Handbuch Gender und Religion

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Handbuch Gender und Religion
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utb 3062


















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Anna-Katharina Höpflinger / Ann Jeffers / Daria Pezzoli-Olgiati (Hg.)





Handbuch Gender und Religion





Vandenhoeck & Ruprecht




Veröffentlicht mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung.








Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter

www.utb-shop.de



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

https://dnb.de

 abrufbar.



2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021

© 2021, 2008 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.



Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.



Umschlagabbildung: © Max Rüedi (1925–2019), Radierung, 15. März 1985, 20 x 20 cm.



Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: le-tex publishing services, Leipzig

EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim





Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com





UTB-Band-Nr. 3062

ISBN 978-3-8463-5714-9




Dieses Buch ist allen Kollegen und Kolleginnen gewidmet, die das Konzept von Gender in ihrer Forschung und Lehre mitbedenken.






Danksagung





Wie schon bei der ersten Auflage von 2008 ist das

Handbuch Gender und Religion

 das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den Herausgeberinnen, den Lektorinnen und den Autorinnen und Autoren. Der Kreis der Mitwirkenden wurde wesentlich erweitert, damit neue Konzepte, Themen und Fragestellungen aufgenommen und entfaltet werden konnten. Dieses Werk wurde hauptsächlich während der Corona-Pandemie geschrieben, was alle Phasen der Produktion erschwerte. Außerdem liegt es uns am Herzen, daran zu erinnern, dass dieses Buch im Jahr erscheint, in dem die Schweizer Frauen das 50-jährige Jubiläum der Möglichkeit begehen, aktiv an der Politik des Landes teilzunehmen. Die laufenden Debatten um die Bestimmung und die Rolle der Geschlechter in der Gesellschaft – von #metoo,

gender pay gap

, der Ehe für alle, der LGBTIQ+-Bewegungen bis hin zum Verhältnis von Pandemie und Genderdiskriminierung – haben die Zoom-Gespräche der Herausgeberinnen und den Entstehungsprozess des Buches stark geprägt.



Gerade in einer solchen zwiespältigen und anstrengenden Zeit haben alle konstruktiv mitgearbeitet und alles gegeben, damit das Handbuch pünktlich erscheinen konnte. Deswegen möchten wir uns ganz herzlich bei allen bedanken, die dieses Projekt mit ihrer großzügigen Arbeit ermöglicht haben. Ein ganz besonderer Dank geht an alle Autoren und Autorinnen, die ihre Texte revidiert oder neu für diese Auflage des Handbuches verfasst haben; an Prof. Dr. Pierre Bühler und PD Dr. Marie-Therese Mäder, die Einführungen zu einzelnen Teilen übernommen und uns damit geholfen haben, den roten Faden des Projektes nicht aus den Augen zu verlieren und zentrale Grundfragen hervorzuheben; an Caterina Panunzio, die alle Beiträge vereinheitlicht und mit Professionalität und Hingabe einige Texte vom Englischen ins Deutsche übersetzt hat; an Verena Eberhardt und Hannah Griese, die mit Aufmerksamkeit sowie kritischem Blick die Lektoratsarbeit übernommen haben; an Mirjam Wieser, die die Organisation des Projektes professionell gemeistert hat; an die Deutsche Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung, die sich am Druck des Buches finanziell beteiligt hat; schließlich an Dr. Johanna Körner, Dr. Victor Wang und an den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die verlegerische Arbeit.



München und London, im März 2021





Anna-Katharina Höpflinger, Ann Jeffers und Daria Pezzoli-Olgiati








Inhaltsverzeichnis







Danksagung









Einführung









Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati







Gender als Grundkonzept der Religionsforschung









Teil I Religionswissenschaft als Vermittlung von Weltbildern









Pierre Bühler







Einleitung







Ursula King







Gender-kritische (Ver-)Wandlungen in der Religionswissenschaft. Ein radikaler Paradigmenwechsel







Daria Pezzoli-Olgiati







»Spieglein, Spieglein an der Wand…«. Rekonstruktionen und Projektionen von Menschen- und Weltbildern in der Religionswissenschaft







Kristina Göthling-Zimpel







»Schuld ist nur der Feminismus«. Antifeminismus und Antigenderismus in der gegenwärtigen Debatte







Rosalind Janssen







Genderarchäologie. Ihre Höhen und Tiefen









Teil II Grundkonzepte von Gender und Religion









Anna-Katharina Höpflinger







Einleitung







Dolores Zoé Bertschinger







Feminismus. Auf dem »religiösen Auge« blind?







Ann Jeffers







Ökofeminismus. Über die Ausbeutung von Frau und Natur







Janet Wootton







Frauenbewegungen in globalen Kontexten. Kritische Auseinandersetzungen mit »Feminismen«







Benedikt Bauer







»Where heaven and hell collide«. Intersektionen, Religion, Diskriminierungen und Potenziale







Claudia Jahnel







Körper und Religion. Jenseits von Somatophobie und Somatophilie







Christian Feichtinger







Neue und alte Denkwege.

Masculinity

 und Religion







Stefanie Knauß







Queer. Das Konzept, das keines ist







Yasmina Foehr-Janssens







»Papa, Mama und die Kinder, das ist natürlich!«. Familienvorstellungen auf der Spur









Teil III Forschungsgeschichten der Religionswissenschaft









Daria Pezzoli-Olgiati







Einleitung







Valeria Ferrari Schiefer







»Sie wurde nach dem Bilde Gottes erschaffen«. Frauenfreundliche theologische Positionen in der frühneuzeitlichen Geschlechterdebatte









Ann Jeffers









»Sapere aude«. Elizabeth Cady Stanton (1815–1902) und die

Woman’s Bible



 





Ulrike Brunotte







Jane Ellen Harrison (1850–1928). Gewendeter Kolonialdiskurs,

Material Religion

, Ritual und Suffrage







Caroline Widmer







Alexandra David-Néel (1868–1969). Eine Frau, die Grenzen überschreitet







Ansgar Jödicke







Mary Douglas (1921–2007). Symbolsystem und Sozialstruktur







Stefanie Knauß







Heide Göttner-Abendroth (geb. 1941). Eine kritische Vorstellung der Klassikerin der Matriarchatsforschung









Teil IV Gender und Religion in Tradierungsprozessen









Ann Jeffers







Einleitung







Ann Jeffers







Kosmologie und geschlechterspezifische Weltbilder. Beispiele aus der jüdischen Antike







Kristin Weingart







(Gefährliches) Vorbild. Rahab, die glaubenstreue Verführerin







Birgit Heller







Wissen, Weisheit und Geschlecht. Ambivalente Geschlechtskonstruktionen in Hindu-Traditionen







Martin Lehnert







Jenseits der Geschlechterpolarität? Religiöse Aspekte buddhistischer Auffassungen von sexueller Differenz







Bärbel Beinhauer-Köhler







Genderizing Fāṭima? Die Prophetentochter als Rollenmodell









Kocku von Stuckrad









Die Schekhina vom Sohar bis zu Madonna. Oder: Die Weiblichkeit Gottes als Ergebnis gesellschaftlicher Organisation







Theresia Heimerl







Dämoninnen und Vampirinnen. Religionsgeschichte und modern Transformationen









Teil V Gender, Religion und Medien









Marie-Therese Mäder







Einleitung







Susanne Lanwerd







Geschlecht, Religion und Ästhetik. Zur Faszination von Bildergeschichten







Anna-Katharina Höpflinger







»Mehr verschandelt als verwandelt«. Kleidung als Medium religiöser Geschlechterkonstruktion







Marie-Therese Mäder







Jüdin sucht Jude. Differenz und Geschlechterfrage im Dokumentarfilm MATCHMAKER (CH 2005) von Gabrielle Antosiewicz







Stefanie Knauß







Überall und nirgends. Geschlecht und Religion im Spielfilm







Verena Marie Eberhardt







Geschlechterrollen, Religion und Identität in Kinderliteratur. Intersektionale Perspektiven auf Ingrid Kötters Roman

Die Kopftuchklasse







Natalie Fritz, Paola von Wyss-Giacosa







Die »Heilige Familie« nach Barilla oder warum jetzt auch die Drag Queen dazu gehört. Zur medialen Inszenierung von Familien- und Genderbildern, Religion und Essen







Baldassare Scolari







Kinder trotz allem. Gender und Religion in filmischen Ökoapokalypsen









Ausklang









Daria Pezzoli-Olgiati







The Handmaid’s Tale

. Religion und Gender künstlerisch verdichtet







Autorinnen und Autoren






Einführung






Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati







Gender als Grundkonzept der Religionsforschung





Meine Mutter, warum verargst du den lieblichen Sänger,



Dass er mit Liedern uns reizt, wie sie dem Herzen entströmen?



Nicht die Sänger sind die zu beschuldigen, sondern allein Zeus,



Welcher die Meister der Kunst nach seinem Gefallen begeistert.



Zürne denn nicht, weil dieser die Leiden der Danaer singet;



Denn der neuste Gesang erhält von allen Gesängen



Immer das lauteste Lob der aufmerksamen Versammlung,



Sondern stärke vielmehr auch deine Seele, zu hören.



Nicht Odysseus allein verlor den Tag der Zurückkunft



Unter den Troern, es sanken mit ihm viel andere Männer.



Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte,



Spindel und Webstuhl, und treib an beschiedener Arbeit



Deine Mägde zum Fleiß! Die Rede gebühret den Männern



Und vor allem mir; denn mein ist die Herrschaft im Hause!



Staunend kehrte die Mutter zurück in ihre Gemächer



Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes.



Als sie nun oben kam mit den Jungfrauen, weinte sie wieder



Ihren trauten Gemahl Odysseus, bis ihr Athene



Sanft mit süßem Schlummer die Augenlieder betaute.



Odyssee I,346–364



Zu Beginn ihres pointierten Essays

Women and Power, A Manifesto

 evoziert die Philologin und Literaturwissenschaftlerin Mary Beard diese Szene aus der

Odyssee

, einem der unbestrittenen Klassiker der europäischen (Religions-)Geschichte.

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 Die britische Autorin möchte damit auf das langjährige Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen im Zugang zu Macht hinweisen und ihre tiefe Verankerung in der Kulturgeschichte illustrieren.



Die Mutter Penelope ist von den Liedern des Barden betrübt und bittet deswegen um eine fröhlichere Art der Unterhaltung. Ihr Sohn, Telemachos, bringt sie zum Schweigen und weist sie in ihre privaten Zimmer zurück. Das Besingen der Heldentaten gebührt den Männern in den öffentlichen Räumen des Hofes, während sich die stille Arbeit mit Spindel und Webstuhl den Frauen geziemt: Kurz und bündig werden die Machtverhältnisse im Hause in Erinnerung gerufen. Die gebrochene Mutter folgt dem Befehl und legt sich weinend ins Bett, bis Athena ihr Ruhe durch den Schlaf beschert. Der Text arbeitet mit eindeutigen, dichotomen Kategorien: Telemachos, Hausherr, Zeus, Öffentlichkeit, Heldentaten, Erinnerung an den Krieg, Singen und Macht stehen auf der einen Seite; Penelope, die treue Ehefrau, Athena, private Räume, Produktion von Textilien, Schweigsamkeit, Erinnerung an den Ehemann, Weinen und Schlaf auf der anderen.



Die erste Fassung vom

Handbuch Gender und Religion

 hat die Instrumente zur Verfügung gestellt, um einen solchen literarischen Text im Hinblick auf die Definition von Geschlecht und den damit verbundenen Rollen sowie die religiöse Legitimierung dieser Dichotomie zu untersuchen. Die vorliegende zweite und erweiterte Fassung ergänzt diesen Zugang mit weiteren Kategorien, die diese Dualismen und die damit vorausgesetzten Generalisierungen thematisieren und kritisch hinterfragen: Ausgewählte Beiträge aus der ersten Auflage wurden gründlich revidiert und aktualisiert; dazu kommen in etwa gleich viele neue Kapitel, die die Themen, Methoden sowie die theoretischen und hermeneutischen Reflexionen des letzten Jahrzehntes aufnehmen. Das

Handbuch Gender und Religion

 wurde in der Erstauflage von 2008 als erstes deutschsprachiges Handbuch aus religionswissenschaftlicher Sicht zu diesem Themenbereich veröffentlicht. Es basierte auf einer Tagung, die 2006 stattfand, und reflektierte über Diskurse bezogen auf ein, damals wie auch heute noch, brandaktuelles Thema. Es war ein Versuch – und auch die erweiterte Neuauflage ist ein solcher – Impulse zu einer genderzentrierten Annäherung an die vielfältigen Felder und Fragen rund um Religion zu geben und zum Nachdenken sowie Weiterforschen anzuregen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wurde und wird nicht erhoben.



In der Einführung zu ihrem 2005 zusammen mit Tina Beattie herausgegebenen Buch

Gender, Religion and Diversity

 beklagt Ursula King zu Recht die damalige Gender-Blindheit der Religionswissenschaft und die Religions-Blindheit der Gender-Studien.

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 Seither hat sich jedoch einiges getan, auch im deutschsprachigen Raum: In den Jahren seit der Veröffentlichung der Erstauflage des Handbuchs hat sich die Forschung in diesem Themenfeld erweitert und etabliert. Verschiedene Überblicksdarstellungen, theoretische Reflexionen, aber auch religionshistorische und gegenwartsbezogene Studien zu Gender und Religion sind publiziert worden.

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 Die Genderforschung interagiert mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskursen und reagiert auf sie. Dies zeigt sich beispielsweise in neueren Beiträgen zu Gender, Religion und Nation und solchen zum Wechselspiel zwischen Migration, Religion und Geschlecht.

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 Dennoch muss das Feld, gemessen an der Zentralität von Geschlecht in und für Religion, weiterhin ausgebaut werden.



In Anbetracht der vielfältigen neuen Forschungsimpulse, aber auch der gesellschaftlich-politischen Debatten der letzten Jahre, musste also das

Handbuch Gender und Religion

 gründlich revidiert und erweitert werden. Die vorliegende Einleitung hebt die zentralen Aspekte hervor, die als Basis für das Gerüst dieses neuen Editionsprojektes gedient haben. Leitend war dabei die Frage, wieso Gender ein Grundkonzept der Religionswissenschaft ist und was es leisten kann. Im Folgenden gehen wir in drei Schritten vor: Erstens werden »Gender« und »Religion« als theoretische Konzepte umrissen, zweitens wird ihre Relevanz für die Erforschung von Religionen in Geschichte und Gegenwart diskutiert, und drittens wird auf die Rolle der Wechselbeziehung von Religion und Gender in öffentlich-medialen Diskursen eingegangen.







1 »Gender« und »Religion« als Konzepte der Religionsforschung





Geschlecht ist eng mit anthropologischen Reflexionen verbunden, es geht um die Frage des Menschenbildes und seinen Bezug zu einem bestimmten kulturellen Kontext. Geschlecht ist zunächst verbunden mit einem Körper im Sinne einer physisch-sinnlichen Existenz. Genauso relevant in diesem Zusammenhang ist der Leib, verstanden als subjektiv gespürte und interpretierte Physis, als Reflexion des Individuums über das körperliche Sein.

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 Menschen sind in ihrer Körperlichkeit und Leibhaftigkeit soziale Wesen: Zum Physischen und Individuellen tritt also das Sozial-Kollektive als dritte relevante anthropologische Kategorie hinzu. Damit wird ersichtlich, dass Geschlechtskonzepte stets kultur- und zeitspezifisch ausgeformt werden, sie prägen Menschen und ihre Vorstellungen in unterschiedlichen Teilen der Welt verschieden. Global gesehen lässt sich eine große Bandbreite an Geschlechterkonzepten finden: Es gibt Menschen- und Weltbilder, in denen mehrere fluide Geschlechter eine Rolle spielen,

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 andere, die durch stark binäre Differenzkonstruktionen gekennzeichnet sind, und dazwischen findet sich eine ganze Bandbreite an Konstellationen.



Geschlecht ist also etwas Körperliches, etwas Leibliches und wird kulturell bestimmt. Gehen wir von dieser Annahme aus, können wir umgekehrt argumentieren, dass soziale Ordnungen auch Ordnungen des Körpers sind.

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 Die oben zitierte Szene aus der

Odyssee

 ist ein Beispiel für diese enge Verbindung zwischen körperlichen und sozialen Ordnungen: In der angeführten Passage zeigt sich eine deutliche Trennung von sozialen Räumen für Frauen und für Männer, die verbunden werden mit spezifischen körperlichen Tätigkeiten. Die Frauen spinnen und weben in den Privatgemächern, die Männer feiern und singen in den öffentlich zugänglichen Orten. Die Zuweisung zu diesen unterschiedlich konnotierten Orten reproduziert Machtverhältnisse, wie die Verse, in denen der Sohn über seine Mutter bestimmt, prägnant zum Ausdruck bringen. Soziale Umgangsformen, Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens und ordnende Klassifikationen von Orten, Tätigkeiten und Körpern sind also kultur- und zeitspezifisch. Sie sind aber wesentlich für die Frage, wer oder was der Mensch ist und wie das Verhältnis zwischen verschiedenen Geschlechtern zu begreifen sei.

 



Für die Erfassung und Systematisierung dieser unterschiedlichen Kategorien, die Körper und Kultur zusammenbringen, sind konzeptuelle Reflexionen notwendig. Ein Konzept, das ins Zentrum dieser Fragen zielt, ist Gender. Gender ist dabei keine statische oder »natürlich« festgeschriebene Kategorie, sondern bildet einen offenen Rahmen – mit der Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal gesprochen ein

travelling concept

 – der im Mittelpunkt unterschiedlicher Zugänge, Diskurse und Kontroversen steht.

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Der Terminus »Gender« ist ein Paradebeispiel eines solchen »wandernden Konzeptes«. Der Begriff entstammt der Linguistik. Von dort ist er ab Mitte der 1950er Jahre vom neuseeländischen Psychologen John Money und seinem Team im Zuge von Studien zur Intersexualität in die Psychologie eingeführt worden.

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 In der Folge wird Gender in unterschiedlichen Disziplinen mit durchaus verschiedenen Semantiken und Zielen verwendet. Dabei zeigen sich spezifische Kristallisationspunkte der Fragerichtung:

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 In feministischen Studien und den

women studies

 wurden und werden androzentrische Sichtweisen aufgedeckt und die Perspektive auch auf Frauen und Kinder ausgeweitet. Damit konnten und können ungleiche Machtverhältnisse dargelegt werden.

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 In solchen Zugängen nähert sich Gender Differenzkonstruktionen rund um Frauen an. Die einem solchen Zugang zugrunde liegende Binarität wurde und wird in der Folge jedoch nicht nur in queeren Theorien hinterfragt, sondern auch im globalen Feminismus, der auf intersektionale Verbindungen fokussiert und aufzeigt, dass Frau nicht gleich Frau ist.

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 Somit wird Gender zu einer dynamischen Größe, die eng mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Prozessen, seien es Arbeitsbedingungen oder Zugang zu Bildung, zusammenhängt.

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Im Umgang mit Begriffen wie Sex, Geschlecht und Gender können unterschiedliche Spannungsverhältnisse beobachtet werden, die nicht zuletzt von der jeweiligen Sprache abhängig sind. John Money betonte beispielsweise die Spannung von Sex als biologischem Geschlecht und Gender als Geschlechtsverhalten; auf dieser Linie wird in der englischsprachigen Literatur geläufig Sex mit der biologischen Grundlage und Gender mit der sozialen Ausformung des Geschlechts assoziiert.

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 Aber auch die Bezeichnung, Beschreibung und Klassifizierung der biologischen Grundlagen sind eine kulturelle Leistung und in diesem Sinne ebenfalls eine gesellschaftliche Konstruktion, ein Argument, das von Judith Butler vertreten wird.

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 Im Deutschen artikulieren sich die Gestaltungsmöglichkeiten in der Triangulation von Gender – als Fremdwort –, Geschlecht und Sex. Ob man Gender und Geschlecht als Synonyme setzt oder Gender als Konstruktion von Geschlecht und Sex umreißt, variiert je nach Disziplin, Ansatz und Autor*in stark, auch in Abhängigkeit von der Rezeption der vielfältigen, hier nur konzis rekapitulierten Debatten im angelsächsischen Raum.



Für die Annäherung an diese Themen, die wir in diesem Handbuch vorschlagen, ist es wesentlich zu erkennen, dass Gender oder Geschlecht keine statischen Begriffe sind, sondern tatsächlich

travelling concepts

, die je nach Perspektive und Kontext anders verhandelt und verstanden sowie unterschiedlich debattiert werden. Gender kann beispielsweise sehr umfassend verwendet werden: Dies wird zum Beispiel ersichtlich in der Rezeption des Ausdrucks

doing gender,

 den die US-amerikanischen Soziolog*innen Candace West und Don H. Zimmerman geprägt haben. Damit fokussieren sie nicht mehr auf die Frage, was Gender ist, sondern auf die Mechanismen der Konstruktion, Verhandlung und Veränderung im Umgang mit Geschlechtsdifferenzen in der Gesellschaft.

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Als Herausgeberinnen tendieren wir dazu, das Fremdwort Gender als Begriff der Theoriebildung in Abgrenzung zu politischen, medialen und/oder emischen Perspektiven zu verwenden. Dabei verstehen wir Gender als ein Konzept, mit dem wir kulturelle Ausprägungen von Körper und Leib im Hinblick auf Geschlechtsdiskurse und Aushandlungen von Geschlecht untersuchen können. Somit nehmen wir mit dem Konzept von Gender komplexe, kulturell verankerte Verflechtungen in den Blick, die für eine Untersuchung von Religion besonders relevant sind, und verzichten bewusst auf dichotome Konstellationen zwischen Gender, Geschlecht und Sex.



Allerdings wurde es aufgrund der unterschiedlichen Zugänge, Definitionen und Verwendung von Gender, Geschlecht und Sex, die nach- und nebeneinander existieren, in diesem Projekt den Autor*innen überlassen, ihr eigenes Verständnis dieser Konzepte einzubringen. Auch auf der formalen Ebene, die unserer Meinung nach stark mit der konzeptuellen verwoben ist, haben wir den Beitragenden die Herangehensweise an eine gendergerechte Sprache offengelassen. Die einzelnen Beiträge nähern sich also Geschlecht und Religion unterschiedlich und präsentieren somit in ihrer Gesamtheit eine aufschlussreiche Spannbreite von Zugängen. Diese Breite aufzuzeigen, ist eines der Ziele des Handbuchs.



In die gleiche Richtung bewegen wir uns mit dem zweiten, zentralen wandernden Konzept des Handbuchs: Religion. Das anfängliche Zitat ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die

Odyssee

 ist ein über die Jahrtausende – eben auch in Mary Beards

Manifesto

 – rezipiertes Buch. Sie vermittelt Vorstellungen und Erwartungen an Mensch und Umwelt, die je nach Zeit und Kontext neu interpretiert werden und doch von einem Entstehungskontext geprägt sind. In den angeführten Zeilen wird nicht nur eine spezifische Geschlechterordnung, sondern auch ein bestimmtes religiöses Weltbild vertreten. Dabei werden immanente und transzendente Dimensionen einerseits unterschieden – der Text setzt eine Trennung zwischen Gottheiten- und Menschenwelt voraus – und andererseits in Verbindung gebracht. Telemachos weist Penelope zurecht und sieht Zeus auf seiner männlichen Seite, während Athena der trauernden Mutter einen süßen Schlaf beschert.



Ein Transzendenzbezug ist maßgebend für die hier vertretene Annäherung an Religion und unterscheidet religiöse Symbolsysteme von anderen kulturellen Bereichen. Religion formt die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, gibt dieser unscharfen Grenze eine Gestalt und vermittelt damit Ordnung und Sinn, die auch Geschlechterverhältnisse prägen. In dieser Orientierungsfunktion wurzeln Werte und Normen, die internalisiert, verhandelt, weitergegeben und transformiert werden. Mit einer beschreibenden und normativen Orientierungsleistung von Religion sind stets Machtverhältnisse gekoppelt: Religionen konstituieren Hierarchien und verfügen über autoritative Strukturen, die einerseits die jeweilige Bestimmung von Geschlecht prägen und andererseits davon beeinflusst sind. Religion als umfassendes Symbolsystem modelliert und legitimiert nachhaltig Differenzprozesse in den verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen und Bereichen. Wie die Beiträge in diesem Band eindrücklich aufzeigen, sind religiöse Symbolsysteme grundlegend in der Aushandlung von Geschlechtsbestimmungen, -rollen, -zuordnungen und -funktionen. Dabei spielt Religion nicht nur eine Rolle in der Reiteration von Machtstrukturen, sondern auch in Transformations- und Subversionsprozessen. Auf diesen dynamischen Relationen gründen religiöse Identitäten, die in der Spannung zwischen Gemeinschaft und Individuum artikuliert werden. Religiöse individuelle Praxis findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie rezipiert, reproduziert oder hinterfragt Geschlechtervorstellungen und -regulierungen. Umgekehrt sind religiöse Gemeinschaften nicht unveränderliche, statische Größen, sondern Gruppen von Menschen mit einem Körper, einem Leib und damit auch einem Geschlecht. Menschen in ihrer Geschlechtlichkeit leben Religion, sie reflektieren sie, reproduzieren Narrative und Motive, aber auch Normen und Werte oder brechen sie. Religiöse Identität kann nicht von Genderidentität gelöst werden. Religionen als