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Loe raamatut: «Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten», lehekülg 5

Böhlau Helene
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Kußwirkungen

Am Marktplatz, im Eckhaus, das dem jetzigen Rathaus gegenüber liegt, da lebte zur Zeit, als die Ratsmädel mit allerlei Schwänken in der Wünschengasse ihr Wesen trieben, und Apothekers von ihrem Erker, den ein buckliges steinernes Weibchen auf den Schultern trägt, nach den Herrschaften ausblickten, um rechtzeitig knicksen zu können, und das kleine Fräulein Muskulus mit ihrer dicken Perücke und mit dem Veilchenhut über den Platz scheegte und die Fabianen und die Kummerfelden und die Kameraden der Ratsmädchen, Budang, Horny und Schillers Aeltester vorüberwanderten, und es überhaupt von all den alten Weimaranern, von denen keine Feder und keine Faser mehr übrig ist, noch wimmelte, da wohnte im Eckhaus ein gelehrter und weiser Herr, Rat Tiburtsius. Er wohnte da mit seiner Gemahlin, einer kleinen statiösen Dame, und seiner Haushälterin.

Kinder gab es im Hause nicht, dafür war aber alles blitzblank, vom messingenen Thürknauf und dem Namenschildchen an der Flurthür, bis zu dem messingenen Vogelkäfig an dem Fenster über Madame Tiburtsius' Arbeitstischchen, und bis auf den letzten Messingnagelknopf in der Küche, bis auf die messingene Kuppellaterne, mit der Madame Tiburtsius abends von den Whistpartieen abgeholt wurde, die der Reihe nach umgingen bei Apothekers, bei Madame Kirsten, der Mutter der Ratsmädchen, bei Madame Kummerfelden und auch bei Fräulein von Knebel im Schloß, der Erzieherin der Prinzeß Karolina, bei Tiburtsius' und noch einigen andern und auch bei Madame Schopenhauer. Es glänzte und glitzerte alles im Haus, auch die alte messingene Kohlenpfanne, die der Mutter selig, mit Gesangbuch und Lederkissen, winters in die Stadtkirche nachgetragen wurde und die jetzt im Flur hing. Die Kaffeekanne, aus der Herr und Frau Tiburtsius nachmittags ihr Schälchen tranken, blendete die Augen, und der Präsentierteller, auf dem sie stand, warf ihren Glanz und den seinigen zur Zimmerdecke hinauf und ließ grelle Lichtringel tanzen.

Und all dieses Feuer fachte ein einziges Frauenzimmer an, das, wenn man ihr nur Zeit gegeben hätte und einen gehörigen Putzlappen, die ganze liebe Erde reingefegt haben würde. Dieses Frauenzimmer war eine trockene, hagere Person, sauber und kerzengerade, und wenn sie mit ihren beiden strahlenden Eimern zum Brunnen ging, der unter Apothekers Erker sein Wasser in das große steinerne Becken laufen ließ, und hinwandelte, rein wie eben erst aus Gottes Hand mit samt ihren Eimern hervorgegangen, da schauten die Hausfrauen, die mit ihren Strickstrümpfen und in großen Hauben an den Fenstern saßen, verlänglich nach ihr aus und seufzten und übertraten regelmäßig den Katechismus, der da sagt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Magd.

Aber das war ihre Sache, sie mochten es damit halten, wie sie wollten, sündigen oder nicht sündigen, es half ihnen doch nichts.

Tiburtsius' Kathrine war in dem blinkenden Hause festgewurzelt, eher hätte der Stadtkirchenturm ans Umziehen gedacht, als daß Kathrine von ihrem Dienst in einen andern getreten wäre.

Sie gehörte zu Tiburtsius', schon zur Zeit der Mutter von Madame Tiburtsius. Sie war es gewesen, die der alten Dame die messingene Kohlenpfanne, die jetzt unbenutzt, aber immer noch blinkend, im Flur hing, mit dem Feuerstörer, dem Gesangbuch, dem Lederkissen in die Stadtkirche nachgetragen hatte. Leid und Freud hatte sie mit ihren Leuten durchgemacht, hatte gewissermaßen Herrn Rat Tiburtsius mitgeheiratet und hätte es nahezu für eben einen solchen Treubruch gehalten, wenn sie ihn verlassen hätte, als wäre sie sein angetrautes Weib gewesen und nicht die Köchin und Haushälterin der Madame.

»Unser Herr,« sagte sie, wenn sie vom Rat sprach.

»Unser Herr,« sagte auch Madame Tiburtsius, wenn sie in Eifer kam über irgend etwas, was ihrer Meinung nach der Herr Gemahl hätte unterlassen können.

Tiburtsius' Kathrine war aber mit ihrem Herrn und mit der Madame, trotz aller Treue und trotz aller Unmöglichkeit, sich von ihnen und ihren Messingkäfigen, Messingknäufen, Messinghandhaben, Messingkesseln, Messingofenthüren, Gabeln und Zangen, Leuchtern, Klingeln und dem messingenen Namenschild jemals trennen zu können, durchaus nicht so ohne weiteres einverstanden. Sah man sie im Hause hantieren und auf den Markt gehen, so hätte man glauben sollen, solche unanfechtbare, bewährte Sauberkeit, die könnte nur in allertiefstem Frieden gedeihen, in einer Harmonie, von der man sich eigentlich keine rechte Vorstellung machen kann, sondern die man nur für möglich hält auf der Insel der Seligen oder an solch einem Orte, wo es weder Kaminfeger noch Heizung gibt, noch Straßenschmutz und Staub, noch etwas Versalzenes, Angebranntes, Gesäuertes, noch Mißverständnisse aller Art, Zank mit Handwerkern, Tauwetter, Rauch und üble Laune, Aerger über Freunde und Feinde, noch alte Damen, die mit ihrem Mops auf Nachmittagvisiten gehen, weder alte Herren mit Tabakspfeifen, noch Kinder mit schmutzigen Schuhen und Musbröten.

Ja, und es war auch bei Tiburtsius' wie überall auf Erden. Es ging nämlich ganz natürlich zu, und der ungetrübte Glanz, der über allen Dingen lag, war nichts weiter als was sich eben mit unermüdlichen Fäusten erreichen ließ. Tiburtsius' Kathrine hatte so viel Aerger zu schlucken, so viel Leid, als irgend eine andre Sterbliche auch.

Sie umhüllte den Rat mit einer wahren Wolke von Reinlichkeit und Sauberkeit – aber im Kern dieser Wolke, da saß der Rat und paffte und steckte in einem schmierigen Schlafrock und in ausgeschlappten Filzschuhen und häufte Schmutz und Staub und Gelehrsamkeit auf seinen Schreibtisch und rührte all dieses untereinander und streute Schnupftabak darüber und spuckte auf die Dielen und wischte sich die Feder an den Kniehosen und warf sein weißes Perückchen auf die Akten, daß der Puder stäubte und sich mit dem Schnupftabak und Rauchtabak und der Asche und den Dochten, die er immer aus der Lichtputzschere fallen ließ, auf seinem Schreibtisch (dem Misthaufen, sagte Kathrine in ihren Selbstgesprächen) zu einem sehr bedenklichen Ueberzug vermengte.

Das war ein Kreuz und ein Elend – und dies vor den Augen der Welt zu verbergen, war Rats Kathrine ihre erste Sorge, da war kein Opfer und keine Mühe groß genug.

Nichts macht den Menschen mehr Spaß, scheint es, als eine Lüge zu verteidigen, eine Lüge groß zu ziehen, an eine Lüge zu glauben und glauben zu machen, eine Lüge am Leben zu erhalten, für eine Lüge zu leben und zu sterben.

Die Leute sollten nun einmal glauben, der Rat wäre ein Wunder von Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe und dergleichen löblichen Eigenschaften mehr. Das hatte sich Kathrine in den Kopf gesetzt, und nicht nur Kathrine, sondern das rechtmäßig angetraute Weib auch ebenso. Armer Rat, wenn du die Treppe hinabwandertest, in aller Unschuld, wie war's dir dann, wenn die Küchenthür aufflog und hinter dir drein ein Weibsbild fuhr mit Bürsten bewaffnet, der Tuchbürste und der Samtkragenbürste und, ohne zu reden über dich herfuhr wie ein Hagelwetter, vom Kragen auf den Rock mit der sanften Bürste und der harten Bürste in blitzschneller Abwechslung – und wenn, von den Bürsten angelockt, sich noch eine Thüre öffnete und die Frau Rätin mit sanften Jammertönen und der Puderbüchse und der Quaste eilig ankam, um dir das Perückchen frisch zu stäuben und dein Zöpfchen zwischen den Fingern zu nudeln – und dann das Bürsten von neuem begann – wild und eifrig, damit um Gottes willen Herr Rat nicht aufgehalten würde; alles in allergrößter Devotion und ehelicher Liebe und Fürsorge!

»Und die Finger, Gustävchen – und die Finger und das Fazeterl?

»Die Finger –, Gustävchen, hast se doch erscht gewaschen?« –

Was hatte doch die Frau Rätin für eine behagliche Stimme – so ein bißchen eine fette Stimme und ein wenig schnarrend.

Und wenn du glücklich draußen warst, Herr Rat, da war es dir ein wenig schwindlig – da wackeltest du mit dem Kopfe ein ganz klein wenig über diese Weibsbilder; aber nicht etwa so stark, daß man es mit unbewaffneten Augen vom Fenster aus hätte wahrnehmen können. Beileibe nicht! Denn oben schaute die Rätin am Fenster dir nach und öffnete das Schiebfensterchen und rief einmal wie allemal: »Aber Gustävchen, pünktlich zum Essen – damit wir den Nachmittag vor uns haben – Gustävchen!«

Und dann gingst du in deine Sitzung – da warst du ein freier – ein großer Mensch.

In diese Sitzung sprangst du allemal wie der Frosch in den Teich, wenn du nur das Bild nicht übelnehmen willst! Da kam dir nichts nach – gar nichts, da mußte alles draußen bleiben, unwiderruflich – alles, alles. Ueber die Schwelle – ein Schritt, und du warst ein gefeiter Mann. Das war eine vortreffliche Einrichtung!

Manchmal aber in der Sitzung, da packte es dich ganz eigenartig, da war es dir zu Mute wie dem Schneck, der sein Haus irgendwo hat stehen lassen aus Vergeßlichkeit, wenn einem Schneck so etwas passieren könnte, und der sich nun absorgt, was derweilen wohl mit seinem Haus geschehen ist, was sie wohl damit machen, ob sie's ihm zertreten haben – oder ob was hineingekrochen ist.

Ganz so war es dir zu Mute, lieber Rat – das weiß ich, und du würdest mir recht geben. Ja, das wäre dir lieb gewesen, wenn du nicht gewissermaßen nackt und bloß in die Sitzung hättest gehen müssen, sondern wie der Schneck dein Haus, dein Eigentum hättest überall mitnehmen können; wenn du mit deinem Schreibtisch zusammen hättest in die Sitzung gehen können – das wäre schön gewesen! Der aber hat zu Hause bleiben müssen, dein Schreibtisch, der Misthaufen.

Und du mußt selbst gestehen, daß ein Misthaufen mitten in einem solchen blinkenden Hause, wie das deine eins ist, nicht hineinpaßt; daß ein Misthaufen entfernt werden muß, und daß es Hände gibt, die das unwiderruflich thun werden, wenn der Haufen gen Himmel stinkt, wie Kathrine sagt.

Und dann, wenn du nach Hause kamst, guter Rat, und es empfing dich so eine angenehme wohlbekannte Luft, eine eigentümliche Oede – fremd starrte dich dein Zimmer an, wie eine Wüste dein Schreibtisch, die Dielen naß, kalt, fleckenlos, der Tabaksduft mit Seife- und Sandgeruch vermischt, der seelenvolle Zustand ertötet, alles kalt zusammengerafft ohne Sinn und Verstand, die Verbindung von Gelehrsamkeit, Schnupftabak, Rauchtabak, Asche und Staub zerstört, das Behagen verscheucht – das hast du oft durchgemacht, Herr Rat; anfangs gebrummt, geschimpft, gezankt, aber das nahmen deine Weiber so selbstverständlich hin wie eine Rechnung, verzogen die Gesichter nicht und strichen deine Aufregung, deine Verzweiflung, deinen Jammer, deine Wut einfach ein, quittierten darüber, und die Sache war abgemacht.

Du warst machtlos, Herr Rat, denn was wolltest du thun; du warst machtlos wie ein Verrückter zwischen seinen beiden Wärtern, die ihn seelenruhig toben, schreien, zappeln lassen, bis der Anfall vorüber ist, und sich sogar verständnisinnig in ihrer Roheit über das Gethu des armen Narren zulächeln.

Trotz aller deiner Gelehrsamkeit, Herr Rat, warst du ein armer Narr. – Glaub's nur, Herr Rat.

Von deiner Gelehrsamkeit sahen sie nichts, hörten sie nichts, und wie sie zu dem Wirtschaftsgeld kamen, das immerhin deine Gelehrsamkeit ihnen einbrachte, darüber zerbrachen sie sich auch den Kopf nicht.

Sie bemerkten nur die Asche, den Ruß, die rauchige Feuerstelle, die die Flamme deines Geistes erzeugte, und hielten das für einfache Schmutzerei.

Und Schmutzerei konnten sie beide nicht brauchen, die Kathrine nicht, weil sie Blankheit für wichtiger als Luft, Atemholen, Essen und Trinken ansah, und die Frau Rätin nicht, weil sie immer Besuch und Visiten erwartete – und die bekam sie von früh bis in die Nacht hinein.

Besuch mit Nachtessen und Visiten mit Kaffee, einem Gläschen Wein und Kringeln. So waren Besuch und Visiten voneinander zu unterscheiden bei Frau Rätin und Kathrine. Und dieses Besuch- und Visitenerwarten, das war der zweite schwere Stein, der auf Kathrinens Herzen lag, und nicht nur auf Kathrinens. Die Frau Rätin war eine lebenslustige Frau, die bei sich dachte: »Es ist, weiß Gott, genug, wenn eines im Hause sauertopft, das sollte mir fehlen, daß ich mich über meinen Nähtisch setzte, wie mein Rat über seinen Schreibtisch, und Grillen finge und spindisierte. Gott bewahre.« Die rundliche Rätin mit den muntern blauen Augen, dem kleinen, von runden Wangen eingeengten Mund, der strammen, kugelrunden Gestalt, die Frau Rätin, die so lachen konnte, daß alles an ihr schwabberte und schwabbelte, die wollte das Leben genießen und genoß es.

Sie hatte so viele gute Freunde und Freundinnen, alte und junge, und war überall dabei und machte alles mit. Vormittags hielt sie sich, wie es einer guten Hausfrau geziemt, leidlich daheim, flickte, schaute der Kathrine nach, machte mit ihr Streifzüge in Herrn Rats Studierzimmer, sobald er selbst ihm den Rücken gewandt hatte; sie ging Mittwochs und Sonnabends hinunter auf den Markt und brachte die Morgenstunden herum, wie es ein kinderloses Weibchen mit einem grilligen Mann am Schreibtisch in Weimar und anderswo je hingebracht hat. – Aber am Nachmittag!

»Damit wir die Nachmittage vor uns haben, Gustävchen.« Das rief sie nicht umsonst täglich Herrn Rat aus dem Schiebfensterchen nach, wenn er sich in die Sitzung aufmachte.

Bei Tiburtsius' und bei Apothekers ging es am lustigsten her von allen, die rings um den Marktplatz wohnten.

Bei Apothekers nahm groß und klein an jeder Festlichkeit teil, da floß Familienseligkeit, Familiengenügsamkeit wie ein lustiges Bächlein. Bei Rat Tiburtsius' aber ging der Geselligkeitstrieb, der Trieb nach Festlichkeit und Lustbarkeit von einem einzigen fetten Weibchen aus, das sich breit und wichtig machte.

Kathrine haßte das ganze Gästewerk aus Grund ihres Herzens. Sie kamen zu jeder Zeit und hatten kein Einsehen. Ehe die Stiegen noch trocken waren, tappten kleine und große Füße darauf herum und schleiften den Straßenschmutz wieder herein.

Die Kummerfelden, die alte Schauspielerin und jetzige Nählehrerin, die am Entenfang in ihrem winzigen Häuschen wohnte, kam angehatscht durch dick und dünn, bei jedem Wetter. In ihren Strickbeutel hatte sie zwar oftmals Steine auf ihrem Spaziergang eingesteckt, die ließ sie dann auf dem grundlosen Weg zum Entenfang, so hießen ein paar kleine Häuser am Lottenbach, fallen, hatte aber nicht viel genutzt, und so zierlich sie ging, die Alte, ein gehöriges Stück Entenfang brachte sie an ihren Kreuzbänderschuhen immer noch mit.

Bei Tiburtsius' fand sich alles mögliche zusammen: die Fabianen, die sie in Weimar Rabenmutter nannten, weil sie jeden Winter, den Gott schickte, zum Ettersberg hinauswanderte und die Raben fütterte mit allerlei, was sie bei den guten Freunden eingesammelt hatte, worauf sie mit ihren großen Filzschuhen und mit gutem Humor, wie ein Rieseneiszapfen, zur Kaffeestunde zu Tiburtsius' kam und ihren unzerreißbaren Christophorusmantel übers Treppengeländer hing, so daß beim Auftauen die Bäche davon herabrannen. Und ihre Freundin, die winzige Mamsell Muskulusen mit der dicken Perücke, und die wunderschöne Rätin Kirsten mit ihren beiden Ratsmädchen, und alle Apothekers, und der Kupferstecher Müller mit den Müllerschkindern, und nicht zu vergessen der Ratsmädchen Freunde, Budang, Ernst von Schiller und Horny und Herr und Frau Egidi, ein junges Ehepärchen, und zu feierlicheren Gelegenheiten Madame Schopenhauer und Fräulein Adele, die Pogwischs, die ganze schöngeistige heilige Klerisei aus Frau Johannas Salon, August von Goethe und junge Leute seiner Bekanntschaft. – Wer sie alle aufzählen könnte, die Leute aus dem immer lustigen Weimar, die fleißig bei der dicken kleinen Frau Tiburtsius aus und ein gingen und Kathrinens guten Kaffee tranken und die guten Kuchen aßen, die sie buk, und die Pufferts und Wickelklöße und die appetitlichen Brotschnittchen – und bei besonderen Gelegenheiten ein Gläschen von Herrn Tiburtsius' gutem alten Malaga zu schlucken bekamen, so lange, bis er aufgeschleckt war und der Herr Rat das Nachsehen hatte.

Und wie sie alle mit einem schlechten Gewissen an der Thür von Herrn Rats Arbeitsstube vorbeischlüpften und auch an der blinkenden Küche von Kathrine. Sie wußten gar wohl die Sachlage zu beurteilen; aber das störte sie nicht, durchaus nicht. Im Gegenteil, es hatte etwas Anregendes. Und wenn der Herr Rat ein bißchen maulwurfsmäßig in die schon stundenlang versammelte Gesellschaft seiner Frau trat, da wurde er gescholten und liebenswürdig gehänselt und zwischen zwei schöne Damen gesetzt, und mußte den Sakramenter spielen. Und brauchte man sein Arbeitszimmer zu lebenden Bildern oder als Garderobe oder sonst zu irgend einem edlen Zweck: »Ausgeräuchert, alter Hamster,« sagte dann irgend ein Pfiffikus zu ihm, sein alter Freund, der Apotheker, oder Kupferstecher Müller oder sonst einer; irgend so eine Art Witz machten sie stets, gewöhnlich denselben.

Das ging so fort jahraus, jahrein.

Was half es dem armen Rat, daß er ein großes Licht der Wissenschaft war, daß man in Weimar allerlei Anekdoten von ihm erzählte, daß die Marktweiber ihn nicht nur in eine Reihe mit Schiller und Goethe stellten, sondern noch weit über diese hinaus, daß der Nachtwächter ihn ganz besonders ehrfurchtsvoll grüßte, daß er ein sehr geachteter Bürger war? Gar nichts. Er blieb eine armselige, waffenlose Kreatur, die nicht im stande war, ihr Nest zu verteidigen. Er wurde gebürstet, überstäubt und wieder gebürstet, sein Schreibtisch wie ein Stall gereinigt, sein Behagen durchkreuzt, verscheucht, seine Atmosphäre gelüftet, seine Gewohnheiten wurden mißachtet, seine Ruhe wurde gestört, seine Stube genäßt, versandet, sein Wein verschenkt – der Boden ihm unter den Füßen weggenommen. Er wußte es selbst nicht, wie schlimm es war.

Kathrine aber ging hin und wieder ein trübes Licht über den Zustand ihres armen Herrn auf, einzig deshalb, weil auch sie dem Trieb nach Geselligkeit, der ihre Frau beherrschte, feindlich im Grunde ihrer Seele gegenüberstand. Sie kannte eine Geschichte, die hatte der Wirt vom Stadthaus ihr erzählt, eine Geschichte, auf die sie stolz war, die sich zugetragen hatte, als sie schon längst im Hause diente, von der sie aber nichts erfahren, bis eben der Wirt vom Stadthause sie ihr mitteilte, und die Geschichte hatte sich folgendermaßen zugetragen.

»Dein Rat ist doch ein verteufelt Gescheiter,« hatte der Wirt ihr gesagt, während sie sich das Seidel Braunbier von ihm einfüllen ließ. »Da schaut er einmal zum Fenster 'raus und gafft, und bei mir steht ein Bauersmann, so 'n Stoffel, der nich dreie zählen kann – der sollte in der Stadt einen Doktor holen, aber welchen – das hatte er dir vergessen. Und nun steht er da in seinen Lederhosen, wie die Kuh vor dem neuen Thor, und weiß nicht, was hinten und vorn is – und kratzt sich hinter den Ohren. Da sag' ich zu ihm: ›Guck, da sieht der Rat Tiburtsius zum Fenster 'naus – der weiß alles. Wenn einer, so kann der dir's sagen, den mußt du fragen.‹ Un richtig, der Schiebel geht auch und steht dir unterm Fenster und glotzt 'nauf – und thut 's Maul nich auf.

»Da mach' ich mich auf die Strümpfe und mach' dem Herrn Rat mein Kompliment und sag': ›Herr Rat, der Mann da soll schnell einen Doktor aufs Land holen un weiß nich mehr, welchen.‹

»Der Herr Rat, der hört's dir nur – un sagt gleich: ›Das ist ja wunderlich – das ist ja wunderlich.‹

»Un Doktor Wunderlich, der war dir'sch werklich, das hatte er gleich weg. – Der Doktor Wunderlich, der sollte geholt werden. Es muß schonn so an recht Gelehrter sein, dein Rat.« –

Und Kathrine erwog diese Geschichte in ihrem Herzen und vergaß sie nicht, und wenn es die Gäste der Madame gar zu bunt trieben und den Frieden des Herrn Rat gar zu unverschämt störten und auch in ihrer Küche herumwirtschafteten, das Mehl selbst aus dem Fasse holten, um Mehlhäufchen zu spielen, oder die blanken Kasserollen herunterlangten, weil sie dieselben zu Helmen in irgend einem lebenden Bilde gebrauchten – da dachte Tiburtsius' Kathrine, daß man so einen gelehrten Mann doch mehr ästimieren sollte. Das dachte sie hin und wieder eine ganze Reihe von Jahren lang.

Nun war einmal um Fastnacht ein sehr milder Februar, der seine zehn Frühlingstage, die er füglich geben sollte, so verlangte man es damals in Weimar von ihm, auch wirklich gab; – es waren schon bald ihrer zehn beisammen, und der Herr Apotheker und der Herr Kupferstecher Müller und der Herr Rat Kirsten und der Herr Rat Tiburtsius und noch so und so viele sagten, wenn sie einander begegneten oder ein Gespräch anfingen: »Heuer ist's aber in schönster Ordnung« – oder »Ein kapitaler Februar« – oder »Ein Staatsfebruar« – oder »Heite ham mer en Februar, der sich gewaschen hat« – oder sonst dergleichen etwas, wie es die alten Herren von damals zu sagen liebten.

Die Jenenser Botenweiber brachten schon Schneeglöckchen und Weidenkätzchen mit und erzählten Wunderdinge, wie weit sie in Jena schon Weimar voraus wären.

Um diese Zeit war in den Rat Tiburtsius eine sonderbare Lustigkeit gefahren. Er trieb sich außer dem Haus umher. Die einen sahen ihn da, die andern begegneten ihm dort. Er machte weite Spaziergänge, man hatte ihn mit Leuten auf der Straße reden sehen; von denen man wußte, daß sie mit Tiburtsius' nicht bekannt waren. Er war zerstreuter denn je, ließ sich von Kathrine auf der Treppe bürsten und von der Rätin bestäuben und dann wieder bürsten, ohne etwas davon zu bemerken. Er suchte die Dinge, die er in der Hand trug, in allen Ecken, jammerte nach der Brille, die ihm auf der Nase saß, bemerkte es scheinbar nicht, wenn sie seinen Schreibtisch abgekehrt und umgekehrt hatten, wurde von Kathrine ertappt, wie er ohne Hut ausgehen wollte, statt des Hutes aber seinen alten Filzschuh unterm Arm trug. So toll dies auch klingen mag, ist es doch wirklich und wahrhaftig wahr und in Weimar auch bei alt und jung gar wohl bekannt. Es hat sich so manche Geschichte von dem Herrn Rat fortgepflanzt, und ich kann eine feierliche Beteuerung abgeben, daß überhaupt alles, was ich von dem Herrn Rat erzähle, vollständig auf Wahrheit beruht, wie überhaupt alles, was ich in dieser Geschichte zum besten geben will.

Und wollte ich die Quelle verraten, aus der ich so manches Altweimarische schöpfen darf, so bin ich versichert, es würden sich so vielerlei Forscher und Wühler mit Eimern, Gelten und Schaffen aufmachen, um auch aus meiner Quelle zu schöpfen, daß ich wohlweislich schweigen werde. Sie würden mich fortdrängen. Sie würden behaupten, bei weitem wichtiger als meine Wenigkeit zu sein. – Sie würden sich mit wissenschaftlichem Eifer breit machen, würden mich anschnauzen oder höflich ersuchen, Platz zu machen, weil sie die Goethezeit mit allem Drumunddran gepachtet zu haben vorgeben. – Jawohl – daraus wird aber nichts.

Uebrigens, um gleich eine Ungenauigkeit, deren ich mich schuldig gemacht habe, selbst zu berichtigen, ehe es andre thun, gestehe ich, daß Herr Rat Tiburtsius keinen alten Filzschuh unterm Arm statt seines Hutes getragen hat, sondern etwas andres, was ich mir aber erlaubt habe, des guten Tons halber in einen alten Filzschuh umzuwandeln. Der Rat war eben mit seinen Gedanken ganz wo anders, als wo Kathrine und die Rätin meinten, daß er sein müßte.

So ging es eine ganze Weile fort.

Die Leute trugen der Frau Rätin zu, daß der Herr Rat einen Kauf müsse abgeschlossen haben; aber was er gekauft habe, das konnten sie ihr nicht sagen. Auf dem Stadtgericht war er auch gesehen worden. – Gott weiß, wo alles man ihn gesehen hatte! Auch hinter den Scheuern wollte man ihn gesehen haben.

Die Frau Rätin grübelte hin und her, ihre Gäste grübelten, Kathrine grübelte. Man fragte, man sprach allerlei Vermutungen aus. Die einen meinten, er habe sich ein Reitpferd gekauft – darüber mußte aber die Frau Rätin lachen. Die andern meinten Pferd und Kütschchen – da lachte die Frau Rätin schon weniger, das wäre ihr gerade recht gewesen. Einen Oxhoft Wein aus Frankfurt, glaubte der Apotheker. Andre wieder kamen darauf, er wolle der Stadt eine Schenkung machen. Man konnte nicht darüber einig werden, und der Rat schwieg beharrlich.

»Das ist meine Sache – meine Sache – meine Sache!« fuhr er seine Frau an; zum erstenmal seit Jahren fuhr er sie wahr und wahrhaftig an, als sie hinterlistig und energisch hinterlistig in ihn dringen wollte.

Das erschien ihr so sonderbar, daß ihr gut gewöhnter alter Gatte mit einemmal rebellisch wurde, daß sie etwas Unbestimmtes fühlte, was sie veranlaßte, nicht weiter in ihn zu dringen.

Und so blieb er so weit unbehelligt.

Eines schönen Abends, als die Rätin zu der Schopenhauern zur Whistpartie gebeten war, wanderte Herr Rat in seinem Zimmer auf und nieder und pfiff. – Er pfiff wirklich. – Wie sonderbar es klang, und wie sonderbar er es fühlte, dies Pfeifen! Seine Lippen waren ihm ordentlich steif geworden und juckten ihn. – Er hatte seit Jahrzehnten nicht gepfiffen, solang er Rat war, kein einziges Mal.

Aber heute! – Und er rieb sich die Hände ganz vergnügt und schlürfte in seinen Pantoffeln sehr schnell und sehr eifrig auf und nieder.

Jetzt klappte er den Kleiderschrank auf, suchte und kramte unten und oben auf dem Brett, wo sein Schuhwerk stand, und auf dem, wo Hüte und Kappen lagen und wo ein Staatsperückchen auf seinem Stengelchen saß. Dem nickte er zu und sagte: »Du wirst was erleben!«

Dann wirtschaftete er zwischen Röcken und Kniehosen und den gestickten Westen herum, und ein paar weiße, mächtige Halsbinden fielen oben vom Brett, wo sie neben dem Perückchen gelegen hatten, und er trat darauf. Es knackte. Zuerst merkte er's nicht, denn er wühlte ganz zu hinterst im Schrank, aber jetzt steckte er mit dem einen Fuß in einer, und die hatte eine Mechanik und schnappte.

Da fuhr er mit dem Kopfe aus seinen Röcken, Hosen und den gestickten Westen – und sah nach, was angebissen hatte.

»Ei – ei – ei – ei!« sagte er betroffen und gedachte seiner Weibsleute. Dann legte er die Halsbinden vorsichtig, trotzdem er sie bös zugerichtet hatte, wieder neben das Staatsperückchen – und kramte weiter.

Endlich hatte er, was er suchte, und zog ein Ungetüm von einem alten Flausrock hervor, einen hellen Flausrock, der ihm von oben bis unten ging. Er schien, nach dem Zustand zu urteilen, in dem er sich befand, der Vater von dem jetzigen alten Flausrock zu sein, den der Rat gerade anhatte – oder auch der Großvater davon. Er war so eine Art Schlafrockheiligtum.

»Da ham m'ern,« murmelte der Rat, hielt ihn ausgebreitet vor sich hin und schaute den schäbigen Gesellen pfiffig an und schaute auf die Rutschpartieen von altbekannten Tintenflecken, auf ganze Wüsteneien, wo er die Feder jahrelang ausgewischt hatte, so daß glänzende Krusten entstanden waren, und schaute auf Tabak- und Bierflecken und unbestimmbare Flecken, als blickte er auf lauter Gemälde seines vergangenen Lebens.

Der Rock gefiel ihm. Der Rat schmunzelte und wickelte ihn sorgfältig und fest in eine Rolle, und mit einem Bindfaden band er ein paar große Latschen darauf, schob dann das Paket in eine Ecke und stellte einen Lehnstuhl davor und ging wieder im Zimmer auf und nieder eine ganze Weile, schaute hin und wieder zum Fenster, und jetzt lugte er vorsichtig zur Thür hinaus. Es war still, ganz still – Kathrine mußte auch fort sein.

Ein Zug tiefen Friedens lagerte sich auf dem Gesicht des Rats. Er legte die Hände über sein spitzes Bäuchlein, das sich unvermittelt wie ein Schwalbennest an der hagern Figur angehängt hatte, und wandelte so weiter. Diesmal aber pfiff er nicht.

Er sang mit einer knarrenden, ungeschmierten Stimme, wie in der Kirche, wenn er seinen Choral absang – aber ein gutes, herzerfreuendes Lied war es, kein Choral. Und nur die erste Strophe davon – weiter nicht. Er sang so schüchtern, als wollte er einer schönen Dame eine Liebeserklärung singend vortragen, und es lag ein sonderbarer Ausdruck über seinem Gesicht, eine Erregung, etwas wie Reiselust; die aber kannte und verehrte der Herr Rat nicht. Es war etwas andres.

Die Sonne ging jetzt unter und warf ihre Frühlingsstrahlen auf die gelbgetünchten Mauern des Stadthauses, daß es golden glänzte, und die Strahlen, die in das große Becken des Marktbrunnens plätscherten, ließ sie wie lebendiges Silber glänzen.

 
»Wenn einer einen Garten hat.«
 

Das sang der Herr Rat mit zitternder, gerührter Stimme.

Das mochte vielleicht eine Erinnerung sein, eine Jugenderinnerung, eine Frühlingserinnerung, die sich ins Herz schleicht, die das ganze Leben vergessen läßt und uns in die liebe, gute Jugend versetzt, denn der Herr Rat hatte alles, nur keinen Garten, und er sang genau so, als hätte er einen, nicht sehnsüchtig und eigentlich auch nicht erinnerungsselig, sondern triumphierend – wirklich triumphierend. Und er schritt auf und nieder, stolz und unternehmend wie ein Hahn auf seinem Hof. Es war ihm wohl zu Mute, und damit wir's kurz sagen: er hatte wirklich einen Garten. Er hatte einen Garten gekauft – für sich selbst einen Garten, kein Pferd mit einem Kütschchen, und hatte auch der Stadt nichts vermacht. Gott bewahre!

Und jetzt war er dabei, sowie die Dämmerung ein wenig dichter wurde, mit seinem Flausrock unterm Arme in sein neu erworbenes Eigentum zu wandern.

Er hatte die sonderbare, eines weltfremden Gelehrten würdige Idee gefaßt, seinen Garten geheim zu halten. Es sollte so lang als möglich niemand etwas davon erfahren, und deshalb wartete er auf die Dämmerung und sang das Gartenlied erst, als er sich überzeugt hatte, daß auch die Kathrine ausgegangen war.

Und endlich – endlich war es so weit. Der Rat schlüpfte in seinen Rock, nahm Stock und Hut, legte über den Flausrock und über die alten Latschen ein zerknittertes Fetzchen blaues Papier, das er aus einem Fache seines Schreibtisches bedächtig hervorgesucht hatte, denn zu jener Zeit wurde eine solche Papierverschwendung wie jetzt, wo man einen ganzen Flausrock mitsamt alten Latschen bequem in ein einziges Zeitungsblatt wickeln könnte, nicht getrieben. Man dachte an eine solche papierne Flut, wie sie uns heute überschwemmt hat, noch nicht im Traume damals.

Dem Herrn Rat wäre aber so ein tüchtiger Fetzen Zeitung, wie die »Kölnische« etwa, gerade recht gekommen, denn er zupfte und reckte und strich an seinem blauen festen alten Papierchen, das gar nichts decken wollte, sondern nur wie ein Pflaster auf dem Flausrock lag. Schließlich nahm er ihn aber unter den Arm, wie es gehen mochte, schlich die Treppe vorsichtig, vorsichtig hinab, trotzdem er, als er zaghaft in die Küche geschaut hatte, überzeugt sein konnte, daß das Frauenzimmer mit den Bürsten ebensowenig daheim war als die Gattin mit der Puderquaste und der Puderschachtel.