Loe raamatut: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren», lehekülg 5

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9. Geteiltes Verstehen als Antworten

Im Zuge der Darstellung habe ich versucht deutlich zu machen, dass phänomenologische Deskription ein intersubjektives Verfahren ist. Verstehen lässt sich damit nicht (mehr) im Modus symbolischer Repräsentation und Dekodierung, auch nicht mehr als ausschließlich subjektive Tätigkeit, sondern als Antwort auf einen Anspruch von Anderen und Anderem sehen. Verstehen ist daher eine leibliche Praxis des Antwortens im Horizont einer Fremdheit, die sich nicht überspringen lässt. Im phänomenologischen Modell des Verstehens taucht Fremdheit als Kategorie auf – zum einen als Problem der Übersetzung einer stummen Erfahrung in dem Bereich der Sprache, zum anderen als Problem des Fremd-Verstehens von Anderen. In der Fokussierung auf Fremdheit und Andersheit unterscheidet sich das phänomenologische Verstehen von hermeneutischen und ethnographischen Modellen.

Dieses Antworten ist erstens ein Antworten derer, die sich in den Situationen befinden, die beschrieben werden (vgl. Brinkmann 2019a). Mitgängig mit der Verkörperung antworten die Anderen gestisch und mimisch darauf. Im Modell des Antwortgeschehens (Waldenfels 2007) findet sich ein Konzept sozialer Interaktion, das sowohl sprachliche als auch leibliche, sowohl subjektive als auch soziale Akte erfassen kann. Die Antwort ist ein Geschehen, kein Zustand, kein intentionales Handeln und keine Reaktion auf einen Reiz bzw. keine Wirkung einer Ursache. Mit der Antwort eröffnet sich ein leiblicher Resonanz-Raum. Antworten als Verkörperung ist daher in der Differenz von Eigenem und Fremdem zu sehen (Waldenfels 2002). Darin tritt das, worauf geantwortet wird, ebenso hervor, wie Der- oder Diejenige, der oder die antwortet, sowie Dasjenige, worauf geantwortet wird (vgl. Brinkmann/Rödel 2018, Brinkmann 2019a).

Damit wird zweitens der Vorgang des Verstehens als Antwortgeschehen zwischen den beteiligten Forscher*innen deutlich. Insbesondere in Datensitzungen und Interpretationszirkeln ist dieses Antwortgeschehen als Teilhabe an unterschiedlichen Perspektiven erfahrbar und – wiederum – beschreibbar. Die Beteiligten werden angesprochen und stimuliert, ihre eigenen Hinsichten, Ansichten und Vormeinungen als Antworten zu formulieren und zu teilen. Zugleich werden damit unthematische Vorverständnisse geäußert. Diese sind zum einen biographische, geschlechtsspezifische, kulturell-lebensweltliche Konzeptionen, zum anderen auch wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Schemata, die die Sicht auf die Daten präfigurieren. Diese werden dann in einem intersubjektiven Erfahrungsprozess im oben genannten Sinne reduziert. Im responsiven Verfahren wird also nicht nur über die formulierten Hinsichten, sondern auch über die Normen und Theorien, die diesen Hinsichten zugrunde gelegt werden, diskutiert. Diese sind wiederum nicht sichtbar.10

10. Schluss

Ich habe gezeigt, dass das hermeneutische Verstehen in der Tradition von Schleiermacher, Dilthey und Buck sowie rekonstruktive Verfahren in den Sozial- und Bildungswissenschaften, die diesem Modus verpflichtet sind, vom Primat der Sprache ausgehen. Verstehen wird damit als Rekonstruktion und Explikation eines latenten, verborgenen Sinnes gedeutet und gerät damit in die Gefahr, das Andere und Fremde zu assimilieren und zu kolonialisieren. Im Unterschied dazu geht das phänomenologische Verstehen von dem aus, was sich zeigt, dem Phänomen. Damit wird Verstehen erstens im Kontext der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (statt im Dual von Innen und Außen, Wesen und Erscheinung) justiert. Zweitens kommt die Perspektivität der Wahrnehmung und ihre doxalischen, lebensweltlichen Voraussetzungen reflexiv in den Blick sowie drittens die Unterscheidung zwischen leiblicher Wahrnehmung und ihrer sprachlichen Repräsentation im Modus der signifikativen Differenz. Hier setzen die Operationen der Deskription, Reduktion und Variation an. Daher hat die phänomenologische Methodologie in der Sozial- und Bildungsforschung sowohl eine sprachkritische als auch eine voraussetzungs- und geltungskritische Funktion. Im Zwischen der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Sagbarkeit und Unsagbarkeit taucht das Phänomen der Fremdheit als zentrale Kategorie phänomenologischen Verstehens auf. Forschungspraktisch basiert die Deskription auf geteilter Erfahrung im Forschungsprozess. Datensitzungen und Interpretationszirkel lassen sich als Orte bestimmen, in denen im Modus der responsiven Sichtung und Diskussion eine intersubjektive Reduktion und Validierung ermöglicht werden kann. So kann eine Beschreibung zu einer Öffnung zum Überraschenden und Ereignishaften führen und damit eine Pluralisierung von Perspektiven ermöglichen. Verstehen ist damit – um ein Wort von Günter Buck zu variieren – einerseits als Organ der Praxis und andererseits als die Empirie ermöglichendes Moment zu bestimmen.

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Schule als Erfahrungsraum für pädagogisches Verstehen
Sondierungen lernseits von Unterricht
Michael Schratz
1. Den Sinn von Schule im Unterricht erfahren

„Why School?“ fragt Rose (2009) in seiner Analyse des amerikanischen Schulsystems im Hinblick auf deren public value, d. h. den Nutzen von Schule für die Gesellschaft und all ihre Mitglieder. Darin zeigt er auf, dass über die dominierende Teststeuerung übergeordnete Bildungsziele auf der Strecke bleiben, die Schüler*innen in ihren prägenden Jahren unterstützen sollten, sich selbst sowie den Sinn des Lebens und der Welt, in der sie leben, zu verstehen. Es geht ihm darum, die Bedeutung von Schule für die Bildung aller als öffentliches Gut („public good“; ebd., S. 153 ff.) zu positionieren, da sie den bildenden Erfahrungsraum für die künftige Gesellschaft in der sinnstiftenden Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen schafft (Daviet 2016, S. 8). Die Schule ist jener gesellschaftliche Ort, an dem über Bildungspläne darauf Einfluss genommen wird, dass die künftigen Generationen im erwünschten Sinn lernen, die Welt und sich darin selbst zu verstehen.

Im deutschsprachigen Raum sieht Fend den schulischen Auftrag darin, „jene Merkmale in Heranwachsenden zu erzeugen (Qualifikationen und Orientierungen), ohne die das Individuum nicht handlungsfähig und die Gesellschaft in der bestehenden oder in veränderter Form nicht überlebensfähig wäre“ (1980, S. 6). Zur Umsetzung dieses gesellschaftlichen Auftrags geben die politisch Verantwortlichen (Ministerien) die erforderlichen Ziele vor, die auf der jeweiligen Schulstufe erreicht werden sollen. Bei deren Formulierung geht es einerseits um die Vermittlung der erforderlichen Qualifikationen, aber auch um die Erreichung entsprechender Erziehungsziele, welche die staatsbürgerliche Verantwortung des Einzelnen sowie die Mitverantwortung für das Gemeinwesen sicherstellen sollen. § 1 des Schulgesetzes für das Land Berlin dient hier stellvertretend als Beispiel dafür.


§ 1 Auftrag der Schule „Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten. Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewusst sein, und ihre Haltung muss bestimmt werden von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständigung der Völker. Dabei sollen die Antike, das Christentum und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen ihren Platz finden.“

Schulgesetz für das Land Berlin (2004)

Mit derartigen gesetzlichen Vorgaben erhält jede Schule im jeweils sozialgeschichtlich geprägten Kontext der politischen Kultur (Seashore Louis/van Velzen 2012) den staatlichen Bildungsauftrag, dessen Umsetzung und Konkretisierung über entsprechende Verordnungen (Lehrpläne, Erlasse etc.) erfolgt. Lehrpläne beinhalten zunächst die Konkretisierung des Erziehungsauftrags der Schule, ehe Hinweise für die Planung und Durchführung des Unterrichts in inhaltlicher und in methodischer Hinsicht erfolgen. Im Bildungsauftrag finden sich das Grundverständnis von Schule und die davon abgeleiteten pädagogischen Leitideen bzw. allgemeinen didaktischen Grundsätze, wodurch Verantwortlichkeiten und Freiräume bei der Umsetzung des Lehrplans vorgegeben werden.

Erziehungs- und Bildungsziele lassen sich nicht ohne weiteres trennen, weshalb sie im schulischen Unterricht gleichzeitig umgesetzt werden (müssen), allerdings unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken unterliegen. Biesta (2012, S. 13) unterscheidet diesbezüglich zwischen drei Bildungszielen, über deren Gewichtung Lehrerinnen und Lehrer im jeweiligen Unterrichtskontext situativ und perspektivisch zu entscheiden haben (siehe Abb. 1).11


Erziehungs-/Bildungsziele Funktion Domänen
Qualifizierung Menschen mit Wissen, Fähigkeiten und Haltungen befähigen Wissen, Fertigkeiten, Haltungen, Werte
Sozialisierung Einführung von „Neuen”1 in eine bestehende Ordnung Inklusion; demokratische Werte; Zusammenleben
Subjektwerdung Wahrnehmung menschlicher Freiheit Agency – Bewusstheit über die eigene Wirkmächtigkeit

Abb.1: Erziehungs- und Bildungsziele nach Biesta (2012, S. 13)

Wie am Beispiel Berlins aufgezeigt wurde, stehen im gesetzlichen Auftrag von Schule der einzelne Mensch (Subjektwerdung) und das gesellschaftliche Miteinander (Sozialisierung) im Vordergrund, um einerseits die Freiheit der Einzelnen sowie andererseits das demokratische Zusammenleben im Hinblick auf ihr künftiges Wohlergehen (Well-being) sicherzustellen. In den Lehrplänen hingegen sind – auch vom Umfang her – die jahrgangsmäßig ausdifferenzierten Ziele und Inhalte bestimmend, die über entsprechende Überprüfungsverfahren (Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Prüfungen, Tests u. a.m.) die Qualifizierung sicherstellen sollen.

Die politischen Debatten zur Qualität von Schule und Unterricht werden in den einzelnen Bildungssystemen sowohl global über sog. large scale assessments (z. B. PISA, TIMSS) als auch national (Vergleichsarbeiten, zentralisierte Reifeprüfungen) geführt. In der Umsetzung der Lehrplanvorgaben kommt es dadurch allerdings zu einer Diskrepanz zwischen Bildungszielen und schulischer Realität, was Krathwohl u. a. (1975, S. 15) mit folgender Hypothese erfasst haben: Obwohl Ziele des affektiven Bereichs bei der Legitimation von Bildungszielen eine hervorragende Stelle einnehmen, erfahren sie auf dem Weg der Konkretisierung über die Lehrpläne bis in den Unterricht eine merkwürdige Erosion. Diesen Erosionsprozess haben Posch/Thonhauser (1982) insbesondere auch für den deutschen Sprachraum aufgezeigt. In dieser Hinsicht argumentiert auch Helmke (2009), ein herausragender Vertreter der empirischen Bildungsforschung: „Unterricht wird ja nicht von Variablen veranstaltet, sondern von Personen, die jeweils ein individuelles Gesamtmuster unterschiedlicher Facetten repräsentieren. Diese personale Ganzheit gerät leicht aus dem Blickfeld.“ (S. 26)

Demgegenüber erhalten die übergeordneten Ziele des Erziehungs- und Bildungsauftrags von Schule, vor allem was die Subjektwerdung und Sozialisierung in der Umsetzung der Lehrpläne anbelangt, sowohl in der Forschung als auch in der Politik geringere Aufmerksamkeit und werden eher dem heimlichen Lehrplan (Zinnecker 1975) überlassen. Wenn Schule ein Ort sein soll, der die Bewusstheit jedes Menschen über seine eigene Wirkmacht und das Zusammenlegen aller in demokratischer Form erfahrbar macht, sind an der Schule wichtige Voraussetzungen erforderlich, damit Kinder und Jugendliche zur Welt und sich selbst in ein verstehendes Verhältnis treten können. Hierzu stellt sich die Frage, wie Schulen als Bildungseinrichtungen jene Erfahrungsräume schaffen können, die über pädagogische Interventionen „Berührungsflächen zwischen Ich und Gegenstand“ (Gebhard/Combe 2007, S. 89) gestalten, damit die Schüler*innen sich die im schulischen Auftrag formulierten Zielvorstellungen aneignen können.

Im Hinblick auf die Auswirkungen schulischer Erfahrungen interessiert in diesem Beitrag die Frage nach möglichen Gründen für die Erosion der pathischen Dimension von Bildungs- und Erziehungszielen in der Umsetzung von Lehrplänen, die Rumpf (1994, S. 8) „der entsinnlichenden Dynamik des Schullernens“ zuschreibt. Dazu setze ich mich zunächst mit den Tiefenstrukturen lehrseitiger Vermittlungsprozesse auseinander und zeige anhand beispielhafter Erfahrungen aus Schule und Unterricht, wie pädagogisches Verstehen in einer lernseitigen Orientierung zu einem ganzheitlichen Bildungsverständnis beitragen kann. Abschließend gehe ich anhand eines aktuellen Beispiels der Frage von Combe/Gebhard (2007) nach, ob „der Anspruch, Lernen mit Erfahrung zu verknüpfen und auf Erfahrung anzulegen, in der Schule überhaupt eingelöst werden kann“ (S. 7).

Žanrid ja sildid
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