Loe raamatut: «KLfG Extrakt - Gegenwartsliteratur aus Spanien»

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Gegenwartsliteratur aus Spanien

KLfG Extrakt

Herausgegeben von

Sebastian Domsch, Annegret Heitmann, Irmela Hijiya-Kirschnereit, Thomas Klinkert, Yvonne Pörzgen und Barbara Winckler

Gegenwartsliteratur

aus Spanien

Herausgegeben von

Thomas Klinkert


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96707-530-4

E-ISBN 978-3-96707-654-7

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Einleitung

Javier Cercas

Rafael Chirbes

Najat El Hachmi

Juan Goytisolo

Almudena Grandes

Javier Marías

Juan Marsé

Antonio Muñoz Molina

Rosa Montero

Maria Antònia Oliver

Biogramme

Thomas Klinkert

Einleitung

Die Chronologie der Nachkriegszeit verläuft in Spanien anders als im Rest Europas. Während hier die beiden wichtigsten Einschnitte durch die Jahre 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs, und 1989, den Fall des Eisernen Vorhangs und das Ende der deutschen Teilung, markiert werden, ist in Spanien der entscheidende Einschnitt das Jahr 1975, in dem Franco starb und die seit 1939 bestehende Diktatur endete. Die wichtigste kollektive Gewalterfahrung in Spanien war nicht der Zweite Weltkrieg, an dem das Land gar nicht teilgenommen hat, sondern der Bürgerkrieg 1936–1939. Die Gegenwart im engeren Sinne beginnt in Spanien also 1975 mit der sogenannten Transición (dem politischen Übergang von der Diktatur zur Demokratie) und der Movida (einer von Madrid ausgehenden gegenkulturellen hedonistischen Bewegung, die die Jahre des Übergangs prägte). Allerdings, und dies ist keineswegs erstaunlich, erweist sich die spanische Literatur der Gegenwart als ein Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses, indem sie sich sehr häufig auf die zurückliegende Franco-Diktatur und somit auch auf den dieser vorausgehenden, blutigen Bürgerkrieg bezieht. Die Texte der in diesem Band vorgestellten Autorinnen und Autoren situieren ihre Handlung zwar in der Regel in der Gegenwart, öffnen diese aber nicht selten auf die Vorgeschichte der Protagonisten oder ihrer Vorfahren und stellen somit eine Verbindung zur spezifischen Gewalterfahrung Spaniens und den politischen und gesellschaftlichen Konflikten und Konfrontationen sowie den damit verbundenen Traumatisierungen her.

Die Auswahl der Autorinnen und Autoren erfolgte unter verschiedenen Prämissen. Zum einen sind ihre Werke sowohl in Spanien als auch international, speziell in Deutschland, sichtbar und gelten als einflussreich und relevant. Zum anderen wurden Autorinnen und Autoren verschiedener Generationen ausgewählt, nämlich jener, die noch während der Diktatur mit dem Schreiben begonnen haben, wie Juan Goytisolo und Juan Marsé, sowie jener, die erst ab den 1970er Jahren auf der literarischen Bühne in Erscheinung getreten sind und deren Werk bis in die unmittelbare Gegenwart reicht. Drei der hier vorgestellten Autoren sind erst kürzlich in den vergangenen Jahren gestorben: Chirbes (2015), Goytisolo (2017) und Marsé (2020). Ihr Einfluss auf die spanische Literatur der letzten Jahrzehnte ist von so großer Bedeutung, dass auf sie nicht verzichtet werden durfte. Ferner sollte durch die ausgewählten Autoren die sprachliche und kulturelle Vielfalt Spaniens zumindest ansatzweise repräsentiert werden, insofern auch auf Katalanisch schreibende Autorinnen wie Maria Antònia Oliver und Najat El Hachmi vertreten sind. Selbstverständlich ist es unmöglich, mit nur zehn Autorinnen und Autoren die eindrucksvolle Fülle und Produktivität der spanischen Gegenwartsliteratur exhaustiv abzubilden. Schweren Herzens mussten wir auf eine Reihe bedeutender Namen verzichten, wie etwa Camilo José Cela, den Nobelpreisträger von 1989, Julio Llamazares, Carmen Laforet, Juan Benet, Carmen Martín Gaite, Manuel Vázquez Montalbán und Francisco Umbral, um nur einige der wichtigsten zu nennen.

In den Werken der ausgewählten Autorinnen und Autoren lassen sich, bei allen individuellen Unterschieden und bei aller thematischen und formalen Vielfalt, doch einige wiederkehrende Tendenzen und Schwerpunkte identifizieren, welche im Folgenden kurz aufgeführt werden sollen: (1) die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit, (2) die Auseinandersetzung mit der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, (3) Formexperimente und Intertextualität, (4) die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Die Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit war eine schon in den 1950er Jahren wichtige Tendenz der spanischen Literatur und findet sich etwa in den frühen Romanen von Juan Goytisolo, der an den Realismo social anknüpft und in Texten wie „Juegos de manos“ („Die Falschspieler“, 1954), „Duelo en el Paraíso“ („Trauer im Paradies“, 1955) oder „Fiestas“ („Das Fest der anderen“, 1958) ein Porträt der spanischen Gegenwartsgesellschaft zeichnet und dabei besonders auf Aspekte wie Aggression und Gewalt innerhalb von Gruppen achtet. Da in jener Zeit eine rigide Zensurpraxis herrschte, konnten brisante und unliebsame Themen wie Landflucht, Ghettoisierung in Großstädten, soziale Gewalt oder Polizeiwillkür in der Presse nicht dargestellt werden, weshalb bestimmte Autoren jener Zeit (neben Juan Goytisolo sind hier auch sein Bruder Luis sowie Juan García Hortelano oder Juan López Pacheco zu nennen) es als ihre Aufgabe betrachteten, im Modus objektivierender literarischer Darstellung solche Phänomene zu dokumentieren. Soziale Wirklichkeit ist indes nicht allein in dezidiert realistischer Schreibweise Gegenstand der Literatur, sondern auch in subjektiver Darstellung, etwa bei Juan Marsé, der in „Encerrados con un solo juguete“ (Eingeschlossen mit einem einzigen Spielzeug, 1960) eine Gruppe von Jugendlichen darstellt, die angesichts der prekären politischen und wirtschaftlichen Situation und der damit verbundenen Verdrängungsbestrebungen ihrer Eltern in eine Identitätskrise geraten. In mehreren Werken Marsés werden bestimmte Stadtviertel von Barcelona, welche der Autor aus seiner eigenen Kindheit kennt, authentisch beschrieben. Soziale Wirklichkeit wird auch von Maria Antònia Oliver in Romanen dargestellt, deren Handlung auf Mallorca spielt und mit dem in den 1960er Jahren einsetzenden Massentourismus in Verbindung steht, z. B. „Cròniques dʼun mig estiu“ (Chroniken eines halben Sommers, 1970). Mit ihrer Schreibweise knüpft Oliver an den italienischen Neorealismo an, indem sie etwa Dialektelemente in den auf Katalanisch geschriebenen Text einbaut. Ein weiterer wichtiger Aspekt sozialer Wirklichkeit ist die Rolle der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, wie sie von Oliver, aber auch von Rosa Montero vielfach kritisch reflektiert wird. Ein neues wichtiges Feld der Wirklichkeitsdarstellung ist das Leben von Eingewanderten, welches von der aus Marokko stammenden und ebenfalls auf Katalanisch schreibenden Autorin Najat El Hachmi in den Mittelpunkt gestellt wird.

Eines der wichtigsten Themen, welches sich bei vielen der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren manifestiert, ist die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit den drei Phasen Bürgerkrieg, Franco-Diktatur und Übergang zur Demokratie. Beispielhaft sei auf einige wichtige Texte verwiesen. Juan Goytisolo setzt sich in seinem experimentellen Roman „Señas de identidad“ („Identitätszeichen“, 1966), dessen Protagonist ein im Pariser Exil lebender spanischer Intellektueller ist, mit der repressiven Franco-Gesellschaft auseinander und stellt ihr den Versuch entgegen, durch eine archäologische Rekonstruktion der Vergangenheit die Gewalt der Geschichte sichtbar zu machen. Rafael Chirbes greift in seinen Romanen, wie etwa „La buena letra“ („Die schöne Schrift“, 1992), „Los disparos del cazador“ („Der Schuss des Jägers“, 1994), „La larga marcha“ („Der lange Marsch“, 1996) oder „La caída de Madrid“ („Der Fall von Madrid“, 2000), immer wieder auf die gewaltbetonte Geschichte des Landes zurück, indem er die Last der Vergangenheit in der Figurenkonstellation und den zwischen den Figuren herrschenden Konflikten abbildet. Almudena Grandes, die sich in ihren frühen Texten vor allem mit der Situation von Frauen in der spanischen Gesellschaft auseinandersetzte, wendet sich ab 2007 der spanischen Geschichte zu und veröffentlicht eine Reihe von Romanen mit dem Obertitel „Episodios de una guerra interminable“ („Episoden eines nie endenden Krieges“); gemeint ist der Spanische Bürgerkrieg. Javier Marías, der in den 1970er Jahren die postmoderne Wende der spanischen Literatur mit einleitete und mit allerlei metafiktionalen Spiegelungen die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflöst, setzt sich dennoch auch immer wieder mit der spanischen Wirklichkeit und der Last der Geschichte auseinander, wenn etwa in seinem Werk „Tu rostro mañana“ („Dein Gesicht morgen“, 2002–2007) der Vater des Autors, der Philosoph Julián Marías, in Gestalt der fiktiven Figur Juan Deza auftritt und somit der Spanische Bürgerkrieg evoziert wird, in dem der Vater auf der Seite der Republikaner stand und von einem Freund verraten wurde. Juan Marsé demaskiert in seinem Roman „El embrujo de Shanghai“ („Der Zauber von Shanghai“, 1993) den Mythos des heldenhaften Widerstandskämpfers und zeigt zugleich schonungslos die durch den Bürgerkrieg bewirkten Zerstörungen Spaniens und die dadurch bedingte Perspektivlosigkeit der Menschen auf. Antonio Muñoz Molina greift in seinem Erstlingsroman „Beatus Ille“, der 1986, also exakt 50 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs erschien, in einer Zeit, in der die spanische Gesellschaft noch nicht allgemein bereit war, sich mit der problematischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, auf den Bürgerkrieg und die daraus hervorgegangene Diktatur zurück und wählt dabei die Perspektive der Verlierer und ihrer Nachfahren, die versuchen, durch Quellenstudien der historischen Wahrheit näherzukommen. Auch hier wird der Mythos des politischen Widerstandes gegen die Diktatur infrage gestellt. Javier Cercas beschäftigt sich in seinem Bürgerkriegsroman „Soldados de Salamina“ („Soldaten von Salamis“, 2001) mit dem Journalisten und Schriftsteller Rafael Sánchez Mazas, einem der Gründungsmitglieder der spanischen faschistischen Partei Falange.

Während in Spanien in den 1950er und 1960er Jahren die dominante Form literarischer Darstellung konventionelles realistisches Erzählen war, fanden in Frankreich und auch in Lateinamerika neoavantgardistische Formexperimente statt, die sich in Bewegungen wie dem Nouveau Roman und Tel Quel oder dem Roman „Rayuela“ („Rayuela. Himmel und Hölle“, 1963) von Julio Cortázar manifestieren. Ein radikalavantgardistisches Formexperiment ist auch der bereits erwähnte Roman von Juan Goytisolo, „Señas de identidad“ („Identitätszeichen“, 1966), der von der franquistischen Zensur verboten wurde und daher in Mexiko erscheinen musste. Der wie sein Protagonist im Pariser Exil lebende Autor Goytisolo wendet in diesem Roman Techniken des Erzählens an, welche zeitgleich von Autoren wie Nathalie Sarraute, Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet in Frankreich erprobt wurden, die ihrerseits an die von James Joyce, Marcel Proust und William Faulkner entwickelten Verfahren anknüpfen. Verwendet werden Erinnerungsmonologe, Montagetechnik, Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven und Personalpronomen, Kombination von unterschiedlichen Textgattungen und Medien als Quellen der Narration usw. In seinen späteren Romanen „Reivindicación del conde don Julián“ („Rückforderung des Conde don Julián“, 1970), „Juan sin tierra“ („Johann ohne Land“, 1975) und „Makbara“ („Engel und Paria“, 1980) knüpft Goytisolo an die in „Identitätszeichen“ erprobten Techniken an und entwickelt sie weiter, indem er sie mit neuen thematischen und ideologiekritischen Perspektiven verbindet. Seine Spanienkritik wird fundamental angereichert durch die von ihm in diesen Romanen eingenommene islamische Gegenperspektive, die er auch verwendet, um abendländische Darstellungsformen zu überwinden. Diesseits von Goytisolos formaler Radikalität finden sich in dem hier vorgestellten Textkorpus zahlreiche formale Experimente, die seit den 1970er Jahren unter dem Einfluss der internationalen Postmoderne entwickelt wurden. Zu denken ist hier insbesondere an Autoren wie Javier Marías und Antonio Muñoz Molina. Marías bezieht sich in seinen Werken auf zahlreiche Vorbilder, insbesondere auf englischsprachige Autoren wie Shakespeare, Laurence Sterne, Joseph Conrad, Vladimir Nabokov und William Faulkner. Den für ihn ebenfalls wichtigen spanischen Autor Cervantes rezipiert er indirekt über Sterne, worin sich seine Abneigung gegen das Nationale und seine Vorliebe für das Kosmopolitische manifestiert. Die raffinierte intertextuelle und metaliterarische Komponente seiner Romane wird häufig schon in den Titeln angezeigt, die aus Zitaten bestehen, wie beispielsweise „Corazón tan blanco“ („Mein Herz so weiß“, 1992), „Mañana en la batalla piensa en mí“ („Morgen in der Schlacht denk an mich“, 1994) oder „Negra espalda del tiempo“ („Schwarzer Rücken der Zeit“, 1998). Alle drei Titel sind Shakespeare-Zitate und öffnen die Texte somit programmatisch auf den Echoraum der Literatur. Ein wichtiges experimentelles Verfahren ist die Metaisierung, die sich z. B. bei Marías darin manifestiert, dass der Erzähler des Romans „Schwarzer Rücken der Zeit“, der vorgibt mit dem Autor Marías identisch zu sein, das zuvor erschienene Werk „Todas las almas“ („Alle Seelen“, 1989) auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu analysieren versucht. Das real existierende Buch des Autors Javier Marías wird somit in die Fiktion eines anderen von ihm geschriebenen Buches integriert. Schon Samuel Beckett hatte in seiner Trilogie ein ähnliches Spiel der Metaebenenbildung gespielt, indem er den Erzähler des „Innommable“ („Der Namenlose“, 1953) zum Autor und Erfinder der zuvor erschienenen Romane „Molloy“ („Molloy“) und „Malone meurt“ („Malone stirbt“, beide 1951) werden lässt. Ein vergleichbares Verfahren der Metaisierung findet sich bei Muñoz Molina, der in „Beatus Ille“ seinen Protagonisten, einen Studenten, das Manuskript eines Romans mit dem Titel „Beatus Ille“ finden lässt, welches von dem fiktiven Autor Jacinto Solana stammt, der angeblich von den Schergen Francos 1947 ermordet worden war.

Durch die Verwendung von experimentellen Darstellungsformen (Montagetechnik, Intertextualität, innerer Monolog, Metaisierung, etc.) entsteht ein Effekt der Verfremdung, der dazu führt, dass der literarische Text in seiner Artifizialität und Konstrukthaftigkeit deutlich wahrgenommen werden kann. Durch diese „Bloßlegung der Verfahren“ (Viktor Šklovskij) wird die illusionierend wirklichkeitsdarstellende Wirkung durchkreuzt. In der Postmoderne wird dieser Effekt teilweise bewusst verstärkt, indem die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und Wirklichkeit grundsätzlich infrage gestellt werden. Ein Beispiel hierfür ist Juan Goytisolos „La saga de los Marx“ („Die Marx-Saga“, 1993), in der Karl Marx zum Romanhelden wird, der in der Gegenwart noch lebt und Zeuge des Scheiterns der von ihm initiierten Idee des Kommunismus wird. Auch in anderen Texten von Goytisolo und Javier Marías oder Javier Cercas wird ein verwirrendes Spiel der Grenzüberschreitung zwischen Fiktion und Wirklichkeit betrieben, welches mit den komplexen Vermischungen von autobiografischer Dimension, gesellschaftskritischer Analyse und literarischer Intertextualität zusammenhängt. Teilweise lassen sich in diesen Texten auch Tendenzen der Autofiktion nachweisen, d. h. der Fiktionalisierung der Figur des Autors. Ein anderes Beispiel einer solchen Grenzüberschreitung ist Juan Marsés Roman „Si te dicen que caí“ („Wenn man dir sagt, ich sei gefallen“, 1973), in dem auf autobiografischer Grundlage das Barcelona der 1940er Jahre dargestellt wird, wo sich die Kinder der Armenviertel Abenteuergeschichten erzählen, in denen die Ebenen Realität und Fiktion ununterscheidbar werden, sodass sie den Kindern als mentaler Zufluchtsort dienen können. Antonio Muñoz Molina schrieb einen Text mit dem Titel „Sefarad“ („Sepharad“, 2001), in dem er die Lebensläufe bekannter jüdischer Schriftsteller und Intellektueller wie Jean Améry, Primo Levi, Victor Klemperer, Margarete Buber-Neumann, Milena Jesenská und Franz Kafka in teilweise fiktionalisierter Form nacherzählt und sie unter dem Gesichtspunkt eines universellen Exils mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr in ein verlorenes Land zusammenstellt – das Wort „Sepharad“ verweist seit der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 auf das verlorene Land und ist ein Synonym für jüdische Diaspora. Trotz der partiellen Fiktionalisierung bleiben diese Lebensläufe transparent auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten. Ein anderes Beispiel für eine solche Vermischung der Referenzebenen ist Rosa Monteros Buch „La loca de la casa“ („Die verrückte Frau im Haus“, 2003). Der Text, den die Autorin selbst als Roman bezeichnet, besteht aus verschiedenen essayartigen Kapiteln, die jeweils einem Thema, wie z. B. dem literarischen Engagement, dem Erfolg oder Misserfolg des Schriftstellers usw., gewidmet sind. Diese Themen werden von der Autorin in Bezug auf andere Autoren und deren Werke abgehandelt. Zugleich bezieht die Verfasserin ihr eigenes Leben in die Essays mit ein und verwandelt diese gewissermaßen in autobiografische Erzählungen. Eigentlicher Gegenstand des Buches sei, so die Autorin, die Imagination und ihre Funktion für das Schreiben fiktionaler Werke. Genau dies führt die Struktur des Buches vor, in dem sich Reales mit Erfundenem unmerklich vermischt und in dem, wie es die Autorin selbst in einem Nachwort mitteilt, zwar alles über die anderen Autoren Gesagte richtig sei, nicht aber das über sie selbst Gesagte. Erneut liegt also hier ein Beispiel für Autofiktionalität vor. Auch Almudena Grandes vermischt in ihrem Roman „Inés y la alegría“ („Inés und die Freude“, 2010), dem ersten Band des Zyklus „Episoden eines nie endenden Krieges“, gezielt die historische Wahrheit mit der romanesken Fiktion, um auf diese Weise die vergessenen oder verdrängten Aspekte der kollektiven Vergangenheit des Bürgerkrieges im Medium des Romans zu bewahren.

Der hier vorliegende Extraktband zur spanischen Literatur der Gegenwart möchte das interessierte deutschsprachige Publikum mit einem repräsentativen Querschnitt von Autorinnen und Autoren Spaniens vertraut machen, die teils schon zu den Klassikern der Moderne zählen, teils zu den meistgelesenen spanischsprachigen Autoren der Gegenwart gehören, teils auch erst noch zu entdecken sind. Aufgrund der Besonderheiten der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheint aus deutscher Perspektive diese Literatur in ihrer Andersartigkeit als eigentümlich und zugleich als faszinierend. Einerseits ist sie sehr stark auf Spanien und die spanische Gesellschaft und Geschichte fokussiert, andererseits findet sie insbesondere seit der Transición Anschluss an internationale Entwicklungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Postmoderne. Trotz zahlreicher Partikularismen zeigt sich an dieser Literatur die Universalität der fiktionalen Darstellung von Welt und damit die Möglichkeit, durch das Medium Literatur in das Innere einer Kultur einzudringen und sich diese zumindest teilweise zu eigen zu machen.

Christian von Tschilschke

Javier Cercas

Javier Cercas ist einer der meistgelesenen und -diskutierten spanischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Als Verfasser von Romanen, Essays und Zeitungsartikeln, als öffentlicher Intellektueller und gefragter Interviewpartner hat er sich international einen Namen gemacht. Sein unverwechselbares Profil hat er mit einer Reihe sehr erfolgreicher hybrider literarischer Erzähltexte gewonnen, die als ‚Romane‘ nur unzureichend klassifiziert sind. Ihr Darstellungsmodus lässt sich am besten mit den Begriffen ‚Autofiktion‘ und ‚Dokufiktion‘ beschreiben. Sie sind daran zu erkennen, dass ihr Erzähler deutliche Parallelen zu Person und Biografie des Autors aufweist und ihre Handlung auf der gleichsam journalistischen Rekonstruktion zeitgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse beruht, bei der sich Fakten und Fiktion bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen. Gleichzeitig besteht Cercas jedoch auf einer deutlichen Trennung der Diskurse. Während er in seinen journalistischen Artikeln und in Interviews als meinungsstarker politischer Kommentator auftritt, der auch vor Polemik nicht zurückscheut, kultiviert er in seinen spielerisch-selbstreflexiven literarischen Texten bewusst Mehrdeutigkeiten, Widersprüche, Leerstellen und Vermutungen. Dabei ist Cercas auf beiden Gebieten nicht unumstritten. Im Hinblick auf seine literarischen Texte ist ihm genau das, was viele an ihnen schätzen, von anderen vorgeworfen worden: die Grenze zwischen Realität und Fiktion zu verwischen (Irreführung), hartnäckig um bestimmte Fragen und Motive zu kreisen (Langatmigkeit), eine betont transparente Sprache zu pflegen (Kunstlosigkeit) – und daraus ein beliebig anwendbares Erfolgsrezept gemacht zu haben (Patent).

In Javier Cercas’ bisherigem Werk lassen sich vier Teilbereiche unterscheiden: das von der Kritik kaum beachtete Frühwerk mit dem aus fünf Texten bestehenden Erzählband „El móvil“ (Das Motiv, 1987) und den beiden Romanen „El inquilino“ („Der Mieter“, 1989) und „El vientre de la ballena“ (Der Bauch des Wals, 1997); die hybriden Texte, auf denen sein Ruhm beruht und mit deren Schreibweise er bis heute identifiziert wird: „Soldados de Salamina“ („Soldaten von Salamis“, 2001), „Anatomía de un instante“ („Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde“, 2009), „El impostor“ („Der falsche Überlebende“, 2014) und „El monarca de las sombras“ (Der König der Schatten, 2019). Die dritte Gruppe bilden die Gesellschaftsromane „La velocidad de la luz“ (Die Geschwindigkeit des Lichts, 2005) und „Las leyes de la frontera“ („Outlaws“, 2012). Neu hinzugekommen ist zuletzt das Genre des Kriminalromans mit „Terra Alta“ („Geschichte einer Rache“, 2019) und „Independencia“ („Erpressung. Terra Alta 2“, 2021).

Cercas’ Frühwerk widerstand nicht in jeder Hinsicht der nachträglichen Überprüfung durch seinen Autor. Aus seiner ersten Buchveröffentlichung „Das Motiv“ behielt er für eine weitere Veröffentlichung nur den gleichnamigen Kurzroman zurück, und „El vientre de la ballena“ wurde von ihm vor der Wiederauflage 1997 grundlegend überarbeitet. In diesem Roman, einer Mischung aus tragikomischem Beziehungsroman und Universitätsroman, verwendete Cercas zum ersten Mal einen Ich-Erzähler, ohne ihn jedoch bereits mit den autofiktionalen Zügen auszustatten, die später für ihn charakteristisch wurden. Auch „Das Motiv“ und „Der Mieter“, die beide noch in der dritten Person abgefasst sind, weisen bereits Elemente auf, die in Cercas’ weiterem Werk wiederkehren. Im Kurzroman „Das Motiv“, der 2017 von Manuel Martín Cuenca verfilmt wurde, ist es das metafiktionale Spiel um den Schriftsteller Álvaro, der die Wirklichkeit manipuliert, um die an ihr orientierte Handlung des Romans, an dem er gerade schreibt, voranzutreiben. Und im Roman „Der Mieter“, einer Doppelgängergeschichte mit fantastischen Merkmalen, ist es das US-amerikanische Universitätsmilieu, das Cercas aus eigener Anschauung beschreibt.

Mit seinem dritten Roman „Soldaten von Salamis“ (2001), in dem er eine historisch verbürgte Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg aufgreift, die er zuvor schon in einer Zeitungschronik behandelt hatte, konnte Javier Cercas dann einen ganz außergewöhnlichen Bestsellererfolg erzielen. Schon nach vier Jahren waren von seinem Buch mehr als eine Million Exemplare verkauft. Spätestens durch seine Aufnahme in die Reihe „Letras Hispánicas“ des Verlags „Cátedra“ im Jahr 2017 wurde der vergleichsweise schmale Roman (209 Seiten in der Originalausgabe) zu einem Klassiker der Gegenwartsliteratur geadelt. Nicht unbeteiligt daran waren die immer wieder zitierten Lobeshymnen von intellektuellen Größen wie Susan Sontag, George Steiner, Mario Vargas Llosa, Doris Lessing, J. M. Coetzee oder Kenzaburō Ōe. Längst ist der Roman in Spanien wie in Deutschland Schullektüre, begleitet von entsprechend aufbereiteten Spezialausgaben. Im Jahr 2003 wurde „Soldaten von Salamis“ unter dem gleichen Titel von David Trueba erfolgreich verfilmt, mit dem Cercas seitdem eine enge Freundschaft verbindet und der später auch als Figur in „El monarca de las sombras“ auftaucht. Allein durch seine inhärenten Eigenschaften, sein Thema und seine suggestive Machart ist der Erfolg des Romans jedoch nicht zu erklären. Er traf wohl auch einen Nerv seiner Zeit – wie etwa einige Jahre später Fernando Aramburu mit „Patria“ (2016), einem Roman über den ETA-Terror.

Im Zentrum des dreiteiligen Romans steht die Schilderung eines Erlebnisses des Schriftstellers, Mitbegründers und Chefideologen der spanischen Falange Rafael Sánchez Mazas (1894–1966). Sánchez Mazas fällt im Januar 1939, gegen Ende des Bürgerkriegs, einer Einheit der Republikaner in die Hände. Wie durch ein Wunder kann er der Hinrichtung entgehen. Auf der Flucht wird er jedoch von einem unbekannten republikanischen Milizionär gestellt, der ihm wider Erwarten das Leben schenkt. Angeregt durch diese Anekdote macht sich 60 Jahre später im ersten Teil des Romans, „Die Freunde des Waldes“, ein junger Journalist, der wie der reale Autor „Javier Cercas“ heißt, daran, das Leben von Sánchez Mazas zu rekonstruieren. Da das Ergebnis dieses biografischen Versuchs, der den zweiten Teil des Romans (immerhin 60 Seiten) einnimmt und wie dieser den Titel „Soldaten von Salamis“ trägt, in den Augen des fiktiven Biografen enttäuschend ausfällt, begibt er sich im dritten Teil, „Begegnung in Stockton“, auf gut Glück auf die Suche nach dem republikanischen Soldaten, der Sánchez Mazas seinerzeit das Leben rettete. Seine Recherchen führen ihn am Ende in ein Altersheim in Dijon. Dort trifft er den katalanischen Bürger- und Weltkriegsveteranen Antoni Miralles, in dem er den unbekannten Milizionär zu erkennen glaubt. Ob er es tatsächlich ist, bleibt indes offen.

Man ist sich heute einig darüber, dass Cercas’ selbstreflexiver Roman im Kontext des ‚Erinnerungsbooms‘, von dem die spanische Literatur in den 1990er Jahren erfasst wurde, in mehrfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Wende markiert. Der Titel des Romans suggeriert zunächst einmal, dass der Spanische Bürgerkrieg für die Enkelgeneration, der Cercas selbst angehört, inzwischen in eine ähnliche historische Ferne gerückt ist wie die antike Schlacht von Salamis. Der vermeintlichen Geschichtsvergessenheit dieser Generation begegnet der Autor, dessen eigener Vater der Falange zuneigte, in durchaus didaktischer Absicht, indem er sein Alter Ego stellvertretend für den Leser/die Leserin auf eine spannende detektivische Suche in die Vergangenheit schickt. Das Geschichtsbild, das dabei konstruiert wird, ist in hohem Maße integrativ: Mit der Massenerschießung im katalanischen Collell bringt Cercas nicht nur die Tatsache zur Sprache, dass im Bürgerkrieg auch von den rechtmäßigen Verteidigern der Republik Gräueltaten begangen wurden, sondern stiftet mit dem spontanen Gnadenakt des unbekannten republikanischen Soldaten gegenüber dem Faschisten Sánchez Mazas auch ein emblematisches Bild der Versöhnung, das zur Überwindung des Mythos der ‚zwei Spanien‘ und der Kain- und Abel-Metaphorik der herkömmlichen Bürgerkriegsexegese aufruft. Von der deutschen Kritik wurde diese symbolische Botschaft beim Erscheinen der deutschen Übersetzung des Romans bezeichnenderweise wesentlich kritischer aufgenommen als in Spanien selbst.

Darüber hinaus entsprach Cercasʼ Erinnerungsroman auch dadurch dem aktuellen Zeitgeist, dass er sich der Vergangenheit auf eine Weise nähert, die dem gestiegenen Bedürfnis der Nachgeborenen nach Authentizität, Identifikation und echtem Erleben entgegenkommt und dabei gleichzeitig der längst zum Gemeingut gewordenen Vorstellung von der Fiktionalität und medialen Konstruiertheit der Geschichte Rechnung trägt, die nicht mehr allzu ernst genommen, aber auch nicht ignoriert werden kann und der Cercas mit einer ironisch-spielerischen Haltung beizukommen versucht. Entscheidenden Anteil daran hat die Mischung fiktionaler mit dokumentarischen Darstellungsformen. Dazu gehören die Gestaltung des Plots in Form einer journalistischen Recherche, die den Besuch von Bibliotheken und Archiven sowie die Befragung von Experten und Zeitzeugen einschließt, aber auch die Berücksichtigung realer Personen und die fotografische Reproduktion von Dokumenten. Für diese Rhetorik des Antifiktionalen, die auch in anderen Bürgerkriegserzählungen wie Isaac Rosas „El vano ayer“ („Das Leben in Rot“, 2004) oder Ignacio Martínez de Pisóns „Enterrar a los muertos“ („Der Tod des Übersetzers“, 2005) Anwendung findet, schlägt der Ich-Erzähler von „Soldaten von Salamis“ den Gattungsbegriff „relato real“ (Erzählung nach der Wirklichkeit) vor.

Nach dem unerwarteten Erfolg von „Soldaten von Salamis“, der Cercas die wirtschaftliche Unabhängigkeit bescherte, verarbeitete er diese Erfahrung in seinem nächsten, bisher nicht ins Deutsche übersetzten Roman „La velocidad de la luz“ (Die Geschwindigkeit des Lichts, 2005), der von Kritik und Leserschaft ebenfalls sehr gut aufgenommen wurde. Der in vier Teile untergliederte Roman, der das amerikanische Trauma des Vietnamkriegs behandelt, mit dem Cercas während seines zweijährigen USA-Aufenthalts in Berührung kam, setzt vermehrt autofiktionale Elemente ein. Der Ich-Erzähler ist stark an der Person von Cercas selbst und die Handlung an den Stationen seines eigenen Lebens ausgerichtet: