Loe raamatut: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren», lehekülg 8

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2. Methodologische Annäherungen an
Phänomene des Verstehens
Anders wahrnehmen und anderes verstehen am Beispiel der Vignettenforschung ‚Nah am Werk‘
Evi Agostini, Agnes Bube

Wie können Lerngegenstände und -situationen neu und anders wahrgenommen werden, um (Bildungs-)Prozesse in der Schule und im Museum anders zu verstehen? Geht es dabei – dem übergeordneten Thema in diesem Band nach – gleichermaßen darum, Erfahrungen zu verstehen wie auch ein (Nicht-)Verstehen zu erfahren, gilt es, sich den Phänomenen unserer alltäglichen und meist unbefragten Lebenswelt in all ihrer Vielschichtigkeit zuzuwenden. Nur in der bewussten Ausrichtung auf unterschiedliche Erfahrungs- und Verstehensmöglichkeiten kann ein differenziertes Verständnis für sich selbst, die Welt und andere gewonnen werden. Es bedarf einer ausgeprägten Sensibilität und Offenheit – gerade auch für das Fremde und Unbekannte, um neue Sinnhorizonte zu generieren und Grenzen des Verstehens überhaupt wahrzunehmen. Im Anspruch der gleichzeitigen Ermöglichung entsprechender Erfahrungen wie der Ausbildung einer solchen aufmerksamen Haltung und Wahrnehmungsfähigkeit liegt der Ursprung der Vignettenforschung ‚Nah am Werk‘.

1. Kunstvermittlung ‚Nah am Werk‘ und Vignettenforschung

Im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojekts „Am Phänomen orientiert: Kunstvermittlung ‚Nah am Werk‘ und Vignettenforschung. Potenziale der Forschungen über ästhetische Bildung im wahrnehmenden Zugang“ widmen wir uns der Zusammenführung des wahrnehmungsorientierten Kunstvermittlungskonzepts ‚Nah am Werk‘ (Bube) mit der phänomenologisch fundierten Vignettenforschung (Agostini). Sowohl in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken wie in der exemplarischen Verdichtung des (bildenden) Erfahrungsgeschehens in den Vignetten wird – ganz dem phänomenologischen Vorgehen folgend – „das, was sich zeigt, darauf zurückgeführt, wie es sich zeigt.“ (Waldenfels 1992, S. 15) Wesentlicher Schnittpunkt von ‚Nah am Werk‘ und der Vignettenforschung liegt entsprechend in der dezidierten Ausrichtung auf die sinnliche Wahrnehmung. Dabei steht ein Wahrnehmungsgeschehen im Fokus, wie es Eva Schürmann mit Bezug auf die griechischen Wurzeln der Aisthesis (αἴσθησις) treffend aus der Perspektive künstlerischen Forschens beschreibt:

„Eine aisthetisch akzentuierte Ästhetik lässt sich als eine Sphäre der Sichtbarmachung nicht allein von Sichtbarem, sondern mehr noch von Wahrnehmungsweisen des Sichtbaren qualifizieren, mithin als eine Sphäre der Wahrnehmung von Wahrnehmungen, der Brechung von Wahrnehmungskonventionen und der Suche nach alternativen Wahrnehmungsmöglichkeiten.“ (Schürmann 2015, S. 63)

Dies ist auch die Prämisse unserer Forschung, deren Aufmerksamkeit darüber hinaus jedoch nicht nur auf das Sichtbare gerichtet ist, sondern auf alle fünf Sinnesmodalitäten der Weltzuwendung. So finden wir uns vor in einer Welt, die wir hören, riechen, berühren, sehen und schmecken, sodass wir Erfahrungen machen, aus denen wir verändert hervorgehen. Dabei stehen vor allem die pathischen Strukturen sinnlicher Wahrnehmung im Mittelpunkt und somit jene Phänomene, die uns unerwartet treffen und damit unseren Erwartungen ins Gesicht schlagen. (Vgl. Husserl 1966, zit. nach Meyer-Drawe 2013, S. 18)

Die Arbeit mit Vignetten als auch die phänomenologische Auseinandersetzung mit Kunstwerken erfordern ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen und eine Haltung der Achtsamkeit, wie sie diese gleichzeitig auch ausbilden. Im Rahmen der gemeinsamen Forschung wurden bisher zwei konkrete Erhebungsphasen der Vignettenforschung ‚Nah am Werk‘ mit je unterschiedlichem Fokus durchgeführt. Im November 2018 startete das Projekt im Sprengel Museum Hannover mit dem Einsatz von Vignetten als Forschungsinstrument, um besondere Erfahrungsmomente der Kunstvermittlung ‚Nah am Werk‘ in unterschiedlichen Situationen im Museum aufzugreifen. Hierbei lag die Aufmerksamkeit auf verschiedenen Weisen der persönlichen Annäherung und des Austauschs: auf körperlichen Begegnungen, Haltungen, kleinen Gesten, Blicken sowie einzelnen Szenen und Nebenschauplätzen in der vielfältigen Interaktion mit dem Kunstwerk und/oder der Gruppe. Im November 2019 wurde das Projekt im Albertina Museum in Wien fortgesetzt und insbesondere der Einsatz von Vignetten als Ausbildungsmedium beforscht. Dabei diente ‚Nah am Werk‘ als eigenspezifisches Setting für eine Differenzierung der Wahrnehmung und zur exemplarischen Einübung des Umgangs mit Vielfalt, Mehrperspektivität und Offenheit. Die Vergegenwärtigung und Reflexion eigener Erfahrungs- und Bildungsmomente mittels Vignetten aus der Auseinandersetzung mit Kunst vor Originalen im Museum bildete den Ausgangspunkt für die Befähigung zur Arbeit mit Vignetten in der Schule bzw. zur Entwicklung des Vermögens zur Wahrnehmung und Reflexion fruchtbarer Lernmomente von Schüler*innen.

2. Projektbeginn: Forschung im Sprengel Museum Hannover

Anliegen des Kunstvermittlungskonzeptes ‚Nah am Werk‘ (vgl. Bube 2017; 2018) ist es, Bildungsprozesse in Form eines responsiven Antwortgeschehens vor Werken und in Austausch mit anderen zu initiieren. Einzelwerke in ihren jeweiligen Form-Inhalt-Bezügen betrachtend, richtet sich der Fokus jeweils auf das spezifisch Wahrzunehmende.

Diesem Ansatz folgten auch die Studierenden im Seminar „Nah am Werk – Umgang mit Originalen in Bildungsprozessen“ im Wintersemester 2018/2019 im Sprengel Museum Hannover.12 Vor selbst gewählten Werken hielten sie in einer ersten Phase zunächst einzeln ihre eigenen Wahrnehmungen, Assoziationen, Fragen und Gedanken, ausgehend von und rückgebunden an die jeweilige Struktur und Erscheinung der Werke, in Stichpunkten und/oder Skizzen fest. Dem „Doppelereignis von Pathos und Response“ (Waldenfels 2013, S. 47) entsprechend war insbesondere die Frage leitend, wovon die Aufmerksamkeit jeweils angezogen wird bzw. worauf sie sich bei den einzelnen Wahrnehmenden je richtet. In einer zweiten Phase wurden die individuellen Beobachtungen und Erfahrungen dann in der Gruppe gemeinsam diskutiert. Dabei ging es nicht darum, einen vorgefassten Sinn zu ermitteln, sondern allererst verschiedene mögliche Bedeutungsdimensionen zu entwickeln. Informationen zu künstlerischen Konzepten sowie zu Bedingungen und Kontexten der Entstehung flossen erst später ein, um eigene Wahrnehmungen nicht vorschnell zu verschließen. Damit wird ein Verstehen thematisch, das sich erst aus einer Fülle einzelner, unterschiedlicher Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken stiftet: „Kunst kann als Form und Erzeugerin eines zusammengesetzten ‚dichten Wissens‘ verstanden werden. Damit engagiert sie uns mit verschiedenen unserer Kompetenzen gleichzeitig, sie ergreift uns als ganze Menschen.“ (Schenker 2015, S. 106)

Wie lässt sich die Fülle und Vielschichtigkeit dessen, was uns auch im Museum – nah am Werk – derart als ‚ganze Menschen‘ ergreift für die Forschung fassen? Wie können die unterschiedlichen und persönlichen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken vergegenwärtigt werden? Wie kann das, was irritiert, berührt, sich nicht direkt zeigt oder klar äußert dennoch zur Sprache gebracht werden? Um gerade diese sinnlich-leiblichen Phänomene der Wahrnehmung aufzuzeigen, dient die Vignette als prädestiniertes Forschungsinstrument. Durch ihr Vermögen, einzelne Momente und Erfahrungen verdichtet zu vergegenwärtigen, ohne sie bereits zu interpretieren, wird sie eigens der notwendigen Perspektivität, dem Einlassen auf Offenheit und der Abkehr von vorgefassten Bedeutungen in ästhetischen Bildungsprozessen gerecht. Dem Anspruch von ‚Nah am Werk‘ folgend, Kunstwerke in ihrer wirkenden Sinnlichkeit wahrzunehmen, folgt zudem die Konsequenz, auch die von ihnen initiierten Erfahrungs- und Bildungsmomente nur sinnlich und ‚nah‘ an den Teilnehmenden zu fassen. Vignetten eignen sich hierfür in besonderer Weise, da diese ganz konkrete Momente sinnlicher Beteiligung widerzuspiegeln vermögen. (Vgl. Meyer-Drawe 2012) Auch vor dem Hintergrund der nicht restlos zu fassenden Mehrdeutigkeit der Kunst appellieren Vignetten so an die sinnlichen Wahrnehmungen und Gefühle der Lesenden und übersetzen einzelne Handlungen und Stimmungen – entgegen des Anspruchs einer Erklärung der Situation – vielsagend und ästhetisch prägnant in Sprache. (Vgl. Meyer-Drawe 2016)13

2. 1. Vignette und Vignetten-Lektüre zum Aufforderungscharakter von Ding, Welt und Anderen

Am 16. November 2018 war Evi Agostini im Seminar „Nah am Werk – Umgang mit Originalen in Bildungsprozessen“ zu Gast, um besondere Erfahrungsmomente im Sprengel Museum mittels Vignetten zu erheben. Hieraus entstanden neun unterschiedliche Vignetten, von denen eine im Folgenden exemplarisch aufgegriffen und reflektiert wird:

Beispielvignette: What Could Make Me Feel That Way A von Richard Deacon

„Jetzt gehen wir aber endlich wirklich weiter“, meint Frau Hennah14 resolut. Zwei junge Frauen tauschen vielsagende Blicke aus. Frau Hennah bedankt sich bei der Gruppe für die Beiträge. Die Studierenden erheben sich und bewegen sich mit ihren Klappstühlen gemächlich zum Werk von Richard Deacon „What Could Make Me Feel That Way A“ aus dem Jahr 1993 weiter. Die Studierendengruppe baut sich vor dem Werk, eine riesige Holzkonstruktion, auf. Einige Studierende beginnen damit, sich schnell, dann wieder langsamer um das walzenartige Objekt herumzubewegen. Im Gehen bücken sie sich, um sich anschließend wieder kerzengerade aufzurichten. Andere gehen in die Hocke. Wieder andere bleiben etwas entfernt stehen und taxieren das Werk aus sicherem Abstand. Einige treten ganz nahe an die Konstruktion heran und blicken zwischen die Holzstäbe hindurch. Je nach Perspektive, nach Nähe oder Ferne ergibt sich ein ganz anderes Bild von den in die Höhe gewundenen und in sich gedrehten und verschraubten Holzleisten. Nach und nach stellen die Anwesenden ihre Klappstühle auf und setzen sich hin. Nur ein Studierender, Jonas, bleibt seitlich zum Kunstwerk gedreht stehen, wobei er etwa der Hälfte der Gruppe den Rücken zuwendet. Kerzengerade steht er da, seine Notizen in seiner linken Hand haltend. Bewegungslos sieht er zuerst das Werk, dann die Gruppe an, beginnt anschließend angeregt zu erzählen wie er das Werk rezipiert hat, wobei seine Augen immer wieder suchend über seine Notizen wandern. Mehrmals zeigt er mit dem Finger auf das Werk. Über sein Gesicht huscht ein Lächeln. Ein Studierender ist an die Wand gelehnt, ruft seine WhatsApp-Nachrichten ab und steckt dann das Handy wieder weg. Einige andere machen sich Notizen. Jonas beendet seine Ausführungen und Frau Hennah bedankt sich. Sie schlägt vor: „Wir haben ganz viele Eindrücke jetzt schon, vielleicht gehen wir noch einmal woanders hin jetzt.“ Die Studierenden erheben sich von ihren Klappstühlen und formieren sich nochmals anders im Verhältnis zum Kunstwerk. Frau Hennah fasst zusammen und möchte dann Eindrücke von der Gruppe hören. Johanna hält die Hand auf und es sprudelt aus ihr heraus: „Meine erste Assoziation war, dass es einen Aufforderungscharakter hat.“ Schmunzelnd führt sie aus: „Ich würd irgendwie am liebsten da draufklettern oder da reinklettern und das nochmals von innen angucken, was halt leider nicht geht.“

Die ersten Sätze der Vignette lassen offen, wo genau die herausgegriffene Szene beginnt. Als am Geschehen Beteiligte wissen wir, dass hier gerade der intensive und mittlerweile längere Austausch vor einer Installation von Wolfgang Laib beendet ist. Nachdem noch engagierte Beiträge erste Vorstöße zum nächsten Werk zu wechseln verzögert haben, fordert die Lehrveranstaltungsleiterin die Gruppe nun auf, weiterzugehen. Die vielsagenden Blicke, die sich die zwei Studentinnen zuwerfen, zeigen, dass dies offenbar für sie schon höchste Zeit ist. Dennoch bewegen sich die Studierenden gemächlich zum Werk von Richard Deacon. Hat sich die anfangs noch etwas angespannte Atmosphäre entspannt? Zunächst war es nicht leicht, den Einstieg in die Diskussion zu finden, doch dann hat die Gruppe Vertrauen gefasst, ihre Assoziationen, Fragen und Gedanken freier zu äußern. Nun sind einige möglicherweise auch etwas erschöpft – oder vielleicht bereits gelangweilt?

Am neuen Ort angelangt hat das großformatige Werk von Richard Deacon jedoch offenbar gleich einen hohen Aufforderungscharakter. Die eigenspezifische Holzkonstruktion aus gebogenen und ineinander verschlungenen Streben und Bändern weckt in ihrer kraftvollen Dynamik die Aufmerksamkeit der Studierenden. Sie bewegen sich um die Holzkonstruktion herum, versuchen im Wechsel von Nah- und Fernbetrachtung die Arbeit von verschiedenen Perspektiven zu erfassen – treten in körperlichen Austausch mit ihr. Sie antworten leiblich auf das, was ihnen als Phänomen widerfährt. Zeigt sich hier eine „eigentümliche Verwicklung in eine Welt, auf die wir antworten, indem wir ihre Artikulationen aufnehmen“? (Meyer-Drawe 2008, S. 16) Der Ausdruck der Bewegungen der Studierenden zeugt von ihren unterschiedlichen, je individuellen Annäherungsweisen. Die Gruppe scheint lebendig und präsent bei der Sache. Die Studierenden bewegen sich mal schnell, mal langsam um das Werk herum, gehen gerade und gebückt, begeben sich in die Hocke oder treten ganz nahe an die Konstruktion heran und blicken durch die Holzstäbe. Andere bleiben entfernter stehen und taxieren die Arbeit aus sicherem Abstand. Ist ihnen das nicht einfach einzuordnende Werk in seiner sperrigen Gestalt vielleicht nicht ganz geheuer? Hier klingt eine gewisse Auslieferung an, die nicht ohne Rest in Beherrschung umgewandelt werden kann. (Vgl. ebd., S. 195) Es dauert ein wenig, bis alle sich ihrem eigenen Prozess gemäß nach und nach wieder zusammenfinden und auf ihre Klappstühle setzen.

Jonas, der Studierende, der sich dieses Werk für die individuelle Auseinandersetzung ausgewählt hat, bleibt stehen. Konzentriert steht er offenbar voll Erwartung kerzengerade zwischen Werk und Gruppe. Es scheint ihm wichtig, dicht am Werk zu bleiben und dieses gut sehen zu können, jedenfalls wendet er der Gruppe teils auch den Rücken zu. Vielleicht ist er, zunächst bewegungslos, auch eher auf sich und seine Erfahrungen fokussiert als auf die anderen. Möglicherweise ist er auch vor Aufregung etwas angespannt. Er berichtet angeregt von seinem eigenen Rezeptionsprozess. Über sein Gesicht huscht ein Lächeln. Deutet dies darauf hin, dass ihm seine Erfahrungen am Werk in der Mitteilung seiner Wahrnehmungen wieder präsent sind? „Erfahrung ist dabei vor allem die zur Sprache gebrachte Erfahrung; denn Sprache setzt den Artikulationsversuch des Vorsprachlichen fort.“ (Meyer-Drawe 2010, S. 13) Vielleicht zeigt sich auch eine Freude an der Auseinandersetzung mit dem Werkbeispiel, die er in diesem Moment verspürt. Zugleich könnte in seinem Lächeln auch ein Verlegenheitslächeln mitschwingen als Ausdruck einer gewissen Unsicherheit, die sich auch im suchenden Blick auf das schriftlich Fixierte wiederfindet. Ebenso deuten seine Mimik (Blick auf die Notizen) und Gestik (Fingerzeig auf das Werk) darauf, dass er sich mit Genauigkeit und Ernst seinen Ausführungen widmet. Im Kontrast dazu steht der Studierende, der davon offenbar unbeteiligt seine WhatsApp-Nachrichten abruft. Nicht alle sind gleichermaßen affiziert vom Geschehen, es gibt Nebenschauplätze wie ebenso aufmerksam Zuhörende, die sich Notizen machen. Macht diese Freiheit im Einlassen oder Nicht-Einlassen eine wirkliche Auseinandersetzung überhaupt erst möglich? Vielleicht hat der entspannt an die Wand gelehnte Studierende mit dem Handy auch gerade Fotos vom Werk verschickt? Er steckt das Gerät unaufgefordert wieder weg – ob und wie er sich (noch) einlässt, bleibt ungewiss.

Um für die weitere Diskussion noch einmal eine andere Perspektive auf das Werk zu gewinnen, fordert die Dozentin die Gruppe auf, den Standort zu wechseln. Nach kurzer Überleitung eröffnet sie das Gespräch. Johanna scheint schon darauf gewartet zu haben, jedenfalls meldet sie sich sogleich und ihre persönliche Erfahrung mit dem Werk sprudelt aus ihr heraus. Sie knüpft an ihre erste Begegnung mit dem Werk an, benennt den Aufforderungscharakter, den es für sie hat. Hier scheint eine Erfahrung mit dem Werk auf, in der sie „von der Welt überrascht und beschlagnahmt wird.“ (Vgl. ebd., S. 8) Ihr schnelles Aufzeigen deutet darauf, dass die anderen an ihrer Erfahrung teilhaben sollen, an dem, was ihr widerfahren ist. Das Werk hat auf sie offenkundig nachhaltiger gewirkt als die vorherigen Ausführungen des Studierenden. Möglicherweise war es für sie schwer auszuhalten, während diesen still auf ihrem Klapphocker zu sitzen. Spürbar vergegenwärtigt sich hier der stete „Appell“ (vgl. Waldenfels 2010, S. 118) des Werkes. Schmunzelnd bekennt Johanna, dass sie am liebsten in oder auf die Skulptur klettern würde, was aber leider nicht geht. Die am Schluss der Vignette vergegenwärtigte Situation und eingefangene Stimmung vermittelt ein Aufblitzen kindlicher Unbefangenheit und zugleich Enttäuschung über das Verbot des Berührens im Museum. Überschuss und Grenzen von Johannas Erfahrung werden deutlich. Wie nah kommt ‚Nah am Werk‘? Wir sind mitten im Thema.

Diese Vignette vergegenwärtigt bereits unterschiedliche Erfahrungen im Museum, die innerhalb des Konzepts ‚Nah am Werk‘ immer wieder auftreten. Fasziniert-Sein und die Vereinnahmung von Kunstwerken, Abgelenkt-Sein, Momente der sinnlichen, leiblich-körperlichen Begegnung, Rollenwechsel von Lehrenden und Lernenden, Präsentationen von Wahrnehmungen aus der individuellen Beschäftigung und der Beginn einer Diskussion in der Gruppe. Nur sehr selten gibt es Momente, in denen alle gleichermaßen affiziert und involviert sind. Immer wieder gibt es für die einzelnen Teilnehmenden herausstechende Erfahrungsmomente wie ebenso anstrengende Phasen, weil sie das gerade besprochene Werk nicht oder zu sehr interessiert und/oder weil sie den Ausführungen der anderen gerade nicht folgen können bzw. wollen. Die in der Vignette präsent werdenden Perspektiven werfen auch Fragen zum didaktischen Setting auf. Hätte der hier eigens deutlich gewordene, besondere Aufforderungscharakter des Werkes vielleicht gleich einen Austausch in der Gruppe erfordert? Hätte dies den offenbar mit Spannung auf seine Ausführungen wartenden Jonas enttäuscht? Wie können verschiedene Ansprüche aufgegriffen und ggf. gemeinsam verhandelt werden? Inwieweit soll sich die Lehrperson einbringen oder besser zurückhalten? Dieserart Fragen beschäftigen konstant. Auch diesbezüglich trägt der Anspruch, mit Aufmerksamkeit dem zu folgen, was sich zeigt, den Prozess. Dies gelingt nicht immer gleich und scheitert an ganz unterschiedlichen Faktoren. Stetig ist von allen Beteiligten ein Einlassen auf Offenheit gefordert, ein Bewegen abseits der präparierten Wege. (Vgl. Rumpf 2008, S. 29) Das ist kein leichtes Unterfangen. „Lehrende und Lernende, die sich dem Anspruch der ‚Sachen selbst‘ aussetzen, werden mitunter gemeinsam an ihre Grenze kommen.“ (Waldenfels 2010, S. 132)

Wie kein anderes Forschungsinstrument vermag die Vignette in der sinnlichen Vergegenwärtigung einzelner Momente des vielschichtigen und komplexen Geschehens so auch grundsätzliche hochschuldidaktische und allgemeinpädagogische Fragen anzustoßen und zu reflektieren. Um über das hinausgehen zu können, was einem bereits bewusst ist, braucht es neue Perspektiven. Die Vignette ermöglicht, diese einzunehmen bzw. die der anderen miterfahren (Baur/Peterlini 2016, S. 12) zu können.


Abb.1: Auseinandersetzung im Seminar „Nah am Werk – Umgang mit Originalen in Bildungsprozessen“ am 16. 11. 2018 vor dem Werk What Could Make Me Feel This Way A, 1993 (gebogenes und verschraubtes Holz, 286 x 560 x 483 cm) von Richard Deacon im Sprengel Museum Hannover. © Courtesy Richard Deacon. Fotos: Sünje Kaiser.

2. 2. Durch Kunst anders wahrnehmen und anderes verstehen

Auf eigene Weise ist ebenso auch die Kunst dazu prädestiniert, unsere Wahrnehmungsgewohnheiten zu durchbrechen und neue Perspektiven zu eröffnen. (Vgl. Bube 2017) Ihre Gegenstände sind vielfältig und mehrdeutig und fordern zu differenzierter Wahrnehmung heraus, indem sie diese gleichzeitig erfordern. Die konkreten sinnlichen Eindrücke, die von Werken ausgehen, sind different und mannigfaltig. Wir treffen auf Kunstgegenstände in unterschiedlichen Größen, verschiedenen Materialitäten, Formen, Farben, Gerüchen und Tönen. Die Begegnungen sind mal flüchtig oder zart, mal intensiv und/oder dicht, vielleicht auch dunkel, grell oder laut. Selten ist alles sofort und nur ‚mit einem Blick‘ zu erfassen. Es braucht ein genaues Hinsehen, Hinhören, (Vor-)Tasten, Einfühlen bzw. Ein- und Nachdenken, um die Fülle und Tragweite von Werken zu erfassen. Die intensive Wahrnehmungsarbeit kann dann mit Reflexionsimpulsen, Aha-Erlebnissen oder verblüffenden Umschlagmomenten belohnt werden. Dabei sind jedoch nicht eindeutige Erkenntnisse zu erwarten, sondern mehrperspektivische Denkanstöße und vielfältig zusammenwirkende Erfahrungen zu gewinnen. Exemplarisch verdeutlicht werden kann dies noch einmal an der Auseinandersetzung und Diskussion15 mit dem Werk What Could Make Me Feel That Way A von Richard Deacon (Abb. 1) im Sprengel Museum Hannover.

Der Studierende, der sich dieses Werk für die wahrnehmungsorientierte Betrachtung gewählt hat, betont, dass er lange gebraucht hat, um eine Seite zu finden, von der aus sein Rezeptionsprozess starten konnte. Er beschreibt seine Positionswechsel und immer wieder Änderungen der Blickrichtung. Er formuliert, die Skulptur habe keinen Anfang und kein Ende, die Teile seien ineinander verworren und dennoch gebe es klare Strukturen und einen klaren Aufbau. Insgesamt sei das gleichermaßen erdrückend wie leicht wirkende Werk durch Kontraste gekennzeichnet: durch Bewegung und Stillstand, Chaos und Ordnung, Rückschritt und Fortschritt. Das Spektrum der Assoziationen reicht von einem wagenähnlichen Gefährt bis hin zu nicht linear verlaufenden Gedankenprozessen.16 In der Diskussion in der Gruppe werden noch weitere unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen geäußert. Im Unterschied zu der Teilnehmerin, für die das raumgreifende Werk vor allem Aufforderungscharakter hatte und spielerisch dazu animierte, darauf und darin zu klettern, vermittelt die Skulptur einem anderen Teilnehmer Aggressivität und Gewalt, nicht zuletzt durch das mit Schrauben in eine ungewöhnliche Form gezwungene Holz. Das Werk nicht klar fassen zu können, löst unter den Studierenden unangenehme Verunsicherung wie Befreiung aus. Deacons Werk sei nicht restlos zu bewältigen, habe keinen praktischen Nutzen. Welchen Nutzen hat es dann? Die gemeinsame Diskussion bringt vor allem Fragen hervor: Öffnet das Werk mit seiner konkret gegenwärtigen Einzigartigkeit einen bisher unbekannten Möglichkeitsraum? Führt es uns die Vielgestaltigkeit oder Relativität unseres Seins vor Augen? Wie ist das Werk geschaffen und reflektiert es darüber den Stellenwert handwerklichen Könnens sowie den traditionellen Kunstbegriff? Wie ist die kraftvolle organische Dynamik und scheinbare Fragilität des Gestalteten zwischen Experiment und technischer Konstruktion zu verorten? Ist das verschraubte Holz einfach nur schön anzuschauen? Warum und wodurch versetzt uns das Werk in nicht klar greifbare und je unterschiedliche Gefühlslagen?17 „What could make me feel that way?“ – fragt sich, so der Titel, auch der Künstler. Was das große ungewöhnliche Etwas bei uns genau auslöst und was es ist, was uns persönlich jeweils auf ‚diese Weise‘ fühlen lässt, bleibt letztlich ein Rätsel.

So entzieht sich das Werk von Richard Deacon – auch im Sinne Gottfried Gabriels – einer „klaren“, d. h. in der Tradition der rationalistischen Aufklärung, wiedererkennenden und begrifflichen Ein- und Zuordnung. (Vgl. Gabriel 2019, S. 19 f.) Erkenntnisleistung zeigt sich hier vielmehr im sinnlichen Gewahrwerden einer Bedeutungsfülle, „in der prägnanten Verworrenheit eine[s] gebündelten konnotativen Bedeutungsüberschuss[es] am Werk“. (Ebd., S. 21) Ein solcher Überschuss, auch als Unbestimmtheit zu fassen, ist nach Gabriel „nicht als logischer Mangel zu beklagen, sondern als ästhetischer Reichtum zu begrüßen“. (Ebd.). Mit seiner Differenzierung wie Anerkennung unterschiedlicher Erkenntnisformen, begründet er die Relevanz nicht-propositional bestimmter Erkenntnis durch Kunst und Literatur. (Vgl. Gabriel 2015) Folglich liegt die spezifische Erkenntnisleistung der Auseinandersetzung mit Kunst gerade auch im nicht restlos Verstehen-Können sowie im Gewinn eines Verständnisses für eben solche Phänomene und Prozesse unserer Lebenswelten, die sich eindeutigen Bestimmungen entziehen.

Entsprechend kommt der Auseinandersetzung mit Kunst ‚Nah am Werk‘ neben der Wahrnehmungssensibilisierung auch die Dimension der Aufmerksamkeitslenkung auf nicht-propositionale Formen des Erkennens zu. Auch darin liegt die Modellfunktion des Konzepts für die Arbeit mit Vignetten begründet, die sich explizit dem Reichtum und unterschiedlichen Facetten des Lernens widmen und in ihren Narrationen vergegenwärtigen, was sich propositional nicht einholen lässt. (Vgl. Meyer-Drawe in diesem Band, S. 25). Käte Meyer Drawe führt in ihrem Beitrag in diesem Band aus, dass wir „im Alltäglichen dazu [neigen], unsere Sicht der Dinge normativ zu verallgemeinern. Dadurch geraten wir in die Gefahr, blind zu werden für die Abweichungen“. (Meyer-Drawe in diesem Band, S. 20) Gerade in den Bereichen, in denen wir vermeinen, uns besonders gut auszukennen, gilt es wieder neue Perspektiven zu gewinnen. Hierzu ist eine Schärfung der Aufmerksamkeit unerlässlich, denn „je besser man seine Sache kennt, desto subtiler macht sie sich gegen einen bemerkbar“. (Rheinberger 2013, S. 146 f.) Indem die Kunst Gewohntes verfremdet, Ungewöhnliches verwirklicht oder Vertrautes anders als gewohnt vergegenwärtigt, ermöglicht sie neue Wahrnehmungs- und Denkräume. Dieses besondere Erfahrungspotenzial an Kunstwerken kann – so ein Ergebnis aus der ersten Zusammenführung unserer Forschungsansätze im Projekt – auch als Anstoß dienen, in pädagogischen Situationen die Aufmerksamkeit situationssensibel auf das zu richten, was sich zeigt: „die Choreografie der Blicke, die unreflektierten Berührungen, das Spiel der Hände, der Umgang mit den Dingen, Kontaktaufnahmen und -verweigerungen, Tonlagen, Stimmungen“. (Meyer-Drawe, ebd.)

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