Loe raamatut: «Nibelungenweg», lehekülg 3

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Meinen Weiterweg habe ich im Navi programmiert, nur endet der auf der topografischen Karte verzeichnete Pfad, auf dem ich zahlreiche Wildschweinfährten sehe, irgendwann im Nichts. Da ich nicht wieder zurückgehen will, muss ich mich durch dichten, weglosen Fichtenwald kämpfen. Mit Hilfe des Navis und seines Kompasses komme ich schließlich auf einen guten Waldweg und bald auf eine Anhöhe mit weitem Rundblick. Irgendwo zwischen den Hügeln fließt der Rhein, von hier aus unsichtbar. An einer Wegkreuzung stehen zwei Wegweiser mit insgesamt elf Richtungsschildern. Darunter glücklicherweise eines, das zu meiner Zwischenstation zeigt, der Lauschhütte. Dort informiert eine große Tafel über das »Ökosystem Freileitungstrasse«. Der Binger Wald wird hier nämlich von Hochspannungsleitungen durchschnitten. Der zuständige Energieversorger hat dies zum Anlass genommen, darüber zu informieren, dass eine solche Trasse das Ökosystem nicht etwa zerstört, sondern dass die Natur sich hier ein neues Ökosystem geschaffen hat. Natürlich ist das Ganze sehr positiv dargestellt. Andererseits wird aber anhand einfacher Beispiel aufgezeigt, dass sich notwendige Infrastrukturbauten mit der Umwelt in Einklang bringen lassen. Ich halte diese Form der Unterrichtung der Allgemeinheit für eine gute Idee und ein nachahmenswertes Beispiel.

Kurze Zeit später komme ich zum Salzkopf mit einem beeindruckenden Aussichtsturm, ganz aus Holzbalken gebaut. Er bietet einen Panoramablick über die Baumwipfel hinweg bis zur Eifel und zum Taunus. Auch ein Stück vom Rhein ist tief unten zu sehen.

Das ist das Besondere am Rheinhöhenweg: Man geht Stunden lang durch tiefe Laubwälder und stößt dann immer wieder auf unerwartete, schöne Aus- und Fernblicke. Über die öfters unzulängliche Markierung muss ich nicht meckern, denn schließlich ist es mein primäres Ziel, den Weg der Nibelungen nachzugehen. Dass ich dabei den Rheinhöhenweg benutze ist reine Bequemlichkeit, denn sonst hätte ich eine eigene Route ausfindig machen müssen, die vielleicht nicht viel anders gewesen wäre.

Wie ich da oben auf dem Turm stehe, fällt mir auch ein, wie leichtsinnig es eigentlich ist, meinen Rucksack mit allen Wertsachen unten liegen zu lassen. Jeder, der vorbeikommt, könnte mit ihm davonlaufen, und ich müsste von oben herab hilflos zusehen. Aber es gibt hier keine Räuber. Es gibt nicht einmal Wanderer, denn ich habe schon seit Tagen unterwegs keinen Menschen mehr getroffen.

Der Wald wird hier offenbar stark forstwirtschaftlich genutzt, aber verrottende Eichenstämme am Wegesrand sollten es nicht sein! Mir will sich der volkswirtschaftliche Nutzen nicht erschließen, der darin liegen soll, stattliche Eichen zu fällen, die Äste zu entfernen, die Stämme aus dem Wald herauszuschaffen und auf gleiche Länge zu sägen, nur um sie anschließend auf einem Stapel verfaulen zu lassen. Hinzu kommt, dass Holz beim Verfaulen ebensoviel CO2 frei setzt wie der Baum in seinem Leben aus der Atmosphäre gebunden hat. Da hätte man die Eichen gleich verbrennen und die dabei entstehende Hitze nutzen können.

Mein Gedankengang wird durch eine Bronzetafel an einem Findling unterbrochen, die zum Andenken an einen Waidmann vor über einhundert Jahren hier angebracht wurde. Woran mag der Jäger wohl gestorben sein? Ich verkürze mir die Zeit damit, mir verschiedene Todesarten auszudenken und beschließe endlich, dass der Jäger von einem waidwunden Hirsch zu Tode geforkelt wurde. Ich bin richtig stolz auf diesen Einfall, auf den Ludwig Ganghofer wahrscheinlich neidisch gewesen wäre. Wer Ganghofer nicht kennt: Der lebte in der Zeit, in der dieser Waidmann hier zu Tode kam, und hinterließ der Menschheit so bedeutsame Werke wie Der Edelweißkönig, Der Jäger von Fall oder Der Dorfapostel, um nur einige zu nennen.

Vor dem Abstieg nach Bingen gibt es eine weitere Gedenktafel für einen Jäger. Diesmal ist die Todesursache angegeben: Er wurde 1920 »durch ruchlose Hand erschossen«. Das erspart mir, erneut eine Todesart erfinden zu müssen.

In Sichtweite der tausendjährigen Drususbrücke überquere ich die Nahe und gelange so nach Bingen, wo ich direkt am Rhein ein Hotelzimmer bekomme. Da die Geschäfte noch offen haben, beschließe ich, mir bei einem Friseur einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Als ich bezahle und der jungen Friseurin ein Trinkgeld gebe, bedankt sie sich zu meiner Verblüffung mit einem Knicks. Noch nie hatte eine Frau vor mir einen Knicks gemacht! In gehobener Stimmung verlasse ich das Geschäft und suche mir ein Gasthaus für ein frühes Abendessen.

Ich bin jetzt zwölf Tage unterwegs. Eigentlich kein Grund, darauf besonders hinzuweisen. Wenn es nicht die Zahl Zwölf wäre, denn die kommt im Nibelungenlied so oft vor, dass es kein Zufall sein kann. So sieht es für mich jedenfalls auf den ersten Blick aus.

Fast alle Strecken wurden innerhalb von zwölf Tagen zurückgelegt, sei es die Fahrt nach Island oder der Ritt von Pöchlarn nach Worms durch Rüdiger von Bechelaren. Und jeweils zwölf Recken begleiteten Siegfried und Dietrich von Bern. Also eine versteckte Zahlensymbolik im Nibelungenlied? Bei den zwölf Begleitern lässt sich das sofort verneinen. Man denke nur an die zwölf Apostel, die zwölf Liktoren, welche die römischen Konsuln begleitet haben, oder an Karl den Großen mit seinen zwölf Paladinen.

Mit den Zeitangaben ist es auch einfach, denn die kann man ja überprüfen. Von Pöchlarn nach Worms sind es etwa siebenhundert Kilometer, was bei zwölf Tagen einen Tagesdurchschnitt von 58 Kilometern macht. Das wäre laut Norbert Ohler Reisen im Mittelalter die Tagesleistung eines sehr eiligen Reiters. Könnte man also gelten lassen. Wenn ich das Nibelungenlied richtig verstehe, haben Wärbel und Swemmel sogar die gesamte Strecke von Esztergom bis Worms in zwölf Tagen geschafft – das wären mehr als eintausend Kilometer. Joachim Fernau kommentiert dies in seinem Buch Disteln für Hagen ironisch mit den Worten: »Schade, dass diese Pferderasse ausgestorben ist.«

Fußgänger kommen im Nibelungenlied nicht vor, wenn man von dem Kaplan absieht. Da muss ich schon auf die Sage von Walther und Hildegund zurückgreifen, die von Attilas Hof geflohen und zu Fuß unterwegs waren. Die Gegend um Worms erreichten sie nach vierzig Tagen, was einer Tagesleistung von knapp 27 Kilometern entspricht. Das ist sehr stramm aber nicht unmöglich, besonders wenn man von hunnischen Häschern verfolgt wird. Mal sehen, wie lange ich brauchen werde. (Ich kann es an dieser Stelle schon verraten: Ich habe 51 Tage gebraucht, musste aber auch nicht um mein Leben rennen)

Fazit: Im Nibelungenlied scheint sich keine Zahlensymbolik zu verbergen, und ich kann mich an meinem zwölften Wandertag ohne schwerwiegende Gedanken zur Ruhe begeben.

DURCH WEINBERGE NACH WORMS

Bingen darf man nicht verlassen, ohne auf der Burg Klopp gewesen zu sein, heute Sitz der Stadtverwaltung. Da Samstag ist, treffe ich hier auf keine Menschenseele und habe den Blick auf Bingen mit Mäuseturm und Ruine Ehrenfels für mich ganz allein. Oberhalb von Rüdesheim grüßt das monumentale Niederwalddenkmal herüber, das anlässlich des siegreichen Krieges 1870/​71 und der Reichsgründung errichtet wurde.

Nach der Burg Klopp beginnt der allmorgendliche steile Aufstieg, heute zur Rochuskapelle, gefolgt von einem leicht abfallenden Weg zwischen ausgedehnten Weinfeldern. Junge Weinsetzlinge sind durch Getränkekartons geschützt, die eigentlich für Apfelsaft gedacht waren. Eine praktische Methode, die aber fast wie eine Tarnung wirkt.

Der Ort Ockenheim wartet gleich mit zwei Kriegsdenkmälern auf: Einem für die zwei Weltkriege und das andere für den Krieg 1870/​71. Für letzteren sieht man hier im Rheinland, im Gegensatz zu Bayern, viele Denkmäler. Dieser Krieg gab nicht nur für die Reichsgründung den Ausschlag, sondern hat Deutschland auch einen bedeutsamen Ingenieur beschert: Rudolf Diesel, dessen Familie ursprünglich in Paris lebte, kam als Folge des deutsch-französischen Krieges als Kind nach Augsburg und wurde später der Erfinder des nach ihm benannten Motors.

Der Friedhof von Ockenheim liegt mitten im Dorf und nicht weit entfernt, noch immer im Dorf, spendet ein kleiner Weinberg gewissermaßen Trost. Da hier einer der vielen Jakobswege hindurch geht, gibt es auch ein Pilgerdenkmal, und ein Weingut bietet gar »echten Pilgerwein« an, was immer das ist.

Nun geht es wieder bergauf, was wegen der Hitze umso beschwerlicher ist. Oben lande ich bei der 1985 angelegten »Jakobsberger Weinlaube«, in der einhundertsiebzig Sorten Wein angebaut werden. Aber ist es noch zu früh im Jahr, um deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Rebsorten feststellen zu können. Ich habe hier einen guten Fernblick und kann den gesamten Weg verfolgen, den ich seit der Rochuskapelle gegangen bin. Kurz darauf umrunde ich einen Galgenberg, auf dem jetzt Wein angebaut wird. Im Laufe meiner Wanderung entdecke ich auf der topografischen Karte nahezu bei jeder größeren Ortschaft einen Galgenberg. Der Henkerberuf muss einmal sehr gefragt gewesen sein.

Beim Bismarckturm auf der Höhe zwischen Gau-Algesheim und Ingelheim gibt es nicht nur ein Ausflugslokal, sondern merkwürdigerweise auch ein Gehege mit sechs Tigern. Laut Info-Schild will man auf diese Weise zur Rettung dieser bedrohten Tierart beitragen. Die Tiger fragt aber niemand, ob ihr Leben hinter Gittern ein erhaltenswertes Leben ist.

Nach Ingelheim geht es dann stetig hinab, teilweise durch einen richtig romantischen Hohlweg.

Ingelheim besteht aus zwei Ortsteilen, nämlich Nieder- und Ober-Ingelheim. Mir war dieser Ort bislang nur als Sitz eines bekannten Pharmaunternehmens bekannt und ich bin deshalb überrascht, einen historischen Weinort vorzufinden. Ebenso überrascht bin ich, dass ich auch beim dritten Versuch kein Zimmer für die Nacht finde. Die Juniorchefin des zuletzt angesteuerten Hotels, welches auch Weingut ist, meint vorwurfsvoll, wie ich ohne Reservierung glaube, eine Unterkunft zu finden. Sie bemüht sich aber sehr, mir zu helfen und schickt mich erst einmal in den Innenhof, damit sie in Ruhe arbeiten könne. Nach knapp zehn Minuten kommt ein Aufschrei »Ich habe etwas für Sie!« Die junge Frau stürzt in den Hof, fordert mich auf, schon einmal in ihrem Auto Platz zu nehmen, während sie die Schlüssel holt, und dann fegt sie mit mir um viele Ecken durch Ingelheim. Schließlich hält sie vor einem Tor, weist mich an, hier zu klingeln, und ich habe gerade noch Zeit mich zu bedanken, da braust sie schon davon. Eine sehr effektive Dame, die mir selbstlos zu einer Übernachtung in einem Privatquartier verholfen hat. Den Namen des Hotels bzw. Weingutes habe ich mir für spätere Gelegenheiten gemerkt.

Durch die günstige Lage meines Quartiers in Ober-Ingelheim bekomme ich Gelegenheit, die beachtlichen Reste der alten Ringmauer zu besichtigen und vor allem die gotische Wehrkirche (Burgkirche) mit ihrem Turm aus dem 12. Jahrhundert. Leider nur von außen, denn das Tor ist verschlossen.

Der Rheinhöhenweg führt am neuen Tag nochmals an dieser Kirche vorbei. Heute bin ich schon sehr zeitig auf den Beinen, weil es kein Frühstück gibt. Obwohl es erst 07:15 Uhr ist, beginne ich schon die Hitze des Tages zu spüren. Bald schon verliere ich die Markierung, und die Wegbeschreibung im Wanderführer steht nicht im Einklang mit dem, was ich sehe. So gehe ich nach Kompass und Karte. Das darf man nicht wörtlich nehmen, denn eine Karte im eigentlichen Sinn habe ich nicht. Lediglich das Display meines Navis, 3,5 mal 5,5 Zentimeter groß. Damit lässt sich bei einem Maßstab von 1 : 25 000 kein Überblick gewinnen, im Vergleich zu »echten« Karten, die in der Regel ein einigermaßen großes Gebiet abdecken. Ich liebe es, nach Karte und Kompass zu gehen. In jungen Jahren habe ich damit nördlich des Polarkreises in Lappland große Strecken zurückgelegt und bin stets am gewünschten Ort angekommen. Inzwischen habe ich mich dem modernen Standard angepasst und komme mit der Miniaturkarte des Navis leidlich zurecht.


Burgkirche mit Ringmauer in Ober-Ingelheim

Mal treffe ich auf den Rheinhöhenweg, mal wieder nicht, aber ich komme zügig vorwärts. Der Boden ist hier sehr sandig. Es handelt sich um die Reste eiszeitlicher Flugsanddünen, wie es sie in verschiedenen Gebieten Deutschlands gibt, vor allem in Norddeutschland. Ich freue mich schon auf das Lokal »Rheingoldruhe« an der Autobahn A60. Aber hier ruht nicht nur das Rheingold, sondern auch der Wirtschaftsbetrieb, obwohl schon später Vormittag ist. Also gehe ich weiter durch den Lennebergwald zum Lennebergturm, einem Ausflugsziel von Mainz. Im Vorort von Mainz will ich mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof fahren, weil ich dort die Tourist Information vermute. Die Straßenbahnlinie ist jedoch unterbrochen, weil heute ein Stadtmarathon ausgetragen wird, und ich muss in einen Bus umsteigen. Am Bahnhof erfahre ich dann, dass die Tourist Information in der Stadtmitte liegt, und ich beginne meinen langen Marsch durch Mainz. Die Wegweisung zur Tourist Information ist, milde ausgedrückt, wenig optimal und ich benötige einige Zeit, sie zu finden. Ich bin der einzige Besucher und trage der Dame meinen Wunsch nach einem Hotel vor. Sie zieht unter dem Tresen ein umfangreiches Heft hervor mit den Worten: »Hier sind alle Unterkünfte von Mainz verzeichnet und vorne finden Sie einen Stadtplan.«

Ich sage verwundert: »Ist das Ihr ganzer Service?«, und sie antwortet mit einem unfreundlichen »Ja!«

Kopfschüttelnd verlasse ich die Tourist Information und suche mir ein schattiges Plätzchen in der Fußgängerzone. Dort setze ich mich nach Art eines Penners auf das Pflaster und studiere das Hotelverzeichnis. Dann schalte ich mein Handy ein und beginne zu telefonieren. Glücklicherweise finde ich schnell ein Quartier, aber es fährt kein Bus in diese Richtung, weil noch immer Marathon ist. Also marschiere ich wieder los, geführt vom Navi. Unterwegs lasse ich mir an einer Verpflegungsstelle für die Marathonläufer etwas zu Trinken geben. Als ich am Hotel ankomme, bin ich letztlich insgesamt vier Kilometer durch Mainz gelaufen. Eine recht beachtliche Strecke!

Mainz ist der Ort meines ersten Ruhetages (ich will etwa alle dreihundert Kilometer einen Ruhetag einlegen), den ich nach dem Erlebnis mit der unfreundlichen Dame aus der Tourist Information mit negativer Einstellung beginne. Zu viel will ich am Ruhetag nicht herumlaufen, denn der Zweck des Ruhetages ist vornehmlich, meinen Beinen und Füßen eine Pause zu gönnen. Deshalb beschränke ich meinen Stadtrundgang auf das Gebiet um Dom und Marktplatz, in dessen Mitte die sogenannte Heunensäule steht. Diese wuchtige Säule aus rotem Mainsandstein ist ein Geschenk der Stadt Miltenberg anlässlich des tausendjährigen Domjubiläums. Darauf weist eine Inschrift auf dem Bronzefuß der Säule hin. Man nimmt nämlich an, dass die Heunensäule ursprünglich für den Wiederaufbau des Mainzer Doms gedacht war, der unglücklicherweise bei der Einweihung im Jahre 1009 abbrannte und dann auch gleich wieder aufgebaut wurde, was allerdings 27 Jahre gedauert hat. In einem Wald bei Miltenberg am Main liegen heute noch sechs von ursprünglich zehn derartigen Säulen.

Vor dem Dom versammelt sich gerade eine größere Besuchergruppe, die dann in den Bau drängelt, ohne auf die bronzenen Torflügel des Marktportals zu achten, die immerhin schon eintausend Jahre alt sind und damals jeweils aus einem Stück gegossen wurden.

Am Marktbrunnen, dem ältesten Renaissancebrunnen Deutschlands vorbei komme ich zur Nagelsäule. Sie wurde 1916 während der Hungerjahre im Ersten Weltkrieg aus Eichenstämmen zusammengesetzt, und jeder Bürger durfte für eine Geldspende einen Nagel einschlagen. Dabei wurden kunstvolle Verzierungen und Reliefs genagelt.

Wie ich so um den Dom herumstrolche, fällt mein Blick auf ein Schild, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Ich stehe nämlich vor der Martinusbibliothek, mit der es eine besondere Bewandtnis hat: Buchbinder haben in früheren Jahren häufig Reste alter Pergamenthandschriften für neue Einbände benutzt. 1988 fand Kurt Hans Staub in der Martinusbibliothek solcherart verarbeitete Pergamentstreifen einer Nibelungenhandschrift, die in Fachkreisen als die »Handschrift L« bezeichnet wird. Derselbe Wissenschaftler entdeckte dann 2003 in Mainz nochmals weitere Reste dieser Handschrift. Mir ist diese Geschichte aus einem Buch bekannt, und deshalb ist für mich Mainz natürlich ein Nibelungenort, auch wenn die Stadt im Nibelungenlied nicht erwähnt wird. Am Eingang zur Bibliothek sind in einem Schaukasten Schriften und Postkarten ausgestellt, die man an der Information der Bibliothek kaufen kann. Darunter auch eine Ansichtskarte mit einem Bild der »Nibelungen-Schnipsel«. Ich gehe sofort hinein, kaufe die Karte und erzähle den beiden Damen an der Kasse den Grund meiner Reise. Ein abseits stehender, älterer Herr hört interessiert zu, und als ich schon fortgehen will, sagt er: »Dann wollen Sie doch sicher auch das Original sehen?« Verwundert antworte ich: »Ja, natürlich!«

Er fordert mich auf zu warten, bis er den Schlüssel holt, und dann führt er mich in das Allerheiligste der Bibliothek, den Tresorraum. Dort breitet er vor mir die Originalfragmente der Nibelungenhandschrift aus.

Ich stehe fasziniert davor und kann nicht fassen, wie mir geschieht.

Die Fragmente sind senkrecht durch die Handschrift geschnittene Pergamentstreifen. Somit kommen immer nur einzelne Wörter oder Teile von Wörtern vor. Da muss einer schon sehr gut das Nibelungenlied auf Mittelhochdeutsch und die Handschriften kennen, um die Streifen als Teile des Nibelungenlieds zu erkennen und sogar die passende Strophe zu finden. Zum Glück betrifft der Text eines Streifens Teile der ersten Aventiure, des ersten Abenteuers, so dass sogar ich die erste Strophe identifizieren kann. Ich kann nämlich dreißig Strophen des Nibelungenlieds auf Mittelhochdeutsch auswendig. Das habe ich nur so zum Spaß gelernt, als ich anfing über die Nibelungen zu recherchieren. Als mir die Idee zur Nibelungenwanderung kam, hatte ich noch kein spezielles Verhältnis zu diesem Thema. In meinem Bücherregal stehen zwar schon seit Jahren drei Bücher über die Nibelungen, aber ich habe da sehr viele Bücher zu zahlreichen Themen stehen. Erst durch die Vorbereitungen auf meine Tour erwarb ich mir vertiefte Kenntnisse über das Nibelungenlied. Und hier kann ich sie auch einmal anwenden.

Ich bekomme dann noch ein Buch zu sehen, auf dessen Innendeckel sich in Spiegelschrift der Text des Nibelungenlieds abgedrückt hat. Offenbar war hier einst eine Seite der Nibelungenhandschrift dazu benutzt worden, den Innendeckel zu kaschieren. Das Original gibt es nicht mehr, aber sein Abklatsch ist geblieben.

Geradezu beglückt verlasse ich die Martinusbibliothek. Jetzt bin ich wieder mit Mainz versöhnt, und der heutige Tag wird sicherlich ein Höhepunkt meiner Wanderung sein.

Im Staatstheater Mainz werden am Abend Die Nibelungen aufgeführt, eine Inszenierung in Anlehnung an Wagners Ring des Nibelungen. Da ich aber nur Wanderkleidung mit abgetragenen T-Shirts habe, erübrigt sich eine Überlegung, die Aufführung zu besuchen.

Stattdessen kehre ich in der Altstadt zum Abendessen in einem Weinlokal ein, welches Schoppenweine aus dem Weingut in Ingelheim anbietet, wo man mir so hilfsbereit bei der Suche nach einem Zimmer geholfen hatte. Ich erzähle dem Wirt davon, und dieser meint, wenn er die nächste Lieferung des Weingutes erhält, will er dem Winzer darüber berichten. »So wird sich der Kreis schließen«, fügt er hinzu.

Mainz verlasse ich mit der S-Bahn. Statt nur bis zu einem Vorort zu fahren, gönne ich mir weitere sechs Minuten Bahnreise und steige erst in Nackenheim aus. In wenigen Minuten habe ich bereits dreiviertel eines Tagesmarsches zurückgelegt. Da es noch früh am Tag ist, kann ich jetzt noch ein längeres Wegstück anhängen und beschließe, die fast 25 Kilometer bis Alsheim zu gehen.

Nackenheim ist ein typischer Weinort und Geburtsort von Carl Zuckmayer, dem hier ein Denkmal gesetzt ist. Ich wandere auf die Höhen der Rheinterrasse und studiere hier ein altes Steinkreuz. Der Sockel zeigt einen sterbenden Menschen, über dem Blitze aus Wolken zucken. Es soll sich um den Heiligen Franz Xaverius handeln, der 1552 während eines Unwetters auf der Insel Sansibar starb. Er gilt seither als Schutzpatron gegen Unwetter und Hagelschlag. Was mich beeindruckt ist, dass man im Jahre 1767, als dieses Bergkreuz errichtet wurde, von einer Begebenheit wusste, die sich zweihundert Jahre früher im fernen Afrika zugetragen haben soll. Auch ohne Zeitung, Rundfunk und Telefon haben unsere Vorfahren bereits Nachrichten aus aller Welt erhalten. Möglicherweise nicht ganz korrekt, denn in der Vita des Heiligen Xaverius heißt es übereinstimmend, dass er auf einer chinesischen Insel gestorben sei. Merkwürdig ist dabei, dass sein Grab in Goa sein soll. Egal wo, jedenfalls weit weg von Nackenheim.

Von hier oben habe ich einen weiten Blick über die von Weinfeldern bedeckten Rheinterrassen und auf den Rhein, dessen Ufer von Bäumen gesäumt sind. Deshalb kann man von der Rheinuferstraße aus den Rhein nur selten sehen. Als Folge der schon lange andauernden Trockenheit führt der Rhein wenig Wasser, und daher ragen die Sandbänke weit in den Fluss hinein.

Mein Weg führt unterhalb des Hochplateaus, parallel zum Hang, durch die ausgedehnten Weinfelder. Bald tauchen in der Ferne die Kühltürme des Kernkraftwerks Biblis und, ganz schwach, die Türme des Wormser Doms auf.

Bevor ich nach Nierstein hinabgehe, besuche ich einen Signalturm aus dem Mittelalter. Der stellt sicherlich eine gute Aussichtsplattform dar, ist aber leider verschlossen. Mein Weg bringt mich dann weiter über den Marktplatz von Nierstein und an einer Wehrkirche vorbei wieder zurück auf das Höhenplateau. Es ist heiß hier oben zwischen den Weinfelder, und ich bin wieder völlig allein. Bussarde und Gabelschwanzweihen wechseln sich darin ab, über mir ihre Kreise zu ziehen. Kein sicherer Ort für die Kaninchen, die vereinzelt über den Weg hoppeln. In der Tageshitze bildet sich in einem Weinfeld sogar eine kleine Windhose, die den ausgetrockneten Boden aufwirbelt und als Staubwolke vor mir tanzt, bis sie wieder in sich zusammenfällt.

Später treffe ich einen alten Winzer, mit dem ich mich über die Frostschäden dieses Frühjahrs und das Wandern unterhalte. Und über das Alter – ein Thema, das ich gerne vermeide.

Oberhalb von Oppenheim steht am Rande einer Wiese eine Bank unter schattigen Birken. Sehr einladend! Ich lege mich darauf, nehme den Rucksack als Kopfkissen und schlafe bald ein, während ein leichter Wind über mich hinwegstreicht.

Ich schlafe gerne im Freien und bin da bei der Platzwahl nicht wählerisch. Ende der Achtzigerjahre wanderte ich während eines total verregneten Sommers von Bonn zum Bodensee. Die einzigen trockenen Plätze waren damals oft nur die Wartehäuschen an Bushaltestellen, die damals, im Gegensatz zu heute, noch durchwegs Sitzbänke hatten. Während ich auf das Ende von Regenschauern wartete, legte ich mich öfters für ein Nickerchen auf eine dieser Bänke. Meine Rolle als Landstreicher habe ich seinerzeit offenbar gut verkörpert, denn in einem Wohnwagenlager für fahrendes Volk boten mir Zigeunerinnen sogar etwas zu Essen an. Die Erfahrung, dass Leute, die wenig besitzen, besonders freigiebig sind, habe ich in meinem Leben häufiger gemacht.

Nachdem ich meinen Zehn-Minuten-Schlaf beendet habe, breche ich wieder auf, erspare mir aber den Abstecher nach Oppenheim hinab. Die Ruine Landskron und die sicherlich sehr bedeutende Katharinenkirche kann ich auch von hier oben sehen. Im Hintergrund lassen sich sogar die Bürotürme von Frankfurt ausmachen.

Später gehe ich doch noch einmal in die Rheinebene hinunter und durch Guntersblum mit seiner malerischen Kellerstraße, wo viele Winzer ihre Weinkeller haben.

Wieder auf dem Höhenweg, gelange ich zum Weiler Hangen-Wahlheim, dessen Geschichte bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Davon zeugt noch heute der Dahlberger Hof. Sehenswert ist aber die Ruine der spätgotischen Kirche aus dem 13. Jahrhundert, die wahrscheinlich schon im 17. Jahrhundert zerstört worden war. Erst vor wenigen Jahren wurde sie aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen, renoviert und gesichert. Es ist ein stiller, einsamer Ort, an dem ich den Atem der Geschichte zu spüren glaube.

In Alsheim endet der heutige Tag, und hier endet auch der Rheinhöhenweg. Nun muss ich nicht mehr das »R« suchen, dafür aber meinen Weg selbst planen und finden.

Erst im dritten Anlauf, und mit Hilfe von Anwohnern, finde ich ein Zimmer, angenehmerweise in einem Weingut. Ich kann mich selbst aus dem Kühlschrank bedienen – pro Glas Wein ein Euro. Ich nutze dieses Angebot für eine Weinprobe, die ich mit einer Huxelrebe Auslese 2009 abschließe. Dies aber erst nach dem Abendessen in einer Gaststätte, in der ich erstmals in Deutschland einen Rotwein bekomme, der mir wirklich schmeckt. Es ist ein Blauer Portugieser. Damit will ich nicht behaupten, dass es in Deutschland keine guten Rotweine gäbe – nur waren mir diese bislang offensichtlich noch nicht begegnet.

Am frühen Morgen wandere ich am niedlichen Rathaus von Alsheim und einer orientalisch wirkenden Kirche vorbei und durch einen tief eingeschnittenen Hohlweg wieder hinauf auf die Höhen über dem Rhein. Im Osten tauchen aus dem Dunst der Odenwald und einer seiner höchsten Berge, der Melibocus, auf. Den Rhein kann ich nicht sehen, weil er durch Baumgruppen am Ufer verdeckt ist. Das ist schade, denn ich blicke genau dorthin, wo der Rhein zwischen Gernsheim und Biebesheim gewissermaßen eine Haarnadelkurve beschreibt. Dort soll im Mittelalter das tiefe Loch gewesen sein, in dem Hagen den Nibelungenhort versenkt hatte. An dieser Stelle lag der Ort Lochheim (im Nibelungenlied »ze Lôche«), der vor über siebenhundert Jahren in den Rheinfluten unterging. Der Nibelungenschatz bewegt seit Langem die Gemüter und noch immer hoffen Schatzsucher auf einen großen Fund. Mehr noch als der Nibelungenschatz hat aber das Gold im Rhein, das Rheingold, die Menschen beschäftigt. Tatsache ist, dass der Rhein Gold enthält, welches mit dem goldhaltigen Kies aus den schweizerischen Bergen und den kleineren Zuflüssen im Oberlauf in den Strom geschwemmt wird. Viel war es allerdings nie und vor allem waren es nur kleine Goldkörner und dünne Flitterchen, die sich an Inseln und sandigen Uferstellen ablagerten. Flussabwärts wird das Goldvorkommen immer dürftiger, weil die Flusskiesel die Goldpartikel immer weiter zermahlen, bis nur noch mikroskopisch kleine Teilchen übrig sind. Bei Xanten konnte man deshalb kaum Gold finden, zumal der Niederrhein durch die Zuflüsse entsprechend »verdünnt« ist.

Trotz des geringen Goldgehaltes wurde am Oberrhein immerhin genügend Gold gewaschen, um 1813 Teile eines Prunk-Toilettenservices der Großherzogin Stefanie von Baden aus massivem Rheingold anfertigen zu können, zu sehen im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.

Seit seiner Regulierung und Begradigung hat sich die Fließgeschwindigkeit des Rheins so erhöht, dass sich kein goldhaltiger Sand mehr am Ufer ablagert. Trotzdem haben die Nazis zwischen 1938 und 1943 mit viel Aufwand nach Rheingold gebaggert. Das dürftige Ergebnis dieser jahrelangen Bemühungen waren ganze dreihundert Gramm Gold. Davon hatte Hermann Göring dreißig Gramm abgezweigt, um sich daraus einen Nibelungenring schmieden zu lassen. Vielleicht hatte der Reichsmarschall die Worte der Rheintöchter in Wagners Rheingold für bare Münze genommen:

»Der Welt Erbe

gewönne zu eigen,

wer aus dem Rheingold

schürfe den Ring,

der maßlose Macht ihm verlieh’.«

Geholfen hatte ihm der Ring bekanntlich nicht. Auch eine gegen Kriegsende entwickelte Lenkrakete namens »Rheintochter« konnte den Endsieg nicht herbeiführen.

Noch heute zeugt ein über einen Kilometer langer Baggersee, der »Goldkanal« bei ElchsheimIllingen südlich von Karlsruhe, von der Goldsuche aus der nationalsozialistischen Ära.

Jedenfalls geht damals wie heute vom Rheingold eine Faszination aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Deshalb habe ich auch das Wegstück zwischen Xanten und Worms »Rheingoldetappe« getauft.

Aber noch bin ich nicht in Worms, denn mein gewählter Weg verläuft auf der Höhe nur ein kleines Stück parallel zum Hang, um dann wieder in die Ebene hinabzuführen. Nach etwa einer Stunde Wanderung stelle ich fest, dass ich zwar viel auf und ab gegangen bin, mich aber von Alsheim kaum entfernt habe. Sehr frustrierend! Dann folge ich einem Nordic-Walking-Pfad, leider mit dem gleichen Ergebnis. Wie schon gestern kreisen Bussarde und rütteln Falken über den Weinfeldern, und Kaninchen flüchten vor mir. Ich entdecke auch eine Spezies, die ich bereits für ausgestorben hielt: klassische Vogelscheuchen aus einem Holzkreuz, über das man ein flatterndes Hemd oder eine alte Jacke gezogen hatte.

Bislang habe ich mich heute nur am Sonnenstand und dem Kernkraftwerk Biblis orientiert. Weil ich einfach nicht vorwärtskomme, gebe ich im Navi zwei Wegpunkte ein, aber auch dieses Gerät weiß nichts Besseres, als mich wieder den Hang hinaufzuführen. Gegen Mittag komme ich so zu dem etwas abseits in einer Senke gelegenen Ort Bechtheim, wo ich mich in einer Bäckerei verpflege und am Dorfbrunnen Mittagsrast mache. Auf einem Obelisk werden alte Maßeinheiten angezeigt und erläutert, wie zum Beispiel »gewöhnliche Landesrute«, »Dezimalschuh«, »Gran« und »Skrupel«. Wie einfach haben wir es heute mit »Meter« und seinen Unterteilungen.

Der Marktplatz von Bechtheim dient gleichzeitig als Pausenhof für die Schule, und während ich hier raste, kann ich die Kinder während der Pause beobachten. Es ist so, wie ich es aus meiner Schulzeit in Erinnerung habe: Die Kinder spielen Fangen, üben auf Stelzen zu gehen, spielen Ball, toben herum und einige Buben raufen miteinander. Ich sehe weder Handys noch MP3-Player. Das Ende der Pause kündigt die Lehrerein dadurch an, dass sie mit einem Fähnchen wedelt. Sie schnappt sich eine herumliegende Jacke, zerrt einen noch am Boden liegenden Jungen hoch und verschwindet mit ihm ohne viel Federlesens in der Schule. Es kann sein, dass hier keine Spitzenplätze bei PISA-Studien errungen werden, aber das Sozialverhalten wird in dieser Schule meiner Meinung nach sehr praxisgerecht vermittelt.

Tasuta katkend on lõppenud.

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