Grund, auf die Klinik sauer zu sein. Denn die Anruferin hatte ja soeben bekräftigt, dass sie meiner Mutter in der Klinik die notwendige Soforthilfe wegen ihrer Urinprobleme verweigern würden. Und nun wollten sie sie auch noch abschieben. Einfach so, von jetzt auf gleich!

Aber was gab es für mich für Alternativen? Welchen Sinn würde eine Weigerung meinerseits machen? Am Ende gab ich nach und stimmte zu, Gerda in ein mir vollkommen unbekanntes Pflegeheim zu verlegen, auch wenn ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Der Klinikdame war das egal. Gerdas Verlegung ins Heim wurde schneller in die Tat umgesetzt, als ich auf Dienstreise gehen konnte. Nach dem morgendlichen Telefongespräch war sie schon mittags im neuen Zuhause, während ich – anstatt wie geplant zum Bahnhof zu fahren – in ihrem eigentlichen Wunsch-Pflegeheim saß und mit der Verwaltung darüber diskutierte, wie man Gerdas spätere Rückkehr in ihre eigene Wohnung am besten organisieren könne. Erst danach fuhr ich zum Bahnhof.

Abends berichtete mir Petra per Telefon von Gerdas ersten Erfahrungen mit der Kurzzeitpflege: Nicht Petra, sondern unsere Nachbarin Yvonne hatte mit ihrer Tochter meine Mutter als Erste in ihrem neuen Zimmer besucht, dabei Gerda bildlich gesprochen auf (noch) gepackten Koffern vorgefunden mit dem dringenden Wunsch, dort sofort weggeholt zu werden. Hier wolle sie auf keinen Fall auch nur eine einzige Stunde länger bleiben.

Bis heute ist mir nicht klar, denn weder Yvonne noch Petra noch Gerda selbst – mit der ich kurz danach telefonierte – konnten mir genau Aufschluss geben, was denn nun an diesem für ihre Kurzeitpflege von der Klinik ausgewählten Pflegeheim so schrecklich war, dass man es dort nicht wenigstens vorübergehend ein paar wenige Tage aushalten konnte. Sicher es war ein altes Gebäude (das ehemalige Arbeitsamt, das mir vor Jahrzehnten zu meiner jetzigen Arbeit verholfen hatte), rein optisch auch nicht besonders sorgfältig renoviert, in den Fluren roch es zudem etwas unangenehm. (Nach Urin, meinte Petra) Aber das Zimmer war ausreichend eingerichtet, das Essen war okay, es gab ein Atrium und sogar ein kleines Restaurant und eine gemütliche Sitzecke im Flur. Auf meinen beruflichen Reisen war ich nicht selten bescheidener einquartiert.

Vielleicht missfiel Gerda die Tatsache, dass sie das Badezimmer mit einer anderen Frau teilen musste, aber auch das war nicht anders als in der Klinik. Im Nachhinein erscheint mir am wahrscheinlichsten, dass die ihr unbekannten Pflegekräfte weniger freundlich oder hilfsbereit waren als erwartet und dass es gleich am Anfang ihres kurzen Aufenthaltes kontroverse Diskussionen über ihre medizinische Versorgung und anderes gegeben hatte. Aufschluss hätte ich vielleicht erhalten, wenn ich miterlebt hätte, wie sie sich vier Tage später vom Pflegepersonal verabschiedete. Als sie endlich feststellen konnte, dass es in dieser von ihr als Hölle auf Erden wahrgenommenen Unterkunft für sie persönlich nichts mehr zu befürchten gab und es jetzt endgültig zurück in ihre Wohnung ging, schrie sie ihren Frust heraus, dass die Wände wackelten. Das Personal war zutiefst erschrocken über diesen plötzlichen Wutausbruch und Petra ebenso. Ich bekam von alledem leider nichts mit, weil ich gerade Muttis Koffer und ihre anderen Utensilien im Auto verstaute. Jedenfalls trauerte Gerda diesem Pflegeheim keine Minute nach, und umgekehrt war es wohl genauso.

Tasuta katkend on lõppenud.