Handbuch des Verwaltungsrechts

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IV. Kategorische Trennung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz durch Art. 19 Abs. 4 und Art. 34 S. 3 GG

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Getrennte Regelung eines einheitlichen Problems

Bis heute wird das Verwaltungsrecht auch durch die verfassungsrechtlich nahegelegte Trennung von Primär- und Sekundärrechtsschutz geprägt. Sie ergibt sich zunächst daraus, dass Art. 19 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 34 S. 3 GG (und Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG) Rechtsschutz gegen rechtswidriges Verwaltungshandeln auf zwei Rechtswege aufspaltet. Zudem ergibt sich aus Art. 34 S. 1 GG i. V. m. § 839 Abs. 3 BGB auch eine Rechtsschutzstufung, nach der zuerst um Primärrechtsschutz nachzusuchen ist, bevor (vor einem anderen Gerichtszweig) Sekundärrechtsschutz erlangt werden kann. Sachliche Gründe für diese Trennung gibt es nicht. Sie rührt vor allem aus dem Umstand, dass die Mehrheit im Parlamentarischen Rat nichts Rechtes mit dem Staatshaftungsrecht anzufangen wusste und die Frage der Staatshaftung vor allem als beamtenrechtliche Materie und nicht als materielle Abrundung des Grundrechtsschutzes verstand.[130] Damit wurde verkannt, dass Art. 131 Abs. 1 WRV nicht nur als unmittelbar anwendbares Grundrecht verstanden, sondern insbesondere auch Art. 131 Abs. 1 S. 3 WRV – der wortgleiche Vorläufer von Art. 34 S. 3 GG – als Rechtsschutzgarantie im Staatshaftungsrecht verstanden wurde. Diese Rechtsschutzgarantie richtete sich insbesondere gegen den in einigen Landesrechten zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der WRV gegebenen Ausschluss des gerichtlichen Rechtsschutzes in Staatshaftungssachen.[131] Vor diesem Hintergrund bildet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur einen „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“[132], sondern denkt die staathaftungsrechtliche Rechtsschutzgarantie des Art. 34 S. 3 GG konsequent weiter, die gerichtlichen Rechtsschutz nur in Zusammenhang mit der Staatshaftung als „ultima ratio des Rechtsstaats“[133] gewährt. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und die des Art. 34 S. 3 GG sind damit nur historisch voneinander getrennt und (nur deshalb) unterschiedlich hinsichtlich des garantierten Rechtswegs ausgestaltet. Die Trennung rechtfertigt damit keine kategorische Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz und damit auch keine „Sonderstellung“ des Staatshaftungsrechts im Verwaltungsrecht und beim Verwaltungsrechtsschutz.[134]

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Auswirkungen

Dennoch führte die grundgesetzlich nahegelegte Trennung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz dazu, dass das Staatshaftungsrecht bis heute nicht als integrierter Bestandteil des Verwaltungsrechts gesehen, sondern als eine Sondermaterie behandelt wird, die letztlich neben dem (materiellen) Verwaltungsrecht und dem Verwaltungsprozessrecht steht. So schlägt immer noch verschiedentlich die Annahme durch, beim Staatshaftungsrecht handele es sich „eigentlich“ um eine zivilrechtliche Materie.[135] Erst in neuerer Zeit setzt sich die Auffassung durch, dass die Staatshaftung auch Grundrechtsinhalt sei, sodass den Grundrechten bei ihrer Verletzung auch eine Kompensationsfunktion zukommt.[136] Folge hiervon ist, dass dem Aspekt der verwaltungsverfahrensrechtlichen und prozessualen Durchsetzung von Staatshaftungsansprüchen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden und dies nicht vornehmlich als Problem des Zivilprozessrechts verstanden werden sollte.[137] Zudem ist nach Möglichkeiten zu suchen, Primär- und Sekundärrechtsschutz trotz verfassungsrechtlich angeordneter Rechtswegspaltung miteinander zu verknüpfen.[138] Problematisch ist es auch, wenn der BGH ohne nähere gesetzliche Grundlage „drittschützende Amtspflichten“ kreiert, die mangels Verankerung subjektiv-öffentlicher Rechte nicht vor den Verwaltungsgerichten im Primärrechtsschutz durchgesetzt werden können.[139]

V. Fünf Rechtswege (Art. 95 Abs. 1 GG) und ein Verwaltungsrecht?

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Sechs verfassungsrechtlich vorgegebene Rechtsgebiete

Nach Art. 96 Abs. 1 der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes waren für „das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit […] obere Bundesgerichte zu errichten“. Durch das 16. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 18.6.1968[140] ist diese Regelung in Art. 95 Abs. 1 GG überführt worden, der ebenfalls die Existenz von „Gebieten der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit“ voraussetzt und eine Verpflichtung des Bundes begründet, für diese Gebiete fünf „oberste Gerichtshöfe“ zu errichten, die nunmehr namentlich bezeichnet werden. Da die Zivil- und Strafrechtspflege in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nur organisatorisch verklammert ist (wie nicht zuletzt § 13 GVG verdeutlicht), setzt(e) damit Art. 95 Abs. 1 GG (bzw. Art. 96 Abs. 1 GG a. F.) eine materielle Unterscheidung zwischen sechs abgrenzbaren Sachgebieten (Zivilrecht, Strafrecht, Arbeitsrecht, Steuerrecht, Sozialrecht, sonstiges Verwaltungsrecht) voraus, die den dort vorgesehenen Gerichtszweigen im Grundsatz zugeordnet sind.[141] Auch wenn ebenfalls anerkannt ist, dass sich diese Sachgebiete nicht zwingend mit den Rechtswegzuständigkeiten decken müssen und insbesondere auch der ordentlichen Gerichtsbarkeit viele verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zugewiesen sind, hat Art. 95 Abs. 1 GG (bzw. Art. 96 Abs. 1 GG a. F.) dennoch zu der „Übung“ geführt, Verwaltungsrecht im Wesentlichen auf dasjenige zu beschränken, über das die Verwaltungsgerichte zu entscheiden haben. Die Aufteilung der Rechtswege prägt damit die Abgrenzung der rechtswissenschaftlichen Subdisziplinen. Rechtswegspaltungen führen zu Ungleichzeitigkeiten und Unterschieden in der Behandlung identischer Probleme, aber auch zu „unnatürlichen“ Aufspaltungen einheitlicher Sachfragen.[142]

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Steuerrecht und Sozialrecht

Dies betrifft zunächst das Verhältnis zwischen dem Steuer- und Sozialrecht einerseits und dem sonstigen („allgemeinen“) Verwaltungsrecht andererseits. Mit Art. 96 Abs. 1 GG a.F./Art. 95 Abs. 1 GG schrieb und schreibt das Grundgesetz vordergründig nur die Aufteilung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten fest, die schon unter der Weimarer Reichsverfassung angelegt war: Während es entgegen Art. 107 WRV nie gelungen war, ein Reichsverwaltungsgericht zu errichten,[143] geht die Finanzgerichtsbarkeit auf die Errichtung des Reichsfinanzhofs von 1918[144] zurück. Die Sozialgerichtsbarkeit hat ihre Vorläufer einerseits in den Versicherungsämtern und dem Reichsversicherungsamt als Quasi-Gerichtsbarkeit für die Sozialversicherung[145] und andererseits im Reichsversorgungsgericht, das organisatorisch eng mit dem Reichsversicherungsamt verflochten war.[146] Von Bedeutung für den „Selbststand“ der Finanz– und Sozialgerichtsbarkeit war zudem die Fortgeltung der Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919[147] und der Reichsversicherungsordnung vom 19.7.1911[148] i. d. F. der Bekanntmachung vom 25.12.1924[149] nach Art. 123 Abs. 1 GG[150] und damit von zwei Bereichskodifikationen von großer praktischer Bedeutung und systembildender Kraft, die jeweils als „Hausgesetz“ für die Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit verstanden werden konnten. Dies setzt sich bis heute mit der als „Drei-Säulen-Theorie“ bezeichneten Trennung zwischen VwVfG, AO und SGB X (und der für sie jeweils unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten) fort.[151] Sowohl diese Kodifikationen wie die durch Art. 95 Abs. 1 GG garantierte „eigene“ Gerichtsbarkeit mit ihrer jeweiligen Tradition ermöglichten und ermöglichen eine „Selbstgenügsamkeit“ der Praxis im und der Wissenschaft vom Steuer- und Sozialrecht. So haben sich eigenständige Rechtsprechungen und Diskurse entwickelt, die nur schwer mit den Entwicklungen im „sonstigen“ Verwaltungsrecht angeglichen werden können. Hierfür wurde oft auch kein Bedürfnis gesehen. Heute ist eher von einem wechselseitigen Lernen zwischen den Rechtsgebieten die Rede als davon, dass es sich beim Steuer- und Sozialrecht um („normales“) besonderes Verwaltungsrecht handelt.[152]

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Verwaltungsrecht und Strafrechtspflege

Für die Abgrenzung des Verwaltungsrechts zum Strafrecht[153] ist weniger die Zuweisung der eigentlichen Strafsachen zu den ordentlichen Gerichten von Bedeutung als die damit verbundene Einbeziehung auch der Tätigkeit der Strafverfolgungs– und Strafvollzugsbehörden in den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichte nach den §§ 94 ff. StPO, § 68 OWiG, §§ 23 ff. EGGVG und §§ 109 ff. StVollzG. Praktisch hat dies zur Folge, dass „Verwaltungssanktionen“ (insbesondere das Ordnungswidrigkeitenrecht) in Deutschland nicht wirklich zum Kanon der verwaltungsrechtlichen Handlungsformen gezählt werden.[154] Auch ist der „Justizverwaltungsakt“ i. S. des § 23 EGGVG kaum Untersuchungsgegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft.[155] Insgesamt zeichnet sich dieser gesamte Bereich dadurch aus, dass rechtsstaatliche und prozessuale Sicherungen, die mittlerweile im Bereich des „allgemeinen“ Verwaltungsrechts selbstverständlich sind, i. d. R. nur zeitlich versetzt übernommen werden und ein echter intradisziplinärer Diskurs allenfalls selten stattfindet.[156] § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG, der den Bereich der Strafrechtspflege generell aus dem Anwendungsbereich des VwVfG herausnimmt und damit letztlich auf die besonderen Verfahrensregelungen der StPO und des OWiG verweist, verstärkt diesen Effekt noch.[157] Dies ist bedauerlich: Die für die Rechtswegfrage bedeutsame Trennung zwischen repressiver und präventiver polizeilicher Tätigkeit erscheint sachlich nicht durchgehend begründet, wie sich in den Unklarheiten hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit zur Regelung polizeilicher Maßnahmen zeigt, die beiden Zwecken dienen.[158]

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Verwaltungsrecht und Zivilrechtspflege

Entsprechendes gilt für die Justizverwaltung im Zivilrecht, deren Tätigkeit nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG nur in den Anwendungsbereich des VwVfG fällt, soweit ihre Kontrolle den Verwaltungsgerichten unterliegt. Damit werden auch hier mit der Figur des Justizverwaltungsakts (§ 23 EGGVG) viele „an sich“ verwaltende Tätigkeiten der Justiz aus der verwaltungsrechtlichen Perspektive ausgeblendet. Von größerer Bedeutung ist jedoch, dass die „Verwaltungsgerichtszentriertheit“ der Verwaltungswissenschaft auch dazu führt, dass solche Bereiche des Verwaltungshandelns aus ihrem Blick geraten, für die aufgrund der Generalklausel des § 13 GVG oder kraft abdrängender Sonderzuweisung[159] die Zivilgerichte zuständig sind.[160] Insoweit wurde bereits darauf hingewiesen, welche Auswirkungen dies (wegen Art. 34 S. 3 GG) für das Staatshaftungsrecht[161] und für das Verwaltungshandeln in Privatrechtsform[162] hat. Zu betonen ist aber auch, dass so wichtige „Referenzgebiete“ für das allgemeine Verwaltungsrecht (z. B. das Enteignungsrecht, das Energierecht oder das Kartellverwaltungsrecht [§§ 54 ff. GWB]) letztlich aus dem Blick geraten.[163]

 

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Verwaltungsrecht und Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes

Indirekte Auswirkungen hat die mit der Rechtswegspaltung verbundene Begrenzung der Perspektive der Verwaltungsrechtswissenschaft auf die Bereiche, die in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fallen, auch für die Durchdringung des Verwaltungsorganisations- und des öffentlichen Dienstrechts.[164] Die von Art. 33 Abs. 4 GG zugelassene Eingliederung aufgrund privatrechtlicher Arbeitsverträge tätiger Arbeitnehmer in die ansonsten vollständig öffentlich-rechtlich normierte Behördenorganisation führt zu einer wenig klaren Vermischung zwischen privatrechtlichem Individualarbeitsrecht und öffentlich-rechtlichem Verwaltungsorganisationsrecht[165] und damit auch zu unklaren Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Verwaltungs- und Arbeitsgerichten. Dies zeigen deutlich die Existenz des öffentlich-rechtlichen Personalvertretungsrechts, die Tatsache, dass das Direktionsrecht des öffentlichen Arbeitgebers oftmals durch Verwaltungsvorschriften wahrgenommen wird und der Umstand, dass die Bestellung von Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes zu bestimmten herausgehobenen Funktionen in der Behördenorganisation (z. B. als Behördenleiter oder zum Gleichstellungsbeauftragten) vielfach als öffentlich-rechtliche Bestellung qualifiziert wird.[166] Individualarbeitsrechtliche Sonderregelungen für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes (z. B. § 19 Arbeitszeitgesetz, § 20 Arbeitsschutzgesetz, § 14 Abs. 1 Nr. 7 Teilzeit- und Befristungsgesetz) treten ebenso hinzu wie die Schwierigkeiten bei der Abstimmung zwischen der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Arbeitsgerichte, wenn es um die aus Art. 33 Abs. 2 GG hergeleiteten Ansprüche auf Einstellung und Beförderung im öffentlichen Dienst geht.[167] Dies alles wird von der Verwaltungswissenschaft kaum behandelt. Sie ist im öffentlichen Dienstrecht allein auf das Beamtenrecht fokussiert und verweist in Bezug auf die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vornehmlich auf die geltenden Tarifverträge.[168]

VI. Unitarisierung des Landesrechts durch Bundesgerichte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 99 GG)

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Bedeutung des Landes-Verwaltungsrechts

Nach den Art. 70 ff. GG ist die Gesetzgebungskompetenz der Länder für das Verwaltungsrecht die Regel, eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes die Ausnahme. Dies entspricht jedenfalls insoweit auch dem tatsächlichen Bild, als die Verwaltungsorganisation (einschließlich des Landeshaushaltsrechts, des Landesbeamtenrechts, des Personalvertretungsrechts und der Regelungen der Zuständigkeiten für den Vollzug der Bundesgesetze), das Kommunalrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht und die gesetzliche Regelung solcher Aufgaben der „allgemeinen“ Verwaltung betroffen sind, die für die „normale“ Bürgerin und den „normalen“ Bürger unabhängig von den von ihnen ausgeübten Berufen von Bedeutung sind: Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Bauordnungsrecht, öffentliche Straßen und lokale Infrastrukturen[169] (und die hierfür zu zahlenden Abgaben), (Hochschul-)Bildung, Kultur- und Medienrecht. Mangels unmittelbarer Zugriffsmöglichkeiten des Bundesgesetzgebers auf diese Gebiete wäre es in diesen Bereichen im Grundsatz möglich gewesen, die Eigenständigkeit der Landesgesetzgebung und der Landesrechtsprechung (und damit der Eigenstaatlichkeit der Länder) dadurch zu unterstreichen, dass das gesamtstaatliche Anliegen einer „Vereinheitlichung der Rechtsprechung“ durch Bundesgerichte nicht auf die Anwendung des durch einfaches Bundesrecht nicht determinierten Landesrechts erstreckt wird.

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Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Revisibilität von Landesrecht

Im Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte stellte sich die Frage der Notwendigkeit einer länderübergreifenden Vereinheitlichung der Rechtsprechung zum Landesrecht durch Bundesgerichte ohnehin erstmals seit der von Art. 96 Abs. 1 GG a.F./Art. 95 Abs. 1 GG angeordneten Errichtung eines BVerwG.[170] Zuvor hatte es an einer Reichsgerichtsbarkeit gefehlt, die auf eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte der Länder (auch soweit es um die Auslegung von Reichsrecht ging) hätte hinwirken können.[171] Soweit die ordentlichen Gerichte Landes-Verwaltungsrecht anzuwenden hatten, ergab sich jedoch bereits aus der Ausweitung des revisiblen Rechts auf die Gesetze, deren „Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinauserstreckt“ (§ 511 Civilprozeßordnung i. d. F. von 1877/§ 545 ZPO i. d. F. bis zum Inkrafttreten des FGG-RG[172]), dass dem Reichsgericht die Aufgabe der Vereinheitlichung der Rechtsprechung z. B. auch in Bezug auf das preußische Recht, das gemeine Recht oder das linksrheinische Recht zukam. Hinzu trat damals schon die weitgehend das Landesrecht unitarisierende Wirkung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum Staatshaftungsrecht.[173] Dass Bundesgerichte zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung zum Landesrecht kraft bundesrechtlicher Anordnung zuständig sein konnten, war damit bei Schaffung des Grundgesetzes durchaus bekannt. Das BVerfG hat daher schon früh angenommen, der Bund sei auf Grundlage seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) auch berechtigt, die Revisibilität von Landesrecht vor den Bundesgerichten anzuordnen.[174] Der auf Art. 99 Alt. 2 GG gestützten gegenteiligen Argumentation Bayerns, das Interesse des Bundes an Rechtseinheit könne das Interesse des Landes an rechtlichem Eigenleben dann nicht überwiegen, wenn der Bund mangels Gesetzgebungskompetenz das Interesse an Rechtseinheit durch die Gesetzgebung nicht verfolgen dürfe, war das BVerfG hier explizit nicht gefolgt.[175] Damit schloss sich das BVerfG der Sache nach der Argumentation von Christian-Friedrich Menger an, der in einer kurzen Urteilsanmerkung von 1959 der nur eingeschränkten Revisibilität von Landesrecht mit dem Argument entgegengetreten war, dies beruhe „auf der nachgerade etwas weltfremden Vorstellung“, dass das „Landesrecht eine selbstständige Rechtsordnung für sich sei, die sich nach eigenen Gesichtspunkten entwickelt habe und daher nur durch ‚landeseigene‘ Rechtsprechungsorgane eigenständig ausgelegt und entwickelt werden müsse.“ Jene „ganze Vorstellung von der Eigenständigkeit der Landesrechtsordnung“ sei jedoch „von den sozialen Gegebenheiten überholt“, weil jedenfalls im materiellen Verwaltungsrecht es dieselben Probleme seien, „welche durch die Landesgesetzgeber unter Verwendung ähnlicher Formulierungen durch ähnliche Regelungen geregelt würden, sodass nicht angenommen werden könne, dass sie sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln sollten.“[176] Später ergänzte Menger dies dahingehend, dass die Rechtsordnung „bei aller Differenziertheit ihrer Regelungen und bei aller Unterschiedlichkeit der Quellen, aus der sie gespeist“ werde, „doch ein in sich geschlossenes einheitliches Ganzes“ sei.[177]

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Auswirkungen der Revisibilität des Grundgesetzes

Auf derselben Linie lag es, die Revisibilität des Grundgesetzes als „Bundesrecht“ und damit die Zuständigkeit der Bundesgerichte zur Kontrolle der Beachtung bundesverfassungsrechtlicher Maßstäbe bei der Anwendung und Auslegung von Landesrecht anzuerkennen. Insoweit führte die unmittelbare Bindung der Länder an das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) einschließlich der unmittelbar geltenden Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) zu einer Unitarisierung des Landes-Verwaltungsrechts durch die Rechtsprechung der Bundesgerichte. Dies betraf auch Bereiche, in denen der Bund eine solche Vereinheitlichung durch Gesetzgebung nicht hätte herbeiführen können. Vehikel ist insoweit letztlich die verfassungskonforme Auslegung des Landesrechts, deren Missachtung eben zu einer Verletzung von Bundes(verfassungs)recht führt und damit revisibel wird.[178] Dies führt insbesondere zur Revisibilität der Vereinbarkeit der Auslegung und Anwendung landesrechtlicher Vorschriften mit den Grundrechten des Grundgesetzes[179] einschließlich des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG),[180] des Verhältnismäßigkeitsprinzips,[181] des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes[182] und weiterer rechtsstaatlicher Grundsätze oder auch des Art. 28 Abs. 2 GG.[183] Dies schließt auch die Prüfung ein, ob sich die Verwaltungsgerichte der Länder bei der Anwendung und Auslegung des Landesrechts so weit von dem angewendeten Gesetz entfernt haben, dass der Zusammenhang mit dem Gesetz nicht mehr hinreichend erkennbar und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt – auch nicht als richterliche Rechtsfortbildung – verständlich ist.[184] Zudem nimmt das BVerwG eine Verletzung von Bundesrecht auch an, wenn sich ein Landes-Verwaltungsgericht bei der Auslegung des Landesrechts zu Unrecht durch bundesrechtliche Vorgaben gebunden sieht.[185] Damit zieht das BVerwG auch der Weiterentwicklung bundesrechtlicher Rechtsgarantien durch die Gerichte der Länder Grenzen. Will ein Landesgericht die Entwicklung allgemeiner bürgerschützender Rechtsgrundsätze vorantreiben, tut es daher gut daran, diese Rechtsgrundsätze aus Landesverfassungsrecht herzuleiten. Andernfalls muss das Landesgericht befürchten, dass das BVerwG dieser Entwicklung mit dem Argument, sie sei bundesverfassungsrechtlich nicht zwingend, Einhalt gebieten wird. Nicht nur in der frühen Bundesrepublik, sondern bis heute baut daher die Konstitualisierung des Verwaltungsrechts auf dem Modell eines unitarischen Bundesstaats auf.[186] Dieses Modell liegt damit trotz aller Föderalismusreformen auch dem aktuellen Verwaltungsrecht noch zugrunde. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass das BVerwG auch das Unionsrecht als „Bundesrecht“ i. S. d. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ansieht und damit auch kontrolliert, ob landesrechtliche Normen in Einklang mit unionsrechtlichen Maßstäben ausgelegt und angewendet werden.[187] Dass dies alles zu einem faktischen Ausschluss landesrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten und damit nicht nur zu einer Unitarisierung, sondern einer Versteinerung des Landesrechts führen kann, zeigen die sehr weitreichenden Anforderungen, die das BVerwG aus Art. 3 Abs. 1 GG und dem Bestimmtheitsgebot für das Kommunalabgabenrecht herleitet[188] sowie aktuell die Grenzen, die das BVerwG aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV der Sonntagsöffnung von Ladengeschäften zieht. Letzteres schließt „liberalere“ Landesgesetzgebung letztlich aus und lässt durch erzwungene restriktive verfassungskonforme Auslegung die Überführung der Gesetzgebungskompetenz für das Ladenschlussrecht auf die Länder[189] teilweise obsolet werden.[190]

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Unitarisierungswirkung des Staatshaftungsrechts

Unitarisierende Wirkung kommt auch der Rechtsprechung des BGH zum Staatshaftungsrecht zu. Dies gilt insbesondere, soweit sie als (drittschützende) Amtspflichten die Pflicht zur Beachtung von hohen (nicht zwingend aus den grundrechtlichen Schutzpflichten herleitbaren) richterrechtlich entwickelten Mindeststandards (auch in Form von Verkehrssicherungspflichten[191]) für die landesrechtlich geregelte (und vielfach nur landesrechtlich regelbare) Leistungs- und Infrastrukturverwaltung oder auch für die Prüfprogramme und die Schutzpflichten in landesrechtlich geregelten Genehmigungsverfahren aufstellt.[192] Gerade in der Rechtsprechung des BGH zum Landes-Verwaltungsrecht ist auch eine gewisse Tendenz zu einem bundesweit einheitlichen Verständnis landesrechtlicher Regelungskomplexe selbst bei unterschiedlicher Ausgestaltung dieser Komplexe im jeweiligen Landesrecht zu erkennen. Der BGH neigt insoweit dazu, durch „wertenden intraföderalen Rechtsvergleich“ aufgrund einer unausgesprochenen Erwartung, dass ähnliche Fragen ähnlich gelöst werden, trotz im Detail unterschiedlicher Ausgestaltung in den Ländern letztlich eine Art neues „gemeines Recht“ zu schaffen, von dem sich der Landesgesetzgeber nur schwer distanzieren kann.[193]