Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)

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Nach Dem Fall (Gefallener Engel #2)
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Nach dem Fall

“Nach dem Fall (Gefallener Engel 2)”

Copyright © der Originalausgabe 2013 by L.G. Castillo.

Copyright © der deutschsprachigen 2019 by L.G. Castillo.

Alle Rechte vorbehalten.

Bücher von L.G. Castillo

Gefallener Engel

Lash (Gefallener Engel 1)

Nach dem Fall (Gefallener Engel 2)

Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)

Jeremy (Gefallener Engel 4)

Der goldene Engel (Gefallener Engel 5)

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Englische Ausgabe

CONTEMPORARY ROMANCE

Stillwater Dusk

Strong & Wilde (Texas Wild Hearts #1)

Secrets & Surrender (Texas Wild Hearts #2)

Your Gravity

PARANORMAL ROMANCE

Lash (Broken Angel #1)

After the Fall (Broken Angel #2)

Before the Fall (Broken Angel #3)

Jeremy (Broken Angel #4)

Golden Angel (Broken Angel #5)

Archangel’s Fire

www.lgcastillo.com

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Vor dem Fall (Gefallener Engel #3)

1

Ihr Mantel bauschte sich flatternd hinter ihr, als Rachel durch den dunklen Tunnel eilte. Er war hier. Sie konnte ihn spüren.

Schaudernd tasteten ihre Finger nach dem schweren Stoff, um ihn enger um ihren Körper zu ziehen. Weiße Wölkchen stiegen aus ihrem Mund auf, als sie keuchend versuchte zu Atem zu kommen. Mit jedem Schritt, den sie tat, war es, als würden ihre Engelskräfte mehr und mehr aus ihr herausgesogen. Sie hielt an und ließ sich gegen die feuchte Höhlenwand sinken. Sie konnte keinen Schritt weitergehen. War sie dem hier gewachsen? Selbst wenn sie es schaffte, zu ihm zu gelangen – würde sie noch genug Kraft haben, um ihn zu retten?

Gabrielle hatte sie gewarnt, dass es sich so anfühlen würde, aber Rachel hatte das als Übertreibung abgetan, besonders anfangs, als sie die Hölle betreten hatte. Es hatte genauso ausgesehen wie zuhause! Saftiges Gras und duftende Blumen bedeckten die Landschaft, so weit das Auge reichte.

Schneebedeckte Berge erhoben sich im Hintergrund vor einem klaren blauen Himmel – selbst der Bach befand sich an genau derselben Stelle wie im Himmel. Wäre da nicht das ungute Gefühl in ihrer Magengegend gewesen und die Härchen, die sich ihr im Nacken aufrichteten, hätte sie schwören können, sie sei zuhause.

Wenn man bedachte, dass Luzifer seine Gefangenen am Feuersee festhielt, hätte sie eigentlich erwartet, dass es sich bei der Hölle um ein weites, ödes Land voll drückender Hitze handelte. Erst als sie auf die Höhle. die hinter einem Wasserfall versteckt lag, gestoßen war, hatte sie verstanden, was Gabrielle gemeint hatte, als sie sagte, sie solle sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. In der Höhle war es eisig. Die schneidend kalte Luft schien durch ihre Poren bis tief in ihre Knochen vorzudringen und ließ ihre Zähne unkontrolliert klappern.

Sie wünschte, Gabrielle hätte ihr nähere Informationen zu dem gegeben, was sie erwartete. Sie hätte sich wärmer angezogen. Gabrielle war nur einmal hierher gekommen, und sie hatte an der äußeren Grenze der Höhle gewartet. Ihrer Ansicht nach war ein einziges Mal genug gewesen. Sie hatte Tage gebraucht, um sich von der Erfahrung zu erholen.

Nur Raphael wusste, wie es in der Hölle wirklich war. Er hatte Gabrielle angewiesen, auf ihn zu warten, während er mutig die finstersten Tiefen der Höhle durchquert hatte, um zum See zu gelangen. Er war der Einzige, von dem sie wusste, dass er hinabgestiegen und zurückgekommen war – lebend.

Wenn sie Raphael nur hätte fragen können, was sie zu erwarten hatte und wie sie sich darauf vorbereiten konnte. Sie seufzte. Wenn sie das getan hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, unbemerkt zu entwischen. Man hätte sie Michael gemeldet und sie hätte höchstwahrscheinlich Wachschichten schieben müssen, bis es zu spät gewesen wäre.

Beim Gedanken daran, dass er sterben oder schon tot sein könnte entrang sich ihrer Kehle ein Schluchzen. Sie schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund, als das Geräusch in der Dunkelheit von den Wänden widerhallte. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie mit dem Gedanken daran kämpfte, dass sie ihn verlieren konnte. Sie musste sich zusammenreißen. Wenn man sie erwischte, wäre das für sie beide das Ende.

Entschlossen holte sie Luft und stieß sich von der Wand ab. Ich kann das schaffen. Ich werde ihn nicht verlieren.

Ihre Füße schlurften über den Boden der Höhle als sie mühsam in der Dunkelheit voranstapfte. Als sie um eine Biegung trat, öffneten sich vor ihr zwei Gänge.

Wo lang soll ich gehen? Ihre Augen tränten und sie biss sich verzweifelt auf die Unterlippe. Sie war müde. So müde. Wenn sie den falschen Gang wählte, wusste sie nicht, ob sie noch in der Lage wäre, es durch den zweiten zu schaffen. Die Zeit wurde knapp. Sie musste sich entscheiden, sofort!

Sie wollte gerade in den Tunnel zu ihrer Linken einbiegen, als sie von rechts ein Stöhnen hörte.

Das war er!

Mit frischen Kräften eilte sie auf das Geräusch zu und erreichte innerhalb weniger Minuten eine große Höhle. Hitze prallte auf ihren Körper. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht bei dem plötzlichen Temperaturwechsel. Ruckartig hielt sie an und ruderte mit den Armen, während sie versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden und nicht in die geschmolzene Lava zu stürzen, die sich plötzlich vor ihr befand und ihr die Zehen zu versengen drohte.

Der See!

Sengende Hitze ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Sie rieb sich die Augen. Alles, was sie wahrnehmen konnte, war ein Meer aus rotglühender Hitze. Wo ist er?

Ihre Augen durchsuchten den Dunst und schließlich entdeckte sie kaum wahrnehmbar einen bewegungslosen Umriss. Sie blinzelte erneut. Als sich ihre Sicht langsam klarte, verschlug es ihr den Atem.

Nein! Das konnte er nicht sein.

Auf der anderen Seite des Sees an die Wand gekettet befand sich die einzige Person in ihrem Leben, ohne die sie nicht sein konnte. Die einzige Person, für die sie die Befehle der ranghöchsten Erzengel missachtete, nur damit sie ihn retten konnte.

Uriel.

 

Tränen rannen ihr über die heißen Wangen, als ihre Augen über seinen einst atemberaubenden Körper fuhren, der von der Lava verbrannt war, die auf seine Haut gespritzt war. Seine wunderschönen daunenweißen Flügel hatten jetzt ein unheimliches Schwarz angenommen. Bei jeder Bewegung, die er machte, verbrannten Federn zu Asche und wehten leblos zu Boden.

»Uriel«, krächzte sie.

Uriel hob den Kopf und schmerzerfüllte Augen erwiderten ihren Blick, ein erschreckendes Blau in der Schwärze seines verbrannten Gesichts. »Nein«, stöhnte er. »Geh. Geh jetzt. Er wird jeden Moment hier sein – «

Ein Poltern erklang in der Höhle und Lava schoss in die Luft. Spritzer der glühenden Flüssigkeit fielen auf seine Brust. Er bog den Rücken durch und schrie.

»Ich komme, Uriel!« Sie riss ihren Umhang herunter und breitete ihre Schwingen aus.

»Für mich ist es zu spät«, krächzte er. »Tu das nicht.«

»Nein, das ist es nicht. Es ist mir egal, was die anderen sagen. Du hast deine Schuld abgegolten. Du verdienst eine zweite Chance.«

Er sah ihr tief in die Augen. »Vergib mir. Ich habe dich nicht verdient.«

»Da gibt es nichts zu vergeben. Ich liebe dich.«

In der verzweifelten Hoffnung einen Weg zu finden, um zu ihm zu gelangen, blickte sich Rachel in der Höhle um. Sie schluckte schwer und flatterte mit den Flügeln. Mit der ganzen Kraft, die sie aufbringen konnte, wirbelte sie in die Luft. Sie schaffte es gerade mal, sich wenige Fuß über den Boden zu erheben. Es war, als drückte eine unsichtbare Barriere sie nach unten. Panisch sah sie sich nach einem anderen Weg um, auf dem sie zu ihm gelangen konnte, und entdeckte einen schmalen Steinpfad, der von Lava überspült wurde. Einen anderen Weg zu ihm gab es nicht.

Mit ihrer ganzen Kraft zwang sie sich in die Höhe und versuchte, Abstand zwischen sich und die feurige Flüssigkeit zu bringen. Die Höhle erbebte erneut und eine Woge aus Lava schlug gegen die Wände. Lavatropfen stoben in die Höhe und auf ihre Flügel.

Sie schrie vor Schmerz auf und begann zu fallen.

»Nein, Rachel!«, stöhnte Uriel. »Dreh um.«

Bevor Rachel ihm antworten konnte, dass sie ihn auf keinen Fall zurücklassen würde, fühlte sie einen Lufthauch an ihrem Rücken. Ein Arm schlang sich eng um ihre Taille und riss sie vom See zurück, weg von Uriel.

»Nimm sie mit… Gabrielle«, keuchte Uriel. »Bring sie... in Sicherheit.«

»Darauf hast du mein Wort«, antwortete Gabrielle und verstärkte ihren Griff um Rachel.

»Nein!«, kreischte Rachel und wand sich in Gabrielles stahlharten Armen. »Lass mich los! Lass. Mich. Los!«

Rachel streckte ihre Arme aus, als ob sie sich so an ihm festhalten könnte. »Uriel! Uriel!«

In dem Moment, als Gabrielle aus der Höhle flog, erschütterte ein lauter Donnerschlag die Höhle und der Klang seiner Schreie durchfuhr sie und mischte sich mit ihren eigenen.

Dann – Stille.

Er war fort.

Kraftlos sank sie in Gabrielles Armen zusammen, als sie durch den eiskalten Tunnel zurückflogen. Die Kälte breitete sich auf ihrem Gesicht aus, auf ihren Händen. Dann kroch sie in ihr Herz und den tiefsten Teil ihrer Seele, bis nichts mehr übrig war als dunkle Taubheit. Es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig.

Als sie aus dem Wasserfall heraus ins Sonnenlicht flogen, starrte sie gleichgültig die Wolken an, die über ihnen dahinzogen. Und obwohl ihr die Sonne ins Gesicht schien, konnte sie die Wärme nicht spüren. Sie bezweifelte, dass sie sie jemals wieder fühlen würde. Die kalte Leere in ihrem Herzen würde dort für immer herrschen, denn Uriel war tot.


»Moment mal! Uri war tot? Du meinst so tot, dass er nicht mehr existiert hat?« Naomi starrte Rachel an und warf dann einen Blick auf Uri. Sein Grübchen vertiefte sich, als er grinste. »Aber du bist… du bist hier.«

Rachels Blick verlor sich in der Ferne und ihr Gesicht nahm einen so traurigen Ausdruck an, als befände sie sich noch in der Höhle.

»Rachel? Geht’s dir gut?« Naomi rüttelte an ihrer Schulter und runzelte besorgt die Stirn. Sie war es nicht gewohnt, ihre Freundin so traurig zu sehen. Von all den Engeln, die sie während ihrer kurzen Zeit im Himmel kennengelernt hatte, war Rachel die Fröhlichste und hatte immer Engel-Tratsch zu teilen. Sie wünschte, sie hätte Rachel nicht danach gefragt, wie sie und Uri sich begegnet waren. Naomi hatte keine Ahnung von ihrer tragischen Vergangenheit gehabt oder davon, dass Rachel und Uri jemals von einander getrennt gewesen waren. Uri, der seinen Namen Uriel verkürzt hatte, war immer an Rachels Seite.

Als Naomi Uri zum ersten Mal begegnet war, hatte die Art und Weise wie er ihr zuzwinkerte und sich über sie lustig machte, sie abgeschreckt. Und er war jemand, der gern Umarmungen austeilte, genau wie Rachel. Sie hatte erwartet, dass Lash eifersüchtig darauf sein würde, wie Uri mit ihr flirtete. Aber dann war ihr aufgefallen, dass er sich allen gegenüber so verhielt, sogar gegenüber Gabrielle.

Im Himmel herrschte kein Mangel an umwerfend gutaussehenden Engeln. Obwohl Lashs dunkler, schweigsamer Typ mehr ihr Fall war, musste sie zugeben, dass Uri attraktiv war. Sein dunkelblondes Haar trug er kurz mit einem langen Pony, der ihm in die Stirn fiel und spöttische blaue Augen hervorhob. Das Bestaussehende an ihm waren seine vollen Lippen, die ständig leicht vorgeschoben zu sein schienen. Viele der weiblichen Engel begannen jedes Mal zu sabbern, wenn Uri ihnen zum Gruß die Hand küsste oder schmolzen dahin, wenn er sie anlächelte. Und wenn Uri sie wirklich in den Wahnsinn treiben wollte, legte er für gewöhnlich seinen schweren russischen Akzent auf.

Trotz all der Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, war es offensichtlich, dass sein Herz Rachel gehörte. Jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, leuchtete sein Gesicht auf und wurde noch atemberaubender. Es war, als käme all die Energie, die er verströmte, von ihr.

Rachel blinzelte ein paarmal und schüttelte den Kopf, als ob sie mühsam wieder in die Gegenwart zurückfinden müsste. »Oh, sorry. Ich habe mich kurz in Erinnerungen verloren. Was hast du gesagt?«

»Ah, mein Schatz, lass mich Naomi meine wundersame Auferstehung erklären«, wandte sich Uri an Rachel.

Er lehnte sich über den Tisch und ergriff Naomis Hand. Er hielt kurz inne und warf dann Lash einen Blick zu. »Darf ich?«

Lash nickte und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »So lange du nicht ganz so viel von deinem Charme spielen lässt.«

Naomi verdrehte die Augen. »Er hält einfach nur meine Hand. Wieso hältst du meine Hand, Uri?«

»Sag mir, meine liebreizende Naomi - was fühlst du?« Uri zwinkerte Rachel zu.

Naomi blinzelte verwirrt. »Ich...na ja… ich fühle deine Hand.«

»Ja, du fühlst Uris Hand«, bestätigte er und rollte das »R«, als er sprach. »Aber wer ist Uri?«

»Was?« Sie sah kurz zu Lash hinüber und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er zuckte mit den Schultern.

»Ist das hier Uri, in Fleisch und Blut?« Er strich mit ihrer Hand seinen muskulösen Arm hinauf. »Oder ist das hier Uri?« Damit legte er ihre Hand auf seine wie gemeißelte Brust.

Lash fuhr von seinem Platz hoch. »Hey, jetzt pass bloß auf.«

»Schhhh.« Naomi winkte ab. »Ich glaube, ich fange an zu begreifen.«

»Sieht für mich aus, als ob du Uri befummelst«, murmelte er.

Rachel kicherte und nahm die Karten von der Mitte des Tischs. »Naomi hat recht. Du bist niedlich, wenn du eifersüchtig bist.«

»Ich bin nicht… ach, jetzt gib die Karten schon her.« Er schnappte sich das Kartenspiel von ihr.

Naomi konnte fühlen, wie Lash schmollte, während er die Karten mischte. Sie wollte seine Bedenken zerstreuen, aber andererseits stand sie kurz davor, herauszubekommen, was Uri ihr zu erklären versuchte. Es wollte sich ihr ins Bewusstsein drängen.

»Willst du damit sagen, dass sich nur dein Körper verändert hat?«

Uri grinste. »Sehr gut. Das hier – «, er schlug ihre Hand sanft gegen seine Brust, »ist ein neuer und verbesserter Uri. Gefällt’s dir?« Er zwinkerte ihr zu.

»Ja.«

Er strahlte und sie hörte ein ersticktes Kichern von Rachel.

Naomi fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, als sie ihre Hand von seinem Oberkörper wegzog. »Ich meine… du bist ein… ein guter Freund«, stammelte sie.

Sie holte tief Luft und versuchte, das Gespräch wieder aufs Thema zu lenken. »Also, was du sagen willst, ist, dass dein wahres Ich, deine Seele, nicht gestorben ist. Es hat immer noch gelebt.«

»Sie ist schnell von Begriff, was?«, sagte Uri zu Lash.

Der grunzte.

»Ich werte das mal als ein ›Ja‹.« Naomi wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu, das sie spielten. Sie wischte die Pintobohnen von der Bingokarte und suchte nach einer anderen. Ihre momentane musste verhext sein. Sie hatte den gesamten Abend über nicht eine einzige Runde gewonnen.

Vor einigen Wochen hatte sie Uri und Rachel mexikanisches Bingo beigebracht in der Hoffnung, sich in ihrer Freizeit vom Training ein bisschen zu amüsieren. Es gefiel Rachel so gut – wahrscheinlich, weil sie fast immer gewann – dass sie und Uri jeden Abend zum Spielen vorbeikamen.

»Ich lerne jeden Tag was Neues dazu«, sagte Naomi. »Ich wusste nicht, dass Engel sterben können – oder zumindest ihre Körper. Es muss eine Erleichterung gewesen sein zu wissen, dass Uri zurückkommen würde.«

Es wurde still im Raum.

»Nicht jeder kommt zurück«, sagte Rachel leise. Ihr gewohntes Lächeln verschwand.

»Oh, aber ich bin zurückgekommen.« Uri erhob sich vom Tisch, hob Rachel von ihrem Stuhl und setzte sie auf seinen Schoß. »Es hat viele Jahre gedauert, aber ich bin zu dir zurückgekehrt, mein Schatz.«

»Dreitausenddreihundertsechsundachtzig Jahre, fünf Monate, zwei Tage, zwölf Stunden, achtundvierzig Minuten und dreiundzwanzig Sekunden«, flüsterte Rachel.

Naomi hatte es die Sprache verschlagen. So lange war er weg gewesen? Alles verkrampfte sich in ihrem Innern, als Uri sanft eine Träne von Rachels Wange strich. Wenn Engel sterben konnten, dann konnte Lash es auch, und es gab keine Garantie dafür, dass er auferstehen würde. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, es gäbe nichts, was sie auseinanderreißen konnte. Sie hatte geglaubt, sie hätte die Ewigkeit mit ihm.

»Wann bist du gestorben?«, fragte sie.

»1400 vor Christus. Meine Rückkehr war erst… hmm, lass mich mal nachdenken, 1967 oder so, als ich in einen menschlichen Körper geboren wurde. Gar nicht so anders als damals, als du in deinen menschlichen Körper geboren wurdest.«

»Nur, dass er in Tschernobyl war und nicht in Texas.« Rachel stieß Uri einen Finger in die Rippen. »Ich habe ihn endlich wiedergesehen, als er neunzehn wurde.«

»Tschernobyl in den 80ern«, seufzte Lash. »Daran kann ich mich erinnern.«

»Yeah, ich mich auch«, erklärte Rachel. »Ich bin in meinem ganzen Leben nie so glücklich und so frustriert gewesen. Glaub mir, Lash, ich verstehe, was du durchgemacht hast, als du Naomi zugeteilt wurdest.«

»Uri kam als Mensch wieder?« Naomi drehte sich zu ihm um. »Du wusstest gar nicht, dass du vorher ein Engel warst?«

»Nope. Rachel musste ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten. Im Gegensatz zu dir bin ich nicht… äh, wie soll ich sagen… der Moralischtste aller Menschen gewesen.« Uri zwinkerte ihr zu. »Natürlich hat Rachel für mich alles verändert und wir waren endlich wieder zusammen.«

»Aber dreitausend Jahre. Ich könnte nie...« Sie sah zu Lash hinüber und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. »Ich kann mir das nicht einmal vorstellen.«

»Hey.« Lash lehnte sich herüber und küsste sie auf die Wange. »Es ist alles in Ordnung. Ich bin hier.«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken und ihre Angst vor einem Leben ohne ihn spüren. Wie hatte Rachel das geschafft? All jene Jahre ohne Uri, mit ansehen müssen, wie er auf diese Weise starb, ohne zu wissen, ob er jemals wiederkehren würde.

»Wieso hast du mir das nie erzählt?«

»Es hat sich nicht ergeben.« Er nahm ihr die Bingokarten aus der Hand und umfasste ihre Hände. »Du musst dir um nichts Sorgen machen. Uris Fall ist ausgesprochen ungewöhnlich. Nimm’s mir nicht übel, Uri.«

»Natürlich nicht, mein Freund«, entgegnete Uri. »Naomi, Lash ist nicht der aufsässigste Engel hier, auch wenn er gern so tut, als wäre er es.« Er grinste und seine Grübchen kamen zum Vorschein. »Es gibt viel schlimmere Dinge, die man tun kann, als Wutanfälle zu bekommen und Aufträge zu vermasseln.«

 

Lash warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich würde sie nicht als Wutanfälle bezeichnen.«

»Was hast du angestellt?« Naomi konnte sich nicht vorstellen, dass Uri etwas so Schlimmes getan hatte, dass seine Strafe der Tod in der Hölle gewesen war. Dafür schien er nicht der Typ zu sein. »Ich wusste nicht, dass Engel so bestraft werden können.«

»Es waren nicht die Erzengel, die ihn bestraft haben.« Rachel blickte auf Uris Bingokarte herab, runzelte die Stirn, und griff über den Tisch, um eine andere aufzunehmen. »Das würden sie nie tun.«

»Also ich kann mir vorstellen, dass Gabrielle sowas in der Art anordnet«, warf Lash ein.

»Lash«, sagte Naomi warnend. Gabrielle war immer noch ein wunder Punkt für ihn. Rachel hatte ihr erzählt, dass Gabrielle und Lash nicht gut miteinander auskamen. Als Gabrielle ihr als Tutorin zugeteilt worden war, hatte sie deshalb gedacht, dass es schwierig sein würde, mit Gabrielle zusammenzuarbeiten. Stattdessen war sie Naomi gegenüber sehr geduldig gewesen und hatte ihr sogar Extrazeit gegeben, um Teile ihres Trainings abzuschließen. Ihr war aufgefallen, dass Gabrielle sich sehr geschäftsmäßig verhielt und keinem der Engel je auf persönlicher Ebene begegnete. Naomi konnte das verstehen. Es musste schwer für sie sein, nach Michael den zweithöchsten Rang in der Befehlskette einzunehmen. Sie war ihm noch nicht begegnet, aber jeder sprach mit großer Ehrfurcht von ihm, auch Lash. Die einzige Gelegenheit, bei der Gabrielle sich zu entspannen schien, war, wenn sie mit Raphael zusammen war. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können Gabrielle sei in ihn verliebt.

»Was?« Lash sah sie unschuldig an. »Es stimmt doch. Wenn es um mich ginge, würde sie es sofort tun.«

»Gabrielle kann manchmal ein bisschen… steif sein, aber sie meint es gut.« In Rachels großen braunen Augen schimmerten Tränen, als ihr Blick sich in der Ferne verlor. Anscheinend erinnerte sie sich an etwas. »Sie hat ihr Leben riskiert, als sie mir gefolgt ist und sie hätte mir nicht sagen müssen, wie man zum Feuersee kommt.«

»Na klar.« Lash sah sie einen Moment lang skeptisch an, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Uri zu. »Also, was hast du angestellt?«

»Weißt du das nicht?«, fragte Naomi überrascht. Sie hatte angenommen, dass Rachel und Lash mittlerweile darüber gesprochen hatten, weil sie so gut befreundet waren.

»Lash weiß, dass ich umgekommen bin und dann zurückgebracht worden bin. Ich habe nur niemandem erzählt, wieso«, erklärte Uri und schien verwirrt. Er warf Rachel einen nervösen Blick zu, bevor er fortfuhr. »Versteht ihr, ich war damals ganz anders. 1400 v. Chr. bin ich zur Stadt Ai unterwegs gewesen mit Raphael und Luzi– «

»Ach, das langweilige Zeug interessiert sie doch nicht.« Rachel sprang von seinem Schoß. Sie stöberte in dem Stapel Bingokarten in der Mitte des Tisches und sah sich jede genau an. Sie vermied jeden Blickkontakt, während sie sprach. »Uri wurde von Luzifer und Saleos gefangen gehalten. Und wegen… ähm… besonderer Umstände entschieden die Erzengel ihn… na ja…« - sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und schluckte - »sterben zu lassen.«

»Das ist grausam.« Naomi konnte sich nicht vorstellen, was er getan hatte, das so schlimm sein konnte, dass Rachel und er es verdient hatten, so zu leiden. Sie sah Rachel aufmerksam an, die sich unter ihrem prüfenden Blick wand. Da gab es etwas, das sie ihr nicht erzählte. Neben Lash war Rachel eine ihrer engsten Freundinnen geworden, wie eine Schwester, mit der sie alles teilte – bis jetzt.

»Die Stadt Ai«, sagte Lash. »Das klingt vertraut. Wo hab ich schon mal davon gehört?«

Rachels gezwungenes, hohes Kichern überraschte Naomi. »Sieh dir nur diese Karte an, Naomi. La Muerte.« Sie las es und reichte ihr dann die Karte mit dem Bild eines Skeletts, das eine Sense hielt. »Es sieht überhaupt nicht aus wie Jeremy. Seine neuen Krokodilstiefel sind nicht drauf. Nicht wahr, Uri?«

Uri runzelte verwirrt die Stirn. Dann, als er Rachels Wink mit dem Zaunpfahl allmählich begriff, sagte er: »Richtig, seine Krokodilstiefel – sehr nett.«

Naomi sah, wie Lash sich versteifte und bei der Erwähnung von Jeremys Namen mitten im Mischen innehielt. Jeremy war einen Tag, nachdem sie mit Lash wieder vereint gewesen war, verschwunden. Sie hatte von dem Kampf gehört, den Lash mit ihm gehabt hatte und fühlte sich deswegen schrecklich. Sie hatte Raphael nach Jeremy gefragt in der Hoffnung, sie könnte etwas tun, um dabei zu helfen, die beiden besten Freunde wieder miteinander zu versöhnen. Raphael hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und gesagt, dass Gabrielle ihm einen langwierigen Auftrag gegeben habe und dass er nicht wisse, wann er zurückkehren würde.

»Dann ist Jeremy also zurück.« Lash hatte wieder angefangen, die Karten zu mischen. Seine Stimme klang gepresst.

Rachel sah zu Lash und dann zu Naomi. Mitleid stand in ihren Augen. Dann drehte sie sich mit einem, wie es schien, gezwungenen Lächeln zu Lash um. »Ich habe ihn heute Morgen gesehen. Vielleicht könntet du, Jeremy und Uri eure Pokerrunden wieder aufnehmen.«

Lashs Unterkiefer spannte sich an. Er starrte auf die Karten hinab, als er sie mit den Daumen durchblätterte. Er klopfte mit dem Kartendeck auf den Tisch und mischte wieder wortlos.

Es wurde zunehmend ungemütlich im Raum, als er es vermied, auf den Vorschlag zu antworten.

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Naomi zu und zwang ihre Stimme heiter zu klingen. Sie warf Rachel und Uri einen Blick zu, bemerkte die wissenden Blicke, die die beiden einander zu warfen und seufzte. Noch mehr Geheimnisse. Was hatte es bloß mit diesem Ort und den ganzen Geheimnissen auf sich? Sie war nicht daran gewöhnt, dass die Leute um sie herum Geheimnisse vor ihr hatten, besonders, nachdem Lash endlich enthüllt hatte, dass er ein Seraph war und Raphael ihr gesagt hatte, dass sie der siebte Erzengel war.

Lash hatte ihr sogar von seinem Gespräch mit Raphael erzählt und davon, dass Rebecca, der Schutzengel ihrer Großmutter, seine Mutter war und Raphael sein Vater. Und als er ihr erzählt hatte, dass Jeremy sein älterer Bruder war, hatte sie schon geglaubt, sie hätten die Geheimnisse jetzt hinter sich gelassen… anscheinend war dem nicht so. Wie frustrierend! Kein Wunder, dass Lash launisch gewesen war, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Sie warf ihm das nicht im Geringsten vor.

»Erklär es mir noch einmal: Weshalb müssen wir Pintobohnen verwenden?«, fragte Lash und nahm sich eine Hand voll.

Er versuchte offensichtlich, das Thema zu wechseln. Sie seufzte. Vielleicht war es besser, beim Spielen vom mexikanischen Bingo zu bleiben.

»Wir müssen keine Bohnen benutzen. Mit Bingochips würde es genauso gut funktionieren. Belita hat gern Bohnen verwendet.« Ein vertrauter Stich fuhr ihr durch die Brust, derselbe, den sie immer fühlte, wenn sie an ihre Großmutter und ihren Cousin Chuy dachte.

Als Naomi gerade im Himmel angekommen war, hatte sie sich in ihren Trainingspausen vergewissert, dass es ihnen gut ging. Aber mit jedem Mal, das sie das tat, war es für sie schwerer und schwerer geworden, sich von der Brücke über den Bach loszureißen – vom einzigen Fenster, dass ihr zu ihrer Welt geblieben war. Gabrielle hatte ihre Unfähigkeit mitbekommen, sich nach jedem ihrer Besuche zu konzentrieren und ihr befohlen, die Brücke zu meiden bis ihr Training abgeschlossen war.

Zuerst fand sie es unerträglich, dass Gabrielle sie im Grunde darum bat, ihre Familie zu vergessen. Lash war natürlich aus der Haut gefahren und hatte angeboten, die Sache vor Michael zu bringen, und erklärte, sie arbeite schwer und einen Blick auf ihre Familie zu werfen helfe ihr, den Übergang in den Himmel leichter zu machen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, war ihr klargeworden, dass Gabrielle recht hatte. Ihr neues Leben und ihre neue Familie waren hier bei ihm und die beste Art sich zurechtzufinden war, sich in ihrer neuen Rolle als Erzengel zu vergraben.

»Naomi.« Lash berührte sie sanft an der Schulter. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich habe nur an Belita gedacht. Ich vermisse sie und Chuy.«

»Ich vermisse sie auch… und Bear«, sagte Lash und fügte den Chihuahua ihrer Großmutter hinzu. »Verrücktes, kleines Fellknäuel.«

Naomi fragte sich, was sie jetzt gerade taten. Sie fragte sich, ob es dort auch spät am Abend war wie oben im Himmel. In welcher Zeitzone sich wohl der Himmel befand?

Chuy und sein bester Freund Lalo saßen vermutlich gerade am Abendbrotstisch. Sie mussten gerade von der Arbeit gekommen sein. Chuy wäre bei seiner zweiten Portion und Lalo bei seiner dritten. Lalo war praktisch ein Mitglied der Familie und selbst er nannte ihre Großmutter »Belita« und nicht »Anita«, wie sie eigentlich hieß.

Naomi konnte in Gedanken geradezu vor sich sehen, wie Lalo Bear heimlich Stückchen aus Belitas Hühnchen-Mole zusteckte, während Belita damit beschäftigt war, die Küche sauberzumachen.

Rachel gähnte laut, als sie aufstand und den Stuhl über den Boden schob. »Ich bin müde. Komm, Uri. Lass uns nachhause gehen. Wieso spielen wir morgen nicht bei uns?«

»Ihr müsst nicht gehen«, wandte Naomi ein.

Rachel kam zu ihr herüber und umarmte sie. »Das weiß ich doch. Du und Lash, ihr solltet ein bisschen Zeit allein für euch haben. Du hast in letzter Zeit so hart gearbeitet. Außerdem sagt Uri, er hat heute Abend noch eine besondere Überraschung für mich.«

»Mit dir ist doch jeder Abend besonders.« Uri zog sie in seine Arme und entfaltete seine Flügel.

»Uri!«, quietschte Rachel. »Was machst du denn? Ich habe selbst Flügel, weißt du.«

Uri schritt um den Tisch herum zum Wohnzimmer, wo eine Reihe Fenster das Tal überblickte. Alle Fenster standen offen und ließen einen kühlen Lufthauch herein.

»Lash, es war klug von dir aus dem Gemeinschaftshaus aus- und in deine eigenen vier Wände zu ziehen.« Er trat an das mittlere Fenster und sah nach unten. »Der Blick von hier oben ist atemberaubend. Aber warum so weit von allen entfernt?«

So sehr Naomi das Zusammenleben mit Lash liebte, es war in seinem kleinen Zimmer eng gewesen. Lash hatte die Situation sofort in Angriff genommen, indem er ein kleines Cottage auf dem Kamm eines Berges gebaut hatte, der die Wohnungen der Engel überblickte. Viel wichtiger war allerdings, dass sie von ihrem Zuhause aus die Brücke sehen konnte – eine Erinnerung daran, dass Belita nur Minuten von ihr entfernt war. Sie liebte es. Aber tief im Innern fragte sie sich, ob es noch einen anderen Grund gab, aus dem er abseits der anderen leben wollte – oder vielleicht abseits einer einer Person im Besonderen.