Gestalt-Traumatherapie

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Gestalt-Traumatherapie
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IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) herausgegeben. Die beiden Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Herausgeberin und Herausgeber dieses Bandes

Heide Anger, Jg. 1953, Dr. med.; Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie; Psychotherapieausbildung (Gestalttherapie, systemische Therapie, körpertherapeutische Methoden, Autogenes Training, paartherapeutische Weiterbildung); Ausbildnerin und Lehrtherapeutin/Lehrsupervisorin im IGWien; nach dem Bosnienkrieg Mitarbeit in verschiedenen Projekten zur Unterstützung exjugoslawischer KollegInnen in Maribor und Zagreb; Unterricht an der staatlichen sowie an der katholischen Universität in La Paz/Bolivien 2007; Schwerpunkt des Weiterbildungsangebots: Arbeit mit traumatisierten Menschen und Persönlichkeitsstörungen; zwei Kinder.

Peter Schulthess, Jg. 1950, lic. phil. I; Psychotherapeut (ECP, EAGT, SPV, SVG); arbeitet seit 1976 in Zürich als Gestalttherapeut in freier Praxis; studierte an der Universität Zürich Pädagogik, Psychologie und Philosophie; gestalttherapeutische Ausbildung am Fritz Perls Institut und in Seminaren bei Lore Perls, Joseph Zinker, Erv und Miriam Polster; seit 1990 Ausbilder am Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und seit 2002 an der Gestaltfoundation in Athen und Thessaloniki; lehrt in der Schweiz, Deutschland, Griechenland, Polen, Serbien und Russland; Präsident der Schweizer Charta für Psychotherapie und Vizepräsident der EAGT (European Association for Gestalt Therapy).


© 2008 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach

www.ehp.biz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationabibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Uwe Giese

– unter Verwendung eines Bildes von Dorothea Cyran-Daboul: Untitled –

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

eBook-ISBN 978-3-89797-534-7

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

(Heide Anger, Peter Schulthess)

Traumatherapie aus gestalttherapeutischer Perspektive

(Wolfgang Wirth)

Frau A. – Vom Überleben zum Leben

(Anja Jossen)

›Quälende Erinnerungen‹.

Gedanken zum Thema Kriegstraumatisierungen

Mit einem Gespräch mit Willi Butollo

(Almut Ladisich-Raine)

Die Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen und Gestalttherapie

(Irena Bezić)

Wie die Armut schockiert und tiefe Wunden schlägt.

Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von struktureller Gewalt und PTBS aufgrund einer Fallstudie im bolivianischen Hochland

(Colette Jansen Estermann)

»Nicht betreten!«

Stabilisierende Therapie bei Traumafolgestörungen – gestalttherapeutisch definiert

(Rotraud Kerner)

»The Gestalt wants to be completed«.

Therapiebericht über eine Dissoziative Fugue

(Heide Anger)

Über den Umgang mit dem Entsetzen.

Aspekte gestalttherapeutischer Traumabehandlung bei Kindern und Jugendlichen

(Thomas Schön)

Kognition im Schlaf (luzides Träumen).

Eine Therapiemethode zur Bewältigung von Albträumen – auch bei Traumatisierung

(Brigitte Holzinger)

Hat das Trauma ein Geschlecht?

Genderperspektivische Bewältigungsstrategien nach traumatisierender Gewalterfahrung aus der Sicht gestalttherapeutischer Theorie

(Beatrix Wimmer)

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Noch ein Buch über Traumatherapie?

Die Präsentation theoretischen und praktischen Wissens von GestaltherapeutInnen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten, erscheint uns gerade zu einem Zeitpunkt besonders wichtig, da einerseits immer mehr manualisierte Herangehensweisen vorgelegt werden, die suggerieren, auch unerfahrene PsychotherapeutInnen könnten mit schwer Traumatisierten arbeiten, wenn sie nur das Manual einhielten, andererseits eine Überwindung des starren Anhaftens an Therapieschulen und Methoden in Aussicht ist, die sich zunehmend am dringenden Bedarf der Betroffenenen orientiert.

Die Statistiken sind fatal.

Etwa 30 Prozent der Kinder, die unter schweren Lebensereignissen oder suboptimaler Versorgung litten, erkranken im Laufe ihres Lebens an einer majoren Depression, nicht erst im Erwachsenenalter, sondern schon als Kinder oder als Jugendliche. Und das ist nur eine mögliche Traumafolgestörung.

Jede Form der Traumafolgestörung stellt einen Versuch dar, mit dem traumatisierenden Ereignis und den Schäden, die es angerichtet hat, zurechtzukommen. Jede einzelne stellt einen Versuch dar, eine unterbrochene Handlung zu Ende zu bringen, eine Gestalt zu schließen.

Man könnte sagen, Gestalttherapie ist aus diesem Grund genuin Traumatherapie. Wolfgang Wirth belegt dies in seiner Darstellung der Lebens- und Traumageschichte von Fritz Perls auf eindrucksvolle Weise.

Im Herbst 2007 fand in Wien eine Ausstellung zu Leben und Werk Wilhelm Reichs statt. Auch dies eine Traumageschichte, von Bedeutung durch das Erkennen der Wichtigkeit des Köpergedächtnisses für die Aufrechterhaltung der seelischen Belastung.

Viele GestalttherapeutInnen arbeiten in ihrer täglichen Praxis mit traumatisierten Menschen. Wenig ist bisher publiziert worden, wie sie dies tun und wie sie sich in ihrer Arbeit theoretisch und methodisch auf die Gestalttherapie beziehen.

Bekannt sind die Arbeiten von Butollo und seinen KollegInnen (z.B. Butollo et al. 1998 und 2003) zum Umgang mit traumatischen Folgen durch Krieg.

Imke Deistler und Angelika Vogler legten 2005 ein Buch zur therapeutischen Begleitung von schwer traumatisierten Menschen vor, welches zugleich eine Einführung in das Verständnis der dissoziativen Identitätsstörung abgibt. Sie reflektieren dieses Störungsbild aus der Sicht der Gestalttherapie und zeigen Therapiemöglichkeiten auf aus ihrer Arbeit mit Opfern sexueller Gewalt.

Eine weitere Möglichkeit der Traumatisierung wurde 2006 von Michaela Pröpper thematisiert: Die traumatisierenden Folgen einer Krebsdiagnose.

Neben diesen größeren Publikationen ist eine Reihe kleinerer Beiträge erschienen, auf welche in diesem Band Bezug genommen wird. Weiter wird die Notwendigkeit deutlich gemacht, sich verschiedene Sichtweisen und Techniken anderer Methoden zunutze zu machen, um die PatientInnen optimal zu behandeln. Mit diesem Buch wollten wir GestaltherapeutInnen Gelegenheit geben, aus ihrer Praxis zu berichten. Wir wollen damit die theoretische Diskussion wie auch den Austausch über Praxiserfahrungen in der Arbeit mit traumatisierten Menschen anregen und beleben. Die meisten AutorInnen schauen in Theorie und Praxis auch über den »Tellerrand«. Sie beziehen sich nicht nur auf die Gestalttherapie sondern auch auf den aktuellen Forschungsstand der Traumatherapie. Stabilisierende Vorgehensweisen und Techniken sind grundlegend für jede psychotherapeutische Methode, und die Sammlung imaginativer Techniken, die Luise Reddemann vorgelegt hat, ist ein wertvolles Schatzkästchen für all jene, die beim gestalttherapeutischen Experimentieren Unterstützung suchen.

 

Alle AutorInnen dieses Bandes arbeiten in unterschiedlicher und beeindruckender Weise eine Verankerung mit der Theorie und den Konzepten der Gestalttherapie heraus und zeigen, wie gut diese sich eignet, um mit traumatisierten Menschen zu arbeiten. Sie fördern damit die gestalttherapeutische Theoriebildung.

Wir wollen in diesem Band einerseits den aktuellen Wissensstand widerspiegeln, andererseits Einblick in die individuellen gestalttherapeutischen Vorgangsweisen der AutorInnen geben und schließlich ermutigen, auf der Basis gestalttherapeutischen Grundverständnisses von Annahme, Kontakt und Stütze Anregungen für die Behandlung der wachsenden Personengruppe mit diagnostizierten Traumafolgestörungen zu bieten.

Den Auftakt macht Wolfgang Wirth mit einer überblicksartigen Aufarbeitung der theoretischen Anknüpfungspunkte zu einer gestalttherapeutischen Konzeption der Traumatherapie. Spannend sind u.a. seine biografischen Ausführungen zu Fritz Perls, welche ihn als durch Kriegserlebnisse und familiäre Gewalt Traumatisierten darstellen, was wesentlichen Einfluss auf die Konzeption der Gestalttherapie hatte. Sie enthält, wie anhand einer genauen Durchsicht von Gestalttherapie (Perls et al 2006) gezeigt wird, schon in ihrer originären Konzeption wesentliche Elemente und Stützen zu einer Traumatherapie. Wirth arbeitet mit Hörgeschädigten und rundet seinen Beitrag mit einer Fallvignette über eine gehörlose Frau ab, die miterlebte, wie ihre Freundin von einer Lawine erfasst und getötet wurde. Bemerkenswert ist, dass die Therapie in der Gebärdensprache erfolgt.

Anja Jossen präsentiert in ihrem Beitrag ein eindrückliches Fallbeispiel einer Überlebenden eines Gemetzels aus dem Kosovokrieg. Es gelang der Frau, in die Schweiz zu flüchten und dort um Asyl anzusuchen, welches ihr im Behandlungszeitraum auch gewährt wurde, was mit zu einer Stabilisierung beitrug. Jossen gelingt es, hautnah zu schildern, was passiert war, wie der Therapieprozess verlief und den Beitrag durch gestalttheoretische Reflexion zu bereichern. Der Artikel wird abgerundet durch die Schilderung eines Treffens fünf Jahre nach Abschluss der Therapie. Erwähnenswert ist, dass in dieser Therapie einer aus einer anderen Kultur stammenden Patientin aus sprachlichen Gründen immer eine Drittperson als Übersetzerin mitwirkte. Das gehört nicht selten zu den Therapiebedingungen in der Arbeit mit Fremdsprachigen, mit Asylsuchenden, und diese sind häufig traumatisiert.

Im anschließenden Beitrag interviewt Almut Ladisich-Raine den bekannten Psychologieprofessor Willi Butollo aus München. Butollo wirkte im Auftrag der UNICEF während des Bosnienkrieges an einem Projekt mit, welches bosnische PsychotherapeutInnen zur Arbeit mit traumatisierten Kriegsopfern befähigen sollte. Er führt aus, wie er als kriegsunversehrter Deutscher, ohne wirkliche Erfahrung in der Therapie Kriegstraumatisierter, keine billigen Therapierezepte anzubieten hatte, sondern in dialogischer Weise gemeinsam mit den Beteiligten erarbeitete, welche Unterstützung sie brauchten. Was er zu bieten hatte, waren generelle Kenntnisse aus der Traumatherapie, was die einheimischen TherapeutInnen zu bieten hatten, war deren eigene Erfahrung als vom Krieg Geprägte. Gemeinsam konnten Wege zur therapeutischen Bewältigung gefunden werden. Die Würdigung der Bosnier als Experten auf gleicher Ebene ermöglichte eine Begegnungsqualität, welche für sich heilend war und einer gestalttherapeutischen Haltung entspricht. Deutlich wird im Interview, dass es bei den bosnischen TherapeutInnen keine Unterscheidung gab zwischen unbetroffenem Helfer und betroffenem Patienten. Alle waren sie traumatisiert und geprägt von ihrer je eigenen Kriegserfahrung und familiären Verlusten. Das ergab eine besondere Grundlage für die therapeutische Arbeit, für Abgrenzungen zwischen dem Erleben von TherapeutIn und PatientIn und die Psychohygiene der TherapeutInnen.

Ladisich-Raine war nach dem Krieg als Ausbildnerin in Kroatien tätig und hat dort auch erlebt, wie die auszubildenden TherapeutInnen immer zugleich auch Betroffene des Kriegs waren.

Irena Besic ist Gestalttherapeutin und Psychiaterin aus Kroatien. Sie war am Projekt Butollos in Bosnien beteiligt wie auch am gestalttherapeutischen Ausbildungsgang, in welchem Ladisich-Raine mitwirkte. Sie erlebte die Kriegszeit und die Nachkriegszeit in einer Doppelrolle als professionelle Helferin und Betroffene. Sie leistete in manchen der neuen Staaten professionelle Hilfe im Umgang mit schweren Traumafolgen. Ihr kurzer Erfahrungsbericht lässt erahnen, wie nachhaltig diese Folgen sind und wie prägend auch für die TherapeutInnen.

Colette Jansen Estermann berichtet über die Therapie eines durch sexuelle Gewalt traumatisierten Mannes im bolivianischen Hochland. Sie reflektiert dabei auch eine aus feldtheoretischer Sicht wichtige Dimension, die der strukturellen Gewalt.

Sie zeigt auf, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse, insbesondere in Ländern mit großer Armut, durch strukturelle Gewalt – im Sinne Johan Galtungs – Traumatisierungen im familiären, kirchlichen und behördlichen Rahmen begünstigen. Aber auch wie die Permanenz struktureller Gewalt (z.B. keine Aussicht auf Arbeit und Teilhabe an gesellschaftlichen Werten, Bedrohung durch militärische und paramilitärische Truppen) dauerhafte psychische Veränderungen bewirkt, die die Menschen überhaupt erst in die Lage versetzen, ihre Situation zu ertragen.

Eine weitere sehr anschauliche und theoretisch gut reflektierte Fallgeschichte präsentiert Rotraud Kerner. Es handelt sich um die Schilderung der stabilisierenden Therapie einer traumatisierten Frau, welche wiederholt sexuelle Gewalt im Familienkontext erlebt hatte und eine Dissoziative Identitätsstörung entwickelte. Kerner verbindet Stabilisierungstechniken, die sie bei Reddemann, Sachsse und Huber fand, und das Ego-state-Konzept (Systemische Therapie mit der inneren Familie, vergleichbar dem Konzept der Selbst-Anteile in der Gestalttherapie) mit der Haltung, den Prinzipien und Techniken der Gestalttherapie. Sie zeigt, wie ein nachhaltiger Therapieerfolg im Hinblick auf ein befriedigendes Alltagsleben auch durch die konsequente Verwendung von Stabilisierungstechniken allein erreicht werden kann, ohne dass Traumaexposition sich je als erforderlich zeigt.

Da viele Traumatisierungen bereits im Kindesalter erfolgen, schien uns ein Beitrag über die Traumabehandlung bei Kindern und Jugendlichen unentbehrlich. Thomas Schön arbeitet seit vielen Jahren in freier Praxis und in einer therapeutischen Wohngemeinschaft mit Kindern und Jugendlichen. Er zeigt die Wichtigkeit einer frühen Traumabehandlung im Kindesalter auf, gibt Fallvignetten und reflektiert diese auf gestalttherapeutischem Theoriehintergrund. Wichtig auch sein Exkurs zu Psychohygiene von Helfenden.

Mit der Präsentation des »Luziden Träumens« als Therapieansatz für den Umgang mit Albträumen offeriert Brigitte Holzinger einen Ansatz, wie auch Albträume im Zusammenhang mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung von der träumenden Person beeinflusst werden können, so dass eine symptommildernde, stabilisierende Wirkung erreicht wird.

Der Band wird abgerundet mit einem Beitrag von Beatrix Wimmer zu genderspezifischen Bewältigungsstrategien von traumatisierenden Gewalterfahrungen aus der Sicht gestalttherapeutischer Theorie.

Da es sich um einen Sammelband mit vielen AutorInnen handelt, zeigen sich deren Arbeitsumwelten natürlich auch in ihren Texten. Ebenso ergibt sich daraus eine uneinheitliche Verwendung der weiblichen und männlichen Sprach-Schreibform.

Dieses Buch sei allen Patientinnen und Patienten gewidmet, denen wir eine Fülle an Erfahrungen und eine wesentliche Verbesserung unserer Kenntnisse verdanken und all den Helfenden, die mit traumatisierten Menschen arbeiten.

Heide Anger und Peter Schulthess

Wien und Zürich, Januar 2008

Literatur

Butollo, W., Krüsmann, M., Hagl, M. (1998): Leben nach dem Trauma. Über den therapeutischen Umgang mit dem Entsetzen. München: Pfeiffer

Butollo, W., Hagl, M., Krüsmann, M. (2002): Kreativität und Destruktion posttraumatischer Bewältigung. Forschungsergebnisse und Thesen zum Leben nach dem Trauma. München: Pfeiffer

Deistler, I., Vogler, A. (2005): Einführung in die Dissoziative Identitätsstörung. Multiple Persönlichkeit. Therapeutische Begleitung von schwer traumatisierten Menschen. Paderborn: Junfermann

Huber, M. (2003): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung Teil 1. Paderborn: Junfermann

Huber, M. (2003): Wege der Traumabehandlung. Trauma und Traumabehandlung Teil 2. Paderborn: Junfermann

Perls, F., Hefferline, R., Goodman, P. (2006): Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. (Neu übersetzte deutsche Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta

Pröpper, M. (2006): Gestalttherapie mit Krebspatienten. Eine Praxishilfe zur Traumabewältigung. Köln/Wuppertal: Hammer

Reddemann, L. (2003): Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Pfeiffer

Wolfgang Wirth

Traumatherapie aus gestalttherapeutischer Perspektive

»Was die Wunde schlug, wird sie heilen«

Orakel von Delphi

In diesem Beitrag wird vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte von Fritz Perls die Entwicklung der Gestalttherapie als traumaorientiertes Verfahren reflektiert. Eine kurze Skizze wichtiger traumadiagnostischer Kategorien und der Neurobiologie traumatischer Prozesse bilden die Grundlage für die Überprüfung gestalttherapeutischer Traumakonzepte. Diese werden aus dem Grundlagenwerk Gestalttherapie herausgearbeitet. Einige Modellskizzen veranschaulichen mein aktuelles und weitgehend gestalttherapeutisches Verständnis traumatischer Prozesse. Die Sichtung eines Großteils der Arbeiten zu verschiedenen gestalttherapeutischen Traumaschwerpunkten bildet neben eigenen Fallvignetten den praxisorientierten Abschluss.

Geschichte der Traumatherapie und Traumatheorien

Die Beschäftigung mit den lang anhaltenden und auch seelischen Folgen von Gewalt und Verletzungen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Den delphischen Orakelspruch für die unheilbare Wunde des durch Achilles Speer verwundeten Telephos interpretierte dieser damit, neun Jahre nach der Verletzung Rost von Achilles Speerspitze abzukratzen und auf die Wunde zu streuen. Erst dadurch wurde sie geheilt. In dieser kurzen Geschichte offenbart sich ein sechsgliedriges Wissen um Heilprozesse:

1. Sicherheit, der Speer wird nicht mehr gebraucht, (denn sonst würde er nicht rosten),

2. eine Konfrontation zwischen Täter/Tatwaffe und Opfer findet statt,

3. die nicht mehr gebrauchte Waffe muss als eine Art Täter/Opfer-Ausgleich dem Opfer zur Verfügung gestellt werden, damit es diesen Rost erhalten kann,

4. Das ursprünglich Verletzende führt in abgeschwächter, »assimilierbarer« Form zur Heilung,

5. die verstreichende Zeit wird eingerechnet, die es dauert, bis die Speerklinge rostet und

6. die Einschätzung der Tat ist durch einen Transformationsprozess verändert. Die Realität dieses Transformationsprozesses wird erlebt und stößt die Heilung an.

In unserer Kultursphäre und Zeit wurde das Traumathema bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich anhand gerichtsmedizinischer Befunde über massive Kindesmisshandlungen durch Charcot aufgegriffen und von Janet (1889, zit. nach van der Kolk 2000, 223) sehr genau zu den Themenfeldern Dissoziation, Gedächtnisstörung und Organisation der seelischen Prozesse ausgearbeitet (Streeck-Fischer, Sachsse & Özkan 2001, 12). In England wurde die Thematik durch Ängste bei der Einführung der Eisenbahn als railway spin bewusst. Im 1. Weltkrieg wurde das Phänomen der Traumatisierung als »Kriegszittern« beobachtet und in England rasch mit dem Begriff shell shock (Granatenschock) belegt (Radkau 1998, 430). In den Anfängen hatte vor allem das Militär (Butollo 2003, 4) Interesse an der Behandlung und Entschärfung posttraumatischer Ausfälle von Soldaten, im russisch-japanischen Krieg 1904/5 wurden hierfür erstmals Militärpsychiater eingesetzt (Watson 1982, 206f). Durch die Sensibilisierung gegenüber den Symptomen wurden aber auch bei anderen Opfern von schlimmen Ereignissen wie Verkehrsunfällen, Schiffsunglücken oder Naturkatastrophen ähnliche Symptome festgestellt.

Das Interesse von Psychotherapeuten für die Behandlung der Folgen traumatischer Erlebnisse hat in den letzten 25 Jahren in hohem Maße zugenommen, sodass ein regelrechter Boom der Traumaforschung beobachtet werden konnte. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wurde erst 1980 in das DSM III aufgenommen (van der Kolk et al. 2000, 86).

 

Einflussreiche Gründe dafür waren die lang andauernden psychischen Folgen bei Betroffenen. Zu diesen zählten unter anderem die Opfer des Holocausts, Vietnamveteranen sowie sexuell missbrauchte Frauen und Mädchen. Für diese letzte Gruppe schärfte sich das Bewusstsein im Gefolge der Diskussionen der Frauenrechtsbewegung um sexuelle Selbstbestimmung und sexuellen Missbrauch. In Europa wurden die psychischen Folgen der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien von verschiedenen Forschern genauer untersucht (z.B. Butollo, Krüsmann & Hagl 1998, Butollo, Hagl & Krüsmann 2003). Der 11. September 2001 mit der Zerstörung der Zwillingstürme in New York führte auch bei Gestalttherapeuten zu einer Fokussierung auf das Traumathema, was sich in einem Themenheft (2004) der elektronischen Zeitschrift Gestalt! zeigte. Die Diskussion um die Diagnose PTBS ist gegenwärtig weiter im Fluss und wird weitere Differenzierungen erfahren. (Butollo, Hagl, Krüsmann 2003, 189)

Eigene Traumatisierungen als lebensgeschichtlicher Hintergrund bei Fritz Perls

Perls charakterisiert seine Kindheit und sein junges Erwachsenenalter selbst als traumatisch. Dabei können mindestens fünf traumatische Einflüsse unterschieden werden.

1. Gewalt, Ablehnung, heftigste Prügeleien und der Versuch den Willen des Kindes Fritz auszulöschen,

2. sozialer Ausschluss und Repression an der Schule als Jude,

3. Kriegstraumatisierungen im 1. Weltkrieg mit Verlust seines besten Freundes, mit möglicher Retraumatisierung durch seine Psychoanalyse bei Harnack

4. Trauma der erzwungenen Emigration

5. Ermordung des Großteils seiner gesamten Familie, Verwandtschaft, vieler Freunde, Lehrer und Kollegen.

1) »Meine Mutter schlug mich mit Teppichklopfern. Sie konnte mich nicht brechen, ich zerbrach die Teppichklopfer.« (Perls 1981, 313). Bocian (2002, 39) vermutet, dass die folgende Passage aus Perls 1981 (290) zumindest mit eigenem Erleben vermischt ist: »Nie vergaß er, dass sein Vater ihn des öfteren »ein Stück Scheiße« nannte. Die Reaktionen der Eltern (…) erlebte er als existentiell vernichtend. »Ich will dich auslöschen, du sollst nicht leben. An deiner Stelle soll ›nichts‹ sein. (…) Wir erziehen dich. Bis du so wirst wie Wir, Wir, Wir, Wir dich haben wollen.« Bocian führt über Perls weiter aus: »Eine traumatische Neurose definiert er an einer Stelle als Verteidigungsstrategie, um sich gegen die »Überfälle der Gesellschaft« (Perls 1979, 49, zit. nach Bocian 2002) zu schützen. »Das zweijährige Kind z.B., das von seinen Eltern in einer dunklen Kammer eingeschlossen wurde, ist fast einer unerträglichen Anspannung unterworfen. Es wird durch ihr Verhalten auf ein Nichts reduziert – ja auf weniger als ein Nichts; es wird zu einem Objekt ihrer Manipulation ohne eigenes Recht und eigene Macht. Es gibt kein ›Ich‹ mehr, es gibt nur ›sie‹ und was ›sie‹ tun können« (ebd.). Bei der Durchsicht der Kurzvariante seiner Autobiographie (Perls 1993) fällt die schwierige Kindheitssituation und die fehlende soziale Unterstützung auf. Das Kind kann nicht verstehen, was geschieht. Verstehbarkeit ist aber nach Antonovsky (1997) eine wichtige Ressource, um ein Ereignis als weniger beschädigend und traumatisierend zu erfahren, ihr Fehlen erhöht die Gefahr traumatischer Verarbeitung.

2) »Diese Schule war ein Albtraum für mich« (Perls 1981, 193). »Selten haben so wenige Lehrer so viele Schüler gequält. Das Grundprinzip war Disziplin und Antisemitismus« (ebd., 280).

3) Perls berichtet über Erlebnisse aus dem 1. Weltkrieg im Jahr 1916: Perls hat eine Grippe mit hohem Fieber entwickelt, wird in einem Feldlazarett untergebracht. Er träumt: »meine Familie, im Vordergrund Grete, die Schwester, die ich liebe, steht um mein Grab herum und bittet mich ins Leben zurückzukehren. Ich bemühe mich, strenge mich an, biete alle meine Kräfte auf und schaffe es. Langsam, ganz langsam kehre ich zurück ins Leben, bereit, wenn auch nicht allzu bereit den Tod loszulassen, den Tod, der so viel erträglicher war als die Schrecken des Krieges.« Perls verbrachte neun Monate in den Schützengräben des Stellungskrieges in Flandern, wo der Gaskrieg erstmals erprobt und auf das heftigste geführt wurde. »Ich hatte bereits einen gewissen Grad an Härte und Gefühllosigkeit erreicht, aber es gab zwei Formen des Todes, die ich kaum ertragen konnte. Das eine waren die Kommandos nach den Angriffen. Nachdem die Gas-Wolke über die feindlichen Linien gezogen war, kletterten sie aus ihren Gräben. Sie waren mit einem langen biegsamen Hammer ausgerüstet, mit dem sie jeden der noch ein Lebenszeichen von sich gab, erschlugen. (…) Das andere passierte nur einmal. (…) In dieser Nacht machten wir einen weiteren Gas-Angriff. Öffnet die Ventile. Die gelbe Wolke kriecht in Richtung auf die (feindlichen) Gräben. Dann ein plötzlicher Wirbel. Der Wind ändert seine Richtung. Die Gräben verlaufen in Zick-Zack-Linien. Das Gas kann in unsere eigenen Gräben ziehen… und bei vielen funktionieren die Gasmasken nicht. Und viele, viele erleiden leichte und schwere Vergiftungen und ich bin der einzige Arzt und habe nur vier kleine Sauerstoff-Flaschen und jeder verlangt verzweifelt nach etwas Sauerstoff, klammert sich an mich und ich muss ihm die Flasche entreißen, um einem anderen Soldaten etwas Linderung zu verschaffen. Mehr als einmal war ich versucht, die Gasmaske von meinem schweißgebadeten Gesicht zu reißen.« (Perls 1981, 164f) Nachdem er diese Kriegsberichte aufgeschrieben hat, beschreibt sich Perls am nächsten Tag wieder so: »Heute morgen fühlte ich mich dem Wahnsinn nahe. Worte krochen wie Termiten über meinen ganzen Körper.« (ebd., 169)

Bocian (2002, 88f) geht mit Faiss (zit. in Bocian 2002) von einem starken Kriegstrauma bei Perls aus, das ihn für den Rest seines Lebens verbitterte (Zeff, zit. nach Bocian 2002) und zum Zyniker werden ließ (Perls 2003, 49f).

Perls (1993) selbst spricht von desensitization, einer Desensibilisierung, was in der Traumaliteratur als Abstumpfung oder numbing bezeichnet wird. Diese innere Panzerung aufzulösen und die Lebendigkeit und Lebensfreude wiederzugewinnen ist ein vermutlich daraus erwachsenes dringendes Anliegen. Bocian (2002, 90) sieht diese biographisch bestimmten Themen als zentral für die Entwicklung der Gestalttherapie. Bocian (2002, 112) nennt die in dieser Zeit und der nachfolgenden Weimarer Republik erfahrene »tief greifende Erfahrung der Verunsicherung, ja Dissoziation des Ich« (Vietta, zit. nach Bocian 2002) den Gegenpol zur Sehnsucht nach einer persönlich erlebten guten Gestalt von Perls. Die als Heilungshoffnung aufgesuchte zweite Lehranalyse bei dem extrem abstinenten Analytiker Harnak empfand er als Qual (Bocian 2002, 178). Der Analytiker Venzlaff (2001, 148) schreibt über die Abstinenzhaltung des Analytikers gegenüber Traumatisierten, besonders bei KZ-Überlebenden: »Die von der Psychoanalyse vorgeschriebene Abstinenzhaltung des Analytikers ließ den Patienten diesen in der Übertragungssituation als neuerlichen Aggressor erleben, wirkte oft in hohem Maße angstauslösend und somit antitherapeutisch.«

4) In seinem Interview mit Jim Simkin 1966 schildert Fritz Perls (1992, 23): »In Deutschland, nun dort haben wir einigermaßen komfortabel gelebt. Ich hatte mein Einkommen und Lore bekam etwas Geld von zu Hause. Dann gingen wir nach Holland, wo wir dann in größter Armut lebten. Als ich nach Holland floh, hatte ich eine Summe von umgerechnet 25 Dollar in meinem Feuerzeug versteckt. Und nun durften wir überhaupt kein Geld verdienen. Wir lebten von der Wohlfahrt, im tiefsten Winter auf einem Dachboden. Und Lore musste putzen gehen, das hatte sie vorher noch nie gemacht, und kalt war es, wir froren uns halb tot.«

Lore berichtet, dass sie sehr gefährdet waren »als Mitglieder der antifaschistischen Liga. Sie kamen immer nachts zwischen zwei und vier. Die letzten Nächte schliefen wir jede Nacht woanders.« (DVG-Film 2005)

5) Beim Schreiben seiner Autobiographie und beim Nachdenken darüber, ob er eine jüdische Identität habe, und wie diese sei, berichtet Perls Folgendes: »Ich erwache heute morgen benommen und schwer. Saß auf meinem Bett, dumpf und in einer Trance wie ich sie bei Insassen von psychiatrischen Kliniken gesehen habe, die sich in ihre Grübeleien zurückgezogen hatten. Geister, die Opfer Hitlers, meist Verwandte von mir und Lore besuchen mich, zeigen mit dem Finger auf mich: »Du hättest mich retten können«. Sie wollen, dass ich mich schuldig und für sie verantwortlich fühle.« (Perls 1981, 135f)

Perls kann daher als kindheitstraumatisiert sowie als kriegstraumatisiert angesehen werden. Auf seine Traumatisierung deutet auch seine doch erst sehr späte »Heilung« durch Ida Rolf hin, da aus der Therapie von Traumapatienten inzwischen bekannt ist, dass vor allem der Einbezug und die Fokussierung auf körperlich-emotionales Erleben eine Traumaauflösung möglich macht. Perls schreibt dazu: »… ich hatte Kontakt zu einer Schicht von zersplitterten und zerstreuten Bruchstücken von winzigen Introjektionen und fremdem Material. Viele bestanden aus körperlichen Empfindungen und Bildern jedoch ohne Zusammenhang. (…) Ich habe nicht die geringste Ahnung wie, aber offensichtlich bewirkte dieser Kontakt eine Veränderung. Meine zwanghafte Lüsternheit ließ wirklich nach. (…) Vor etwa drei Monaten gab ich mein zwanghaftes Masturbieren auf und es ist praktisch nichts mehr davon da. (…) ich weiß, dass eines Tages etwas ähnliches mit meinem Rauchen passieren wird« (Perls 1981, 267). Seine Sex- und Nikotinsucht können als weitere traumainduzierte Spannungszustände angesehen werden. Levine schreibt: »Zwanghaftes, perverses, promiskuitives und gehemmtes Verhalten in der Sexualität sind oft Anzeichen für das Bestehen eines Traumas und müssen nicht unbedingt durch sexuellen Missbrauch hervorgerufen worden sein (Levine 1998, 41).