HIMMEL UND ERDE

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HIMMEL UND ERDE
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Corinna Griesbach (Hrsg.)

HIMMEL UND ERDE

Die Bilder Tatjana Freys

Außer der Reihe 47

Corinna Griesbach (Hrsg.)

HIMMEL UND ERDE

Die Bilder Tatjana Freys

Außer der Reihe 47

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: November 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen: Tatjana Frey

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Corinna Griesbach

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 199 0

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 891 3

Vorwort | Corinna Griesbach

Ich habe Tatjana Frey durch unsere Zusammenarbeit an den Bänden 13 (»Alte Freunde«) und 15 (»Schuld«) der Literaturzeitschrift HALLER kennengelernt.

Bei dem vorliegenden Bildband »Himmel und Erde« bestand meine Aufgabe – anders als bei HALLER – nicht in der Auswahl von Texten und Bildern. Ich habe Künstlerin und Autoren für dieses Buch nur zusammengeführt.

Tatjana Frey hat fünfundzwanzig Bilder aus ihrem Werk ausgewählt und mir lagen diese Bilder mitsamt Dateinamen vor. Wie das beim Abspeichern von Dateien so ist: Oft kennt nur der Urheber die Bedeutung der Dateinamen, die dem Empfänger kryptisch erscheinen.

So haben einige der Autoren, die ich um Texte für »Himmel und Erde« gebeten habe, auch einige Zeit mit dem Dechiffrieren dieser Dateinamen verbracht und sind mit ihren Geschichten oft nicht nur auf das Bild selbst, sondern dessen Titel eingegangen. Die Reihenfolge, in der die Bilder und die von den Bildern inspirierten Texte präsentiert werden, folgt einer vielleicht willkürlich wirkenden Aufzählung.

Tatjana Freys Bilder zeigen zerbrochene Landschaften und Figuren, in denen sich, in neuen Kontext (über-) gesetzt, Zeit und Ort verändern. Die surrealen Mischwesen aus Mensch und Tier (»Mr.«) erinnern an Max Ernst, die Frauenbilder (»Rückkehr [zurück 2]«) verstören und bannen den Blick. Andere Bilder wie »Hirte« zeigen collagierte Gestalten in unerwarteter Umgebung und der Titel des Bildes lenkt die Aufmerksamkeit in einen bestimmten Bedeutungsrahmen.

Hier lag die Herausforderung für die Autoren: Inspiriert von den Bildern (und Bildtiteln) entstanden fünfundzwanzig Prosatexte, die in Bezug auf Tatjana Freys Bilder zu verstehen sind.

Es erwartet Sie nun eine Sammlung von Bildern und Texten, von denen Sie sich einfangen und ins Reich des Surrealen entführen lassen können.

Corinna Griesbach

Monschau, Juli 2020

»Hinter die Fassade schauen«. Ein Interview mit Tatjana Frey | Corinna Griesbach

Liebe Tatjana! Hast du Zeit und Lust, mit unserem Interview zu beginnen?

Fünfundzwanzig deiner Collagen aus dem vorliegenden Bildband waren Inspiration für Autorinnen und Autoren. Zu ihrer Person und ihrem Werdegang findet sich am Ende des Buches eine kurze Vita. Magst du uns auch etwas über dich und deine Kunst erzählen?

Ich habe mal nachgedacht … Ich war schon immer ein sehr neugieriger Mensch, der versucht, Abläufe zu verstehen und hinter die Fassade zu schauen.

Das, was wir sehen, ist der erste Eindruck von Dingen, Menschen und auch Situationen. Das ist die sichtbare Ebene, aber darunter liegen oft viele weitere, die sich nach und nach erschließen. Die Bilder, die wir täglich sehen in den Zeitschriften, Magazinen, in der Werbung, bilden eine Realität ab, die es so nicht gibt. Es sind Inszenierungen. Meist zum Zweck des Verkaufs.

Ich nehme diese erste Ebene der Bilder und zerlege das Bild, füge es neu zusammen und erzähle eine neue Geschichte. Vielleicht suche ich das Märchen, die alten Mythen hinter den profanen Bildern des Alltags.

Wie bist du bei der Zusammenstellung deiner Bilder für diesen Bildband vorgegangen? Gibt es für dich etwas wie ein Thema, das die Bilder verbindet?

Also auf den Bildern sind Protagonisten, die etwas erlebt haben oder gerade erleben. Momentaufnahmen einer Geschichte, die wir nicht kennen. (Und jetzt schon, nachdem sie von den Autoren betrachtet und niedergeschrieben wurden …) Meine Figuren befinden sich in einer Situation, mit der sie umgehen müssen. Und es sind Porträts dabei, bei denen sie ganz bei sich sind in ihrer Andersartigkeit.

Wie frei ist dein Umgang mit vorgefundenen Bildern? Ist es eher so, dass du auf ein Bild stößt und es dich dazu inspiriert, etwas Neues daraus zu machen, oder ist die Idee zuerst da?

Ich zerlege die Bilder. Meist gehe ich so vor, dass mir beim Blättern durch Zeitschriften bestimmte Teile der Bilder ins Auge springen und die schneide ich aus. Wie bei einem Puzzle lege ich verschiedene Ausschnitte zueinander. Dabei entsteht intuitiv etwas Neues, das mit dem Ursprungsbild nichts mehr zu tun hat. Ich filtere höchstens den Ausdruck einer Figur heraus. Oder ich habe eine Grundidee und schaue nach passenden Motiven, die dem Ausdruck verleihen könnten.

Bist du eigentlich Autodidaktin? Und gleich hinterher gefragt: Gibt es Vorbilder für deine Arbeiten?

Ja, das kann man sagen.

Direkte Vorbilder habe ich nicht. Ein Betrachter meinte bei einem Bild, es würde ihn an Hannah Höch erinnern, aber ich finde, sie hat etwas völlig anderes gemacht. Und ich würde mich jetzt nicht mit ihr messen wollen. Natürlich verbindet man Collage mit Dada und ja, Dada hat mich sehr beeinflusst und begeistert. Ich würde eher Unika Zürn als Inspiration nennen. Ihre Gedichte entstanden durch die Zerlegung der Wörter in ihre Einzelteile, die sie dann zu etwas Neuem, Absurdem zusammenfügte.

Ganz lieben Dank, Tatjana, für deine ausführlichen Antworten. Jetzt freue ich mich mit dir auf das Buch!




Blick zurück


Kleiner Sohn folgt den Meistern der Zeit | Manfred Lafrentz
1

Schamlose Hexe weiß, dass sie auserwählt ist.

In den Träumen der Wanderer darf sie eine betörend schöne Frau sein. Dafür liebt sie die Wanderer und bewahrt sorgfältig ihr Geheimnis. Niemand soll von ihnen erfahren, denn niemand sonst gibt Schamlose Hexe das Gefühl, begehrenswert zu sein, nicht einmal Kleiner Sohn, obwohl er sie liebt. Aber nur, weil er denkt, dass sie genauso wenig zu den anderen gehört wie er selbst. Kleiner Sohn ist ein schmächtiger kleiner Kerl. Die Leute im Dorf sagen, sein älterer Bruder habe alles abbekommen, was an einem Mann gut ist. Für Kleiner Sohn ist nur ein kümmerlicher Rest geblieben. Und sein Gesicht spricht auf eine seltsame Weise, die alle abstößt.

Die Gestalt der Wanderer macht Schamlose Hexe keine Angst. Sie ähneln riesigen Spinnen, aber Lichter flimmern in ihnen auf und ab, ruhelos, endlos. Sie weben Netze zwischen den Bäumen des Waldes, in dem sie sich verstecken, so wie zwischen den Sternen, von denen sie gekommen sind. Es hat Schamlose Hexe nie etwas ausgemacht, sich zu ihnen zu legen.

Die Lust, die die Wanderer ihr gewähren, ist gekoppelt an das Flüstern der Sterne. Wenn die Wanderer Schamlose Hexe lieben, ist es, als ob die Sterne selbst zu ihr sprächen.

Die Wanderer tun etwas mit der Welt, und Schamlose Hexe hilft ihnen dabei, obwohl sie nicht weiß, was es ist. Es ist ihr egal. Es hat mit der Lust zu tun, und auf diese kann sie nicht verzichten.

Sie sucht sie im Wald auf, verstohlen und heimlich wie immer, aber etwas ist anders. Nach der Vereinigung, als Schamlose Hexe ermattet und verträumt zwischen Farnen auf weichem Moos liegt, sagen die Wanderer: »Wir müssen fort.«

»Warum?« Schamlose Hexe ist am Boden zerstört. Sie will nicht, dass die Wanderer weggehen. Sie kann nicht mehr ohne die Lust sein.

»Die Meister der Zeit verfolgen uns, wohin wir auch gehen«, sagen die Wanderer. »Nun haben sie uns hier gefunden. Also müssen wir fort.«

Schamlose Hexe weint. Die Meister der Zeit sind grausam. Jeder weiß es. Sie hasst sie. Alle hassen sie.

»Wenn du willst, kannst du mit uns kommen«, sagen die Wanderer. »Wir lieben dich und wir brauchen dich.«

Schamlose Hexe kann ihr Glück kaum glauben. Nichts wünscht sie sich mehr, als bei den Wanderern zu bleiben.

»Wann werden wir gehen?«, fragt sie atemlos.

»Wir gehen jetzt«, sagen die Wanderer. »Sieh her, wie wir unsere Netze weben!«

Die Luft vibriert. Silberne Linien steigen zum Himmel auf. Schamlose Hexe folgt ihnen mit staunenden Blicken. Als sie von den Linien erfasst wird, schreit sie leise auf. Ihr Körper wird erfasst, sie schwebt an den Linien, die sie einhüllen wie ein Netz, aufwärts zu den Sternen.

2

Kleiner Sohn kann Schamlose Hexe nicht finden. Er fragt jeden im Dorf, aber die Leute scheinen froh zu sein, dass Schamlose Hexe fort ist.

 

»Man könnte genauso gut mit einem Zugvogel befreundet sein«, ist ein Sprichwort, das jeder auf den Lippen hat. »Die Meister der Zeit kennen kein Erbarmen«, ist ein anderes. Vielleicht denken sie, dass sie Kleiner Sohn damit trösten, aber es tröstet ihn nicht.

Warum ist Schamlose Hexe fortgegangen? Er kann seine Gefühle nicht ordnen. Angst. Wut. Trauer. Alles durcheinander.

Sie hat mich nie geliebt, denkt er. Aber als sie da war, konnte ich sie lieben. Ich werde vergessen, wie sie aussieht.

Das ist ein Gedanke, den er nicht ertragen kann. Eine Weile überlässt er sich der Wut.

Er träumt davon, die Entlaufene käme eines Tages zurück, und er würde sie fragen, nur um ihr wehzutun: Wer bist du? Er stellt sich die Enttäuschung in ihrem Gesicht vor und empfindet Genugtuung. Er wird sagen, die Meister der Zeit hätten sie entstellt, und ihr Kummer darüber wird ihn freuen.

Aber das ist nur ein Traum.

Er weiß: Wenn er sie wiedersehen will, muss er sie suchen. Aber niemand wird ihm helfen.

Kleiner Sohn ist ein Einzelgänger in seinem Dorf, in seiner Familie, in seinem Elternhaus. Die Leute sagen, er sei ein Faulpelz, und seine Eltern und sein Bruder sagen es auch, denn er beteiligt sich nie an den Arbeiten, an denen sich alle im Dorf beteiligen. Er hilft nicht dabei, Feste vorzubereiten, und er geht nicht mit jenen in die Wälder, die Holz für das Dorf schlagen. Deshalb mag ihn niemand. Aber das hat auch andere Gründe. Die Muskeln in seinem Gesicht scheinen ständig wie von selbst zu arbeiten und verleihen ihm Ausdrücke, von denen er nichts weiß. Die Mädchen haben Angst vor ihm und gehen ihm aus dem Weg. Nur wenn sie zu mehreren sind, lachen sie ihn aus.

»Warum zuckst du so mit deinen Augen und deinem Mund?«, fragen sie.

Er antwortet mit schwarzen Worten, die wie Kohlenstaub aus seinem Mund sprühen und ihn in einer Wolke verbergen.

Er sehnt sich nach Schamlose Hexe, an die er niemals schwarze Worte gerichtet hätte.

Wenn er ihr begegnete, sprach seine Gesicht für ihn, aber er wusste nicht, was es sagte. Er glaubt, seine Gesichtsmuskeln werden von den Sternen beeinflusst. Keiner kann die Botschaften lesen, auch Schamlose Hexe nicht.

Seit er ein Kind war, sehnt sich Kleiner Sohn nach den Sternen. Die Sterne scheinen ihm ewig gleich und nicht den Machenschaften der Meister der Zeit unterworfen, die alles verändern und Menschen dazu bringen, fortzugehen. Daher wagte er es, den Sternen seine Freundschaft anzubieten und sie zu lieben, wie er sonst nur Schamlose Hexe lieben sollte, und er glaubt, die Sterne lieben ihn zurück und sprechen zu ihm, indem sie sein Gesicht Worte formen lassen, die niemand versteht.

Kleiner Sohn sucht und sucht Schamlose Hexe. Er kann sie nicht finden. Er nennt sich einen Narren, als er die Leere spürt, die sie in ihm hinterlässt.

Ich hätte es wissen müssen, denkt er. Die Meister der Zeit zerstören alle Bindungen und Hoffnungen. Nichts dauert an.

Er hebt die Fäuste zum Himmel und droht und flucht den Meistern der Zeit und fordert sie heraus, aber sie antworten nicht.

In seinem Unglück glaubt er, dass alle anderen Menschen glücklich sind. Mühsam malt er sich aus, was ihr Leben beschweren könnte, und denkt dann, dass dies durch etwas anderes ausgeglichen wird, das er selbst entbehrt.

3

In einer sternenklaren Vollmondnacht, nicht lange, nachdem Kleiner Sohn die Meister der Zeit verflucht hat, erscheinen sie ihm. Sie sind wie schwarzer Nebel.

»Du bist den Sternen lieb, Kleiner Sohn«, sagen sie, »weil du sie lieb hast. Wir werden dich zu den Sternen bringen, denn das ist ihr Wunsch.«

»Wer seid ihr?«, fragt Kleiner Sohn.

»Wir sind die Meister der Zeit«, sagen die Nebel. »Du bist böse auf uns, wie die meisten böse auf uns sind, weil sie denken, dass wir hart und gehässig sind. Aber das sind wir nicht. Wir erfüllen einen Auftrag.«

»Aber es tut weh, was ihr macht«, sagt Kleiner Sohn. »Wer vergibt einen solchen Auftrag?«

»Das wissen wir nicht. Tröste dich, auch wir werden eines Tages verschwinden, wenn der Auftrag endet. Willst du zu den Sternen?«

Kleiner Sohn schaut zu den Sternen auf. Sie sind wie Diamanten, die gepflückt werden wollen. »Ich will«, sagt er. »Denn ich will Schamlose Hexe suchen.«

»Auch wir suchen nach ihr«, sagen die Meister der Zeit. »Du wirst sie für uns finden.«

Sternenkaltes Eis beginnt in Kleiner Sohns Augen zu funkeln, und in seiner Brust schlägt kein Herz mehr, sondern ein Licht pulsiert in ihr, das ihn aufwärts trägt, sodass er mühelos den Meistern der Zeit zu den Sternen folgen kann, die auf ihn warten.

4

Die Welt hat sich verändert, denkt Kleiner Sohn, als er zurückkehrt. Aber es überrascht ihn nicht.

Er hat Schamlose Hexe nicht gefunden, nur ein seltsames, nebelhaftes Gebilde, das zwischen den Welten schwebte. Als er es berührte, spürte er die überwältigende Lust, die darin gespeichert war, so konzentriert, dass es ihm die Sinne raubte. Die Meister der Zeit erklärten ihm, dass dieses Gebilde Schamlose Hexe sei, oder vielmehr das, was aus ihr geworden war. Über lange Zeit hinweg hat sie die Samen der Wanderer aufgenommen und sie auf die Welten regnen lassen, die durch die Samen so verändert wurden, wie die Wanderer es wollten. All die Lust, die Schamlose Hexe von den Wanderern empfing, hat ihre menschliche Gestalt und ihre Seele verbrannt, bis nicht mehr übrig war als eine samenregnende Wolke.

Kleiner Sohn war traurig, als er erkannte, dass er Schamlose Hexe zu spät gefunden hatte. Auch die Meister der Zeit bedauerten es. Sie konnten nicht mehr verhindern, was die Wanderer taten.

»Kehre zurück auf deine Welt, Kleiner Sohn«, sagten sie. »Erzähle den Menschen, was Schamlose Hexe getan hat.«

Er ist ein Fremder in seinem Dorf, und die Menschen sehen ihn scheu an. Er weiß, dass Sternenlicht in seinen Augen flackert und kosmischer Staub tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben hat. Er erzählt den Menschen von den Sternen und Planeten, die er gesehen hat, von Räumen, die unendlich scheinen, aber ein Ende haben, von Weltengeburten und Staub, vom Licht, das schnell und doch langsam reist und schon erloschen ist, wenn man es sieht. Weil die Sterne alles das in seine Augen eingewebt haben, glauben ihm die Menschen.

Einige im Dorf hatten in jener Nacht vor langer Zeit gesehen, wie Kleiner Sohn den Meistern der Zeit folgte, wie Licht in ihm erstrahlte und er zum Himmel aufstieg. Legenden wurden erzählt, immer und immer wieder. Sie wurden nach und nach auf der ganzen Welt erzählt und weitergegeben, vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter, von den Großeltern auf die Enkel. Alle Menschen kennen die Geschichte von Kleiner Sohn. Manche glaubten, er würde eines Tages zurückkehren, aber die meisten glaubten, er sei tot. Nur in dem Augenblick, in dem die Geschichte erzählt wurde, glaubten sie es nicht.

»Bist du der Geist von Kleiner Sohn?«, fragen die Kinder.

»Nein«, sagt er. »Geister gibt es nicht.«

Er zeigt auf die Welt, die sich durch die Samen der Wanderer verändert hat, die Schamlose Hexe verbreitet hat. Sie ist wie in einen Traum eingewickelt. Gras ist über sie gewachsen, Moos hat sich angesammelt und Äste haben sich über ihr verflochten. Sie ist eine überwucherte Welt geworden, wie die Wanderer sie lieben. Große Eidechsen streifen in ihr umher und predigen die Ankunft der Wanderer, die den Menschen Angst macht.

»Dies ist das Werk der Wanderer«, sagt Kleiner Sohn. »Ich bin den Meistern der Zeit gefolgt, und wir konnten nicht verhindern, was geschieht. Die Wanderer werden kommen und diese Welt in Besitz nehmen, wie sie alle Welten in Besitz nehmen.«

Er denkt an Schamlose Hexe, die er geliebt hat, wie er sonst nur die Sterne liebt. Und weil er sie geliebt hat, vergibt er ihr und verschweigt, was sie getan hat.

So träumen die Menschen den Wanderern entgegen.

Als sie kommen, an den Netzen herab, die sie zwischen den Sternen weben, und Kleiner Sohn sieht, wie die Menschen nach kurzer Zeit beginnen, sie zu verehren, fängt er an, Schamlose Hexe zu verstehen: Es ist die Zeit der Wanderer, die nun beginnt. Die Zeit der Götter.



Rückkehr (zurück 2)


Kuckuck | Nele Sickel

»Ich glaube, irgendwer hat allen Ernstes dein Gesicht«, rufst du über das Wummern der Musik hinweg.

»Was?« Ich starre dich halb erschrocken, halb amüsiert an. Es ist irritierend, dich so zu sehen. Im Halbdunklen mit dem Gesicht eines anderen. Doch deine Stimme gibt mir Sicherheit.

»Da hinten irgendwo«, sagst du in deiner üblichen warmen Tonlage und deutest an mir vorbei in die Menschenmenge, aus der ich gerade zu dir zurückgekehrt bin. Deine Hand wandert beiläufig hinter dein Ohr, berührt das Kontrollpanel deiner holografischen Maske. »Da hab ich es vorhin gesehen. Hast scheinbar einen heimlichen Verehrer.«

Ich schüttle den Kopf. Den Drink, den ich dir eigentlich reichen wollte, umklammere ich immer noch fest. »Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn man jeder sein kann, wieso sollte man dann gerade ich sein wollen? Wie sollte irgendjemand überhaupt auf mein Bild kommen? Das ist doch bescheuert.«

»Wer weiß. Deine Maske hast du nicht abgesetzt?«

»Nein.«

Du zuckst die Schultern. »Dann muss ja jemand dein Bild für sich ausgesucht haben. Oder ich hab mir das eingebildet. Ist auch einfach verdammt viel los hier.«

»Ist es«, stimme ich zu und entspanne mich ein wenig. »Für die Drinks musste ich ewig anstehen.« Mein Blick fällt auf deinen Drink in meiner Hand. Ich reiche ihn dir, proste dir mit meinem eigenen Glas zu, dann trinke ich und sehe mich um.

Der Club war voll, als wir kamen, aber irgendwie hat er es geschafft, noch voller zu werden. Mensch an Mensch überall. Nun ja, mehr oder weniger. Die Masken machen das Bild vom Hals an aufwärts deutlich bunter. Mensch an Fuchs an Geist an Sonnenblume an Drache. Alles ist vertreten. Ich selbst bin ein Kuckuck, ein wütend dreinblickender grauer Vogel. Hab ich in einer der unbekannteren Datenbanken gefunden. Steht mir! Und es ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal.

Die maskierten Gestalten um uns herum trinken, lachen und tanzen ausgelassen zum unsteten Rhythmus der Musik. Sie scharen sich um die wenigen Lichtquellen: das holografische Lagerfeuer im Zentrum des Raumes und die vielen kleineren Flammen, die von akrobatischen Fackelträgern durch die Enge der Menge gewirbelt werden. Ich beobachte, wie ihr Flackern Schatten auf die Masken der Tänzer wirft. Dank der Holotechnologie machen die Dinger jede Regung mit, jede Mimik. Verzückte Gesichter und wilde Augen überall. Viele sind sich nah. Alle sind berauscht.

Beiläufig lehne ich mich zu dir hinüber, bis ich das Kribbeln spüre, das durch die statische Rückkoppelung zweier sich überlappender Masken entsteht. Für andere müssen wir jetzt so aussehen, als wären wir mit den Köpfen aneinander gewachsen. Ich lächle bei der Vorstellung. Irgendwie passend, wo wir doch auch sonst beinahe unzertrennlich sind.

»Dein Gesicht habe ich hier aber auch schon mindestens fünf oder sechs Mal gesehen.« Ich muss laut sein, um mich über die Musik hinweg verständlich zu machen, aber ich versuche, es dennoch wie ein Raunen klingen zu lassen.

»Was, echt?« Ich brauche nicht hinsehen, um zu wissen, dass du dich anspannst. Wir stehen so dicht, dass ich es fühlen kann.

»Echt!«, bestätige ich und zeige in die Menge. Nicht weit von uns tanzt jemand mit dem Gesicht von Nana Lex, deinem Lieblingsschauspieler. Es ist das gleiche Gesicht, das auch du heute Abend trägst.

Es vergehen zwei oder drei Herzschläge, ehe du erkennst, was ich meine. Dann brummst du abfällig. Ich erwarte eigentlich, dass du mich sanft boxt, wie du es immer tust, wenn ich mir einen Spaß mit dir erlaube, doch heute gibt es keine spielerische Gewalt, keine Berührung.

»Du bist doof«, sagst du nur.

Ich stimme zu.

»Gruselig, oder?«, frage ich nach einer Weile. »Die Vorstellung, berühmt zu sein. So wie Nana. Dein Gesicht überall …«

Ich habe gehofft, dass du die Gelegenheit nutzt, mich beruhigend in den Arm zu nehmen. Doch du lehnst dich von mir weg und zuckst die Schultern. »Klar, aber nicht das Gruseligste, was ich heute gehört habe.«

 

»So?« Ich weiß nicht, was ich von deiner Stimmung halten soll.

»Während du weg warst, hatte ich hier Gesellschaft von einer Dame mit Schlangengesicht. Die hatte ein paar gute Geschichten drauf.«

»Die wollte sicher flirten.« Ich spüre einen kleinen Stich Eifersucht.

Der Rhythmus wechselt, die Musik wird lauter.

»Weißt du eigentlich, was wir hier feiern?«, schreist du.

Ich lege den Kopf schief, denke nach. »Keine Ahnung, Erntedank oder so?«

»Nicht wirklich, eigentlich leiten wir die Fastenzeit ein.«

»Fastenzeit?«

»Da isst man weniger. Also hat man zumindest früher, als dieser religiöse Quatsch noch verbreiteter war.«

»Ah, jeder haut noch mal rein, bevor es nichts mehr gibt?«

»So in etwa.«

Ich grinse und schaue in die Richtung der Bar. Hinter den vielen schwingenden, zuckenden Körpern ist von der Theke nichts zu sehen. »Vielleicht sollten wir uns dann auch was gönnen.« Mein Magen knurrt. Obwohl unser Abendessen noch nicht allzu lang her ist, habe ich Hunger.

Bevor ich noch etwas sagen kann, spüre ich wieder das statische Kribbeln an der Wange und lächle. Doch als ich deinen Arm berühren will, greife ich ins Leere. Ich drehe den Kopf. Da stehst du immer noch. Mindestens einen halben Meter von mir entfernt. Ich muss mich geirrt haben, als ich dachte, dein Gesicht an meinem zu spüren. Wieso bist du mir heute Abend so fern?

»Jedenfalls meinte die Schlangenfrau, es heißt, dass zum Karneval manchmal noch andere Dinge kommen und … naja … die Stimmung nutzen und … sich auch den Bauch vollschlagen.«

»Andere Dinge?« Beiläufig rücke ich näher.

Zumindest zuckst du nicht weg. »Ja, Geister, Monster, so was. Sie meint, einige schleichen sich in unsere Köpfe, unsere Körper, um unbemerkt …«

»Sie redet aber nicht von den Masken, oder?« Ich lache. Deine Stimmung ist zu seltsam, um es nicht zu tun. Vielleicht kann ich dich anstecken.

»Nein«, erwiderst du völlig ernst. »Die gehören aber auch zur Tradition, sollen abschrecken oder so.«

Ich rücke näher, nehme dich in beide Arme. »Ich lasse nicht zu, dass dich ein Monster frisst, versprochen!«

Du schaust mich an, aber du lächelst kaum. Das heißt, das Bild von Nana Lex, das du vor dir herträgst, lächelt kaum. Aber ich weiß ja, dass du das bist, oder? Deine Haut unter meinen Händen ist warm.

»Vielleicht sollte wir doch was essen gehen«, sagst du. Du greifst in deinen Nacken und löst sanft meine Hände von dir.

Ich stehe da wie geschlagen. Was ist nur mit dir? Mit uns? Habe ich etwas verpasst?

Du wendest dich um und gehst an der Wand entlang fort. Obwohl du nicht einmal schaust, ob ich dir folge, tue ich es. Der Boden klebt. Die vielen Menschen machen das Vorankommen schwer. Ich werde angerempelt, abgedrängt, angemacht. Ich lege schützend eine Hand über meinen Drink und dränge vorwärts. Überall Hitze, überall Haut. Es riecht nach Parfüm, Schweiß, Alkohol und Drogen. Mein Magen knurrt wieder. Aber ich habe nur Augen für dich.

Bis du plötzlich weg bist.

Ein Riese mit dem Kopf einer Giraffe hat sich zwischen uns aufgebaut. Ich brülle ihn an, er soll aus dem Weg gehen, aber er hört mich nicht. Als ich ihn endlich umrundet habe, bist du schon in der Menge untergegangen.

Ich rufe nach dir, doch die Musik, die Leute, alles ist zu laut. Ich gehe weiter Richtung Bar. Dabei werde ich immer mehr in die Mitte des Raumes gedrängt. Näher an das Lagerfeuer. Simulierte Hitze heizt den Raum zusätzlich auf. Synthetisches Raucharoma liegt in der Luft. Aber der Rauch dazu fehlt. Ich kann wenigstens klar sehen.

Ein Einhorn im Anzug kreuzt meinen Weg, dann ein Alligator im Bikini. Ein Löwe im Cocktailkleid will in die gleiche Richtung wie ich. Seine ausladende Mähne streift meine Wange. Ich spüre das statische Kribbeln. Mein Blick wandert um ihn herum zur Wand zurück. Dort stehen ein aus der Mode gekommener Politiker und ein Frauenkörper mit einem runden Keks anstelle des Kopfes und unterhalten sich. Erst denke ich, die beiden sind allein, doch dann wird eine Fackel bewegt und leuchtet den Platz direkt neben ihnen aus. Dort entdecke ich ein vertrautes Gesicht.

Ich erstarre. Das kann nicht sein! Ich schließe die Augen, öffne sie, schaue noch mal hin. Das Gesicht – mein Gesicht – ist wieder im Schatten verschwunden. Hat da wirklich jemand mein Foto für seine Maske gewählt? Absolut schräg! Ich will dir sofort davon erzählen, aber du bist nicht da. Jetzt fehlst du mir noch mehr.

Ich halte den nächstbesten Tänzer an und drücke ihm meinen Drink in die Hand. Ich brauche heute Abend offensichtlich keinen Alkohol mehr. Außerdem komme ich ohne das Glas schneller voran.

Da vorn bist du! Nanas Gesicht über einem schwarzen Shirt. Ich rufe, aber du hörst mich nicht. Also versuche ich, zu rennen. Die Zeit für Höflichkeiten ist vorbei. Ich will dich nicht verlieren. Nicht jetzt und überhaupt niemals. Dafür fahre ich die Ellenbogen aus, schubse Leute aus meiner Bahn. Fremder Schweiß bleibt an mir haften, während ich mich vorwärts bewege. An einem Paillettenkleid reibe ich mir den Arm auf.

Endlich kommst du in Reichweite und ich greife deine Hand. Du streichst über meine Finger, ziehst mich näher, drehst dich dabei zu mir um … und verharrst mitten in der Bewegung.

»Hast du deine Maske gewechselt? Was soll dieser komische Vogel?« Das ist nicht deine Stimme.

Rasch löse ich mich, schüttle den Kopf und mache einen Schritt zurück. So viel zu Nana und seinem Popularitätsproblem …

Ich sehe eine weitere Version des Schauspielers auf einem rot umhüllten Frauenkörper und die dritte über einer extrovertiert glitzernden Jacke. Definitiv nicht du. Keiner davon.

Also weiter zur Bar. Ich schaue nach vorn und sehe, dass der Löwe im Cocktailkleid mich derweil abgehängt hat. Er lehnt ein paar Meter entfernt an der Theke und versperrt mir mit seiner Mähne den Blick auf die anderen Gäste dort. Ich fluche und gehe weiter. Mehr Menschen, mehr Gedränge. Mein Magen knurrt noch heftiger. Ich sehe den Tanzenden zu und wünschte, ich könnte die Party ebenso genießen wie sie. Vielleicht später. Mit dir an meiner Seite. Vielleicht. Hoffentlich.

Endlich erreiche ich die Bar. Ich schiebe den Löwen beiseite und lasse meinen Blick die Theke hinunter wandern. Kein Nana, nirgendwo. Ein Haufen schräger Gestalten, Drinks und Schalen voll Erdnüsse, aber du bist nicht da. Wurdest du auch abgedrängt?

Ich schnappe mir eine Handvoll Nüsse und mache mich wieder auf den Weg. Egal, wohin du verschwunden bist, ich finde dich!

Die Nüsse werfe ich mir alle auf einmal in den Mund. Sie schmecken verdammt gut. Während ich den Blick schweifen lasse, lecke ich mir das Salz von den Fingern. Hunger habe ich immer noch. Vielleicht sogar noch mehr.

Dann sehe ich dich. Du stehst am Eingang für deine Jacke an. Zumindest glaube ich, dass du es bist: Schwarzes Shirt, Nanas Gesicht.

Du gehst. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert, besorgt oder sauer sein soll. Willst du mich wirklich hier allein lassen?

Ich schaffe mir Platz, dränge mich zu dir durch, nehme deine Hand.

Du zuckst zusammen, dann starrst du mich an. »Oh, du bist es«, höre ich dich sagen. Ein Teil von mir ist erleichtert: definitiv deine Stimme!

»Ich bin es«, bestätige ich und drücke deine Hand. »Wo willst du hin?« Wut hin oder her, ich bin froh genug, dich wiedergefunden zu haben, dass ich dich umarme. Du bist warm und du riechst wunderbar. Für einen Moment genieße ich einfach deine Nähe.

Dann merke ich, dass du schweigst. Deine Hand in meiner ist eiskalt. Eiskalt und verschwitzt. Ich will dich gerade fragen, ob du dich unwohl fühlst, da entziehst du dich mir schon wieder. Gehst auf Abstand.

Ich erschaudere. Das Gefühl der Erleichterung verfliegt. Ich bin nicht sicher an deiner Seite, nicht so wie sonst. Irgendetwas stimmt absolut nicht. »Alles okay?«, frage ich.

»Klar.« Definitiv deine Stimme, kein Zweifel möglich.

Ich beiße mir auf die Oberlippe. So wie du dich gibst, hätte ich mir beinahe eine zweite Verwechslung gewünscht. Dich noch mal zu suchen wäre einfacher, als bei dieser Laune mit dir umzugehen. »Sicher?«

»Klar«, sagst du wieder. Beinahe klingt es mechanisch. Einstudiert.